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Göttlicher Zorn

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Zusätzlich zu ihren tödlichen Auswirkungen fiel die Große Pest auch aufgrund ihrer psychologischen und religiösen Folgen auf. Eine derartige Gefahr bewirkte unweigerlich kollektive Aktionen, die von der Panik bedingt sind. Da einer der am häufigsten vorgebrachten Gründe der göttliche Zorn war, begann sich in den von der Pest befallenen Gebieten eine Bußbewegung auszubreiten, von der das Phänomen der Flagellanten zeugt. Dieser kollektive Wahn verschmolz rasch mit dem Willen, die an dieser pestilenzialischen Infektion „Schuldigen“ zu bestrafen, wobei die jüdischen Gemeinden als Sündenböcke dieser religiös inspirierten Gewalt herhalten mussten. In den Jahren unmittelbar nach dem Schwarzen Tod kam es zu den mörderischsten Pogromen, die jemals in Katalonien, in Frankreich und vor allem im mittelalterlichen Deutschland stattgefunden haben. Man beschuldigte die Juden, die Pest zu verbreiten, indem sie die Brunnen vergifteten – ein Komplott, um die Christen auszurotten. Eine andere, weniger bösartige religiöse Reaktion war das Auftauchen des Kults der „Pestheiligen“, des heiligen Sebastian und dann des heiligen Rochus, sowie der Anstieg des Kults der Jungfrau Maria, deren Mantel die Christen vor dieser Geißel schützte. Schließlich muss noch eine andere religiöse Erklärung der Pest erwähnt werden, die eschatologischer Natur ist: Die Pest war einer der „vier Reiter“ der Apokalypse.

Parallel zu diesen sozialen, psychologischen und religiösen Reaktionen auf die Pest befassten sich die damaligen Ärzte und die Gelehrten mit deren Ursachen und mit Heilmitteln. 49 Magister der Pariser Universität hielten 1348 ein consilium ab, auf dem sie die vermeintlichen himmlischen und irdischen Ursachen der Pest untersuchten: die astrologischen Konjunktionen und die miasma – die vergiftete Luft. Auf diese erste, sehr populäre Erklärung folgte eine große Anzahl von Abhandlungen über die Pest, die sie auch als einen Erinnerungsort präsentieren: In diesen Texten sind die Bezugnahmen auf örtliche Erinnerungen häufiger als die Erklärungen der Fachleute. Die Erinnerung an die vergangenen Epidemien wurde durch die Testamente und die frommen Vermächtnisse weitergetragen. Die zunehmende Wirksamkeit der administrativen Schutzmaßnahmen, die polizeilichen Ordnungen, die sanitären Einrichtungen, die Quarantäne (ein Machtmechanismus, der von Michel Foucault in Überwachen und Strafen berücksichtigt wurde) – diese ganze Anhäufung von Kompetenzen im Umgang mit diesen Problemen bewahrte ebenfalls die Erinnerung auf.

Erst mit dem spektakulären erneuten Ausbruch in Marseille im Jahr 1720, der der letzte war und dieser ständigen Bedrohung ein Ende setzte, ist die Pest zu einem Erinnerungsort geworden. Eine neue tödliche Pandemie, die Choleraepidemie der Jahre um 1830, ließ die Erinnerung an den Schwarzen Tod wieder aufflackern. Der deutsche Medizinhistoriker Justus Hecker publizierte 1832 sein Werk Der schwarze Tod, das als Grundlage für die neue Wissenschaft der Epidemiologie diente. Hecker betrachtete die Geschichte der Seuchen als eine noch ignorierte Kraft der Veränderung und des historischen Fortschritts, die auf den Gang der Welt einen größeren Einfluss als Kriege oder die Politik ausübte. Hecker betrat auch Neuland, indem er die sozialen Auswirkungen des Schwarzen Todes berücksichtigte, die „entfesselten dämonischen Leidenschaften“, die Prozessionen der Flagellanten und die entsetzlichen Pogrome gegen die jüdischen Gemeinden. Seine Vorgehensweise, die einerseits die wissenschaftliche Untersuchung von Naturereignissen und andererseits die dokumentarische Erforschung der gesellschaftlichen und psychologischen Auswirkungen miteinander verknüpfte, prägt die historische Forschung über die Epidemien bis heute.

Die Forschung machte im 19. Jahrhundert große Fortschritte. Man debattierte lange darüber, welche der zwei vermeintlichen Ursachen der Pest, die Miasmen (die schlechte Luft) oder die Ansteckung, für die Verbreitung der Krankheit verantwortlich waren. Während einer neuerlichen orientalischen Pestwelle in Hongkong identifizierte der Schweizer Alexandre Yersin die Bakterie der Beulenpest (die später seinen Namen erhielt: Yersinia pestis). Der französische Mikrobiologe Paul-Louis Simond bestätigte dann, dass die wichtigsten Reservoirs dieser Bakterie die Ratten waren und die Flöhe die Vektoren der Übertragung auf den Menschen.

Die Diskussionen, die diese Entdeckungen in der Mikrobiologie ausgelöst haben, halten bis heute an. War der Schwarze Tod, die tödlichste und die ansteckendste von allen Pestepidemien, tatsächlich von Yersinia pestis verursacht worden? Kann man nicht auch andere Seuchen wie die Milzbrandinfektion oder Ebola in Betracht ziehen? Oder eine Verbindung von Beulenpest, Lungenpest und Typhus, Pocken und Infektionen der Atmungswege? Durch den systematischen Vergleich verschiedener Pandemien in der menschlichen Geschichte hat diese anhaltende Kontroverse im 20. Jahrhundert weitgehend dazu beigetragen, aus dem Schwarzen Tod einen universellen Erinnerungsort zu machen.

Im 20. Jahrhundert wird Heckers Erbe auch durch die Deutung des Schwarzen Todes als Symptom der gesellschaftlichen und kulturellen Krise am Ende des Mittelalters weitergetragen, das dann nach schrecklichen Zerstörungen in einen spektakulären Neuanfang mündete. Die monumentale, zwischen 1927 und 1931 von Egon Friedell publizierte Kulturgeschichte der Neuzeit bietet ein lebendiges Bild der Geißel der Pest als Vorspiel zur „Morgenröte der Welt“, der Renaissance.

Eine ähnliche Sicht, die vermutlich von der neuen Erfahrung eines mächtigen Kataklysmus, nämlich des Zweiten Weltkriegs, und des darauf folgenden Wiederaufbaus angeregt worden war, steht hinter der 1951 erschienen Monografie Painting in Florence and Siena after the Black Death von Millard Meiss. Die durch die Pest bedingte Krise, die makabren Visionen des Triumphs des Todes trugen laut diesem Autor zum Auftreten einer formal und inhaltlich neuen Kunst nach Giotto di Bondone bei. Albert Camus’ Roman Die Pest (1947) oder das dramatische Panorama des Films Das siebte Siegel von Ingmar Bergman (1957) schöpften ebenfalls aus der Erinnerung an die Pest. Und die Welle der wissenschaftlichen Arbeiten über die Pest ab den 1960er-Jahren bewahrt weiterhin diesen Gedenkstatus, dem die Gattung der Mikrogeschichte eine neue Intensität verleiht.

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