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Der Bumerangeffekt

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Man kann auch Spuren von Shakespeare, seinem Werk und den vielfältigen Gedenkveranstaltungen außerhalb Europas finden, in Gegenden, die ehemals seine Kolonien waren. Sowohl zur Blütezeit des Kolonialismus wie in der postkolonialen Ära haben die Kolonisierten literarisch zurückgeschlagen und ihre Neubearbeitung europäischer Klassiker hat sich natürlich in den britischen Kolonien, aber auch anderswo – in Lateinamerika, in Kanada und in den französischen Kolonien – als wirksame Methode erwiesen. Aimé Césaire, Schriftsteller aus Martinique, ist ein gutes Beispiel dafür. Er hat in der Tat Shakespeares Der Sturm als Ein Sturm kritisch umgeschrieben, wobei er die Personen von Prosperos Insel nicht im Kontext Englands, Italiens oder Frankreichs sprechen ließ, sondern in dem Europas, den man im Werk Shakespeares nicht findet. Als er auf der Insel ankommt, bemerkt Gonzalo: „Zurecht sagt man, dass dies wunderbare Länder sind. Kein Vergleich mit unseren europäischen Ländern.“ Ein Urbewohner der Insel, Caliban, lehnt Prospero ebenso deutlich ab: „Du kannst abhauen. Du kannst nach Europa zurückkehren. Aber mir ist es egal!“

Nicht alle Nichteuropäer wirken auf eine derart spaltende und auch abwertende Weise an der Demontage Shakespeares als europäischer Erinnerungsort mit. Eine in The Guardian (10. September 2015) publizierte Reportage berichtet von den Wanderungen einer syrischen Familie ins „Herz Europas“. Irgendwann wird ein Flüchtling in weißen Sandalen interviewt. Als man ihn fragt, warum er Damenschuhe trage, erklärt er frohgemut: „Ich habe meine Pantoffel meiner Frau gegeben, weil ihre Füße bluten. Meine Füße sind größer als die Schuhe: was tun? To be or not to be, das ist hier die Frage. Wir werden sein.“ Die Antwort dieses gebildeten syrischen Flüchtlings auf die Frage des Journalisten – die ewige Frage Hamlets, verbunden mit einer positiven Antwort – bietet uns einen außereuropäischen Blick auf Europa, bei dem Shakespeare als Bezugsrahmen dient. Im vorliegenden Fall kann die Identifizierung des Interviewten mit einer Gestalt Shakespeares als wirksamster Pass für die Einreise nach Europa gelten.

Ganz offensichtlich wird unser Bild von Shakespeare als europäischem Erinnerungsort von Europa und den Europäern bestimmt, aber auch von nicht europäischen Ländern und ihren Bürgern. Dies nicht zuzugeben, hieße, eurozentrisch zu argumentieren. Die European Shakespeare Research Association (ESRA) hat sich ebenfalls zu dieser Sichtweise bekannt. Dieses offiziell 2007 gegründete internationale Forschungsnetzwerk entstand zu einem Zeitpunkt, als bedeutende Ereignisse – das Ende des Kommunismus und die Geburt des neuen Europa, die Gründung der Europäischen Union, der dritte Balkankrieg, der Irakkrieg – die traditionellen Konzeptionen der Nationalkultur infrage gestellt hatten. Die Spezialisten, die die ESRA gegründet haben, analysieren die Rezeption Shakespeares in einem föderalen Europa und denken dank des „Shakespeare“-Gedächtnisses über den Sinn einer vergangenen und gegenwärtigen paneuropäischen Identität nach. Die Forscher, die die Rolle Shakespeares in der Herausbildung eines europäischen Identitätsgefühls untersuchen, weisen die Anschuldigung von sich, einen selbstzufriedenen eurozentrischen oder europhilen Geist zu ermutigen. Für sie ist die Rolle von Eurozentrismus und Europhilie in ihrer Forschung die eines klar definierten Forschungsgegenstands. Der geografische und kulturelle Interessenschwerpunkt der ESRA ist „Europa“ ebenso wie Shakespeare, aber das Studium eines europäischen Shakespeare ist eine Angelegenheit der ganzen Welt.

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