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FutureCity

Eine Utopie

Würde die Regierung zulassen, in einem abgelegenen Teil des Landes ein Aufsehen erregendes experimentelles Projekt zu starten, um die Schwierigkeiten, die durch die große Arbeitslosigkeit entstanden sind, in den Griff zu bekommen? Es sollen völlig neue Lebensformen entwickelt werden, die von den bisher in unserem Staat geübten weitgehend abweichen. Ein großes Wagnis?

Um was handelt es sich? Eine Gruppe von Leuten aus den verschiedensten Arbeitsgebieten hat sich zusammengetan, um völlig neue Lebensgrundlagen zu entwickeln, - Lebensgrundlagen im weitesten Sinne: für den Wohnbereich, für das Zusammenleben, für das, was in der Gesellschaft erlaubt ist, für die gesellschaftlichen Umgangsformen und die Art, wie wir miteinander arbeiten und leben, - selbst bis in den Gefühlsbereich hinein.

Wo ist die Basis dieses Unterfangens zu suchen? Basis - schon dieses Wort stammt eigentlich aus einer anderen Zeit und ist im Vokabular dieser Leute nicht mehr vorzufinden. Wie können wir einen Ansatzpunkt finden, um uns vorurteilslos eine eigene Meinung darüber zu bilden?

Es war eine große Protestbewegung entstanden, die sich vor allem mit der Überreglementierung unseres Lebens befasste. Alles durchorganisiert, alles funktional gestaltet, - eigentlich hätten dem Staat überhaupt keine Schwierigkeiten entstehen können. Das Leben war perfekt gestylt, sowohl im Äußeren, wie die Leute auftraten, - man hätte nicht vermuten können, dass hinter der Fassade große Schwierigkeiten lauerten, - das Verwaltungswesen war rationalisiert bis ins letzte, ein perfekter Gesetzesapparat, logisch aufgebaut, eines floss aus dem anderen.

Dennoch, ein immer größeres Unbehagen entstand unter den Menschen, eben gerade wegen dieser Überreglementierung, die aus der perfekten Organisation entstand, - wegen dieses Überfunktionalismus, wie es genannt wurde. Das Wort "über" tauchte immer häufiger auf, und damit einher ging eine zusehends größere Unzufriedenheit immer weiterer Kreise.

Zur gleichen Zeit entstanden neue Ansätze in kleinem Rahmen hier und da, um diese Probleme anzupacken. Welcher Art ? Sowohl im Bereich der Wissenschaftler als auch im Bereich der Künstler als auch im Bereich der Leute, die sich mit den Lebensumständen der einzelnen Bevölkerungsgruppen befassten,- von verschiedensten Seiten her. Immer wieder kreisten die Fragen darum, weg vom Funktionellen, hin zu freieren Lebensformen zu kommen, ohne dass diese genauer benannt werden konnten. Ansatzpunkte gab es bei den Wissenschaftlern mit der Entwicklung neuer Mathematik, "einer sogenannten neuen Fraktale", ebenso bei den Geisteswissenschaftlern durch die Hinwendung zum Fernen Osten. Vor allem Architekten waren an der Entwicklung neuer Lebensformen beteiligt. Neue Bauten wollten sie schaffen, freiere Bauformen, die nicht nur aus Betonplatten, geradlinigen oder kreisförmigen Bauten, sondern aus geschwungenen Formen zusammengesetzt sind, die organisch auseinander wachsen, - Generation für Generation.

Neue Ansätze zeigten sich in der Art, wie sich die Leute kleideten, - freier von Zwängen, und durch abwerfen von bisherigen Tabu-Vorstellungen. Neue Lebensformen besonders unter den jüngeren Leuten mündeten nicht mehr in ein geordnetes Leben, sondern scheinbare Ausschweifung, - große Feste, wo die Menschen mit völlig neuer Kleidung auftraten, und wo bislang unerlaubte Dinge plötzlich unverblümt gestattet und ausgelebt wurden, - Diskotheken, in denen von der Decke der Regen lief, künstlicher Regen, - die Leute tanzten in nasser Kleidung - und daraus resultierend eine Freisetzung neuer Formen von Sexualität, - selbst öffentlicher Geschlechtsverkehr wurde plötzlich populär. Entsprechendes drückte sich in der Kleidung aus, und in neuen Formen von Verkehrsmitteln, die auf diese Entwicklung Rücksicht nahmen und dergleichen mehr. Also kurzum eine Bewegung, die alles und jedes umfasste und die bisherigen Lebensformen und vermutlich auch Staatsformen damit aus den Angeln heben konnte.

Kaum wurden die ersten Veränderungen bekannt, regte sich bereits ein Entrüstungssturm von konservativer Seite. Es wurde alles unternommen, um diese neuen Bestrebungen zu unterbinden. Dieses erwies sich als schwierig, denn selbst die Kommunikationsformen hatten sich geändert. Statt wie früher auf die übliche Verbreitung durch Presse und Fernsehen zu setzen, fanden nunmehr neue Kommunikationsmedien ihre Anwendung, insbesondere über Telefonleitungen, über Computer. Jeder hatte plötzlich auf seinen Computerbildschirmen über Video, über Computext (inzwischen veraltet und völlig unbekannt) und dergleichen sein Anschauungsmaterial, seine neuen Texte, die dieses Anliegen vertraten, Bilder und Illustrationen vorliegen, und es war selbstverständlich unmöglich, die Verbreitung von Computern oder etwa Telefonanschlüssen zu stoppen oder .....

Was war der Ausgangspunkt der neuen Bewegung gewesen? Durch die Überreglementierung war mehr und mehr Unzufriedenheit in der Bevölkerung entstanden, - Unruhen. Die Arbeitslosen rotteten sich zusammen und veranstalteten tagtäglich in den Zentren der großen Städte riesige Demonstrationen, um den Verkehr zu blockieren, - in einer Hit-and-Run-Technik, die ihresgleichen suchte, - gegen die die Polizei völlig machtlos wurde. In allen Winkeln der Stadt tauchten Grüppchen oder auch Einzelne auf, die entweder ihre Wut den Leuten entgegen schrien oder allein schon psychisch zu einer Belastung wurden oder aber die auch zu Steinen griffen, hier und völlig unkontrolliert an dieser oder jener Stelle plötzlich Schaufensterscheiben einschmissen und dann genauso schnell verschwanden, - sei es im Dunklen oder gar beim helllichten Tag in irgendwelchen U-Bahn-Schächten oder dergleichen.

Diese Bewegung eskalierte. Eines Tages tauchten Gruppen auf, deren Spezialität es war, Autoreifen aufzustechen. In einzelnen Nächten wurden in Gebieten größerer Städte jeweils an vielen Hundert Wagen die Reifen aufgestochen, so dass dieses ein derartiges Verkehrshindernis wurde, - in einem derartigen Maße den Verkehr lahmzulegen anfing, dass es nicht so weitergehen konnte. Es wurden Untersuchungskommissionen gebildet, die davon ausgingen, dass man der neuen Bewegung nicht mit Unterdrückungsmaßnahmen Herr werden konnte; denn diese wandte sich ja gerade dagegen. Sie fühlten sich unterdrückt von verschiedensten Seiten.

Vor allem fühlten sie sich in ihrer freien Entfaltung unterdrückt. Erst wurde ein scheinbar fern liegendes Beispiel diskutiert, die Einspeisung privater Stromerzeuger in das öffentliche Stromnetz, wogegen sich die öffentlichen Stromnetze immer wieder gewehrt hatten. Dieses wurde relativ schnell dadurch gelöst, dass es gestattet wurde. Das fing aber an, ungeahnte Kreise zu ziehen, so dass es gleichsam zu einer Werbekampagne für die nicht gerade zahmen Proteste anwuchs.

An verschiedensten Orten und zu verschiedensten Zeiten fanden sich Gruppen zusammen, die bestimmte Aspekte gemeinsam in Angriff nahmen. Verfahrensforscher beispielsweise waren unzufrieden über das ausschließliche Vorherrschen von Ordnungsstrukturen in ihrem Bereich und wünschten eine stärkere Berücksichtigung chaotischer Strukturen. Leute, die sich mit der Wertesetzung in der Gesellschaft beschäftigten, beschwerten sich über einseitige Wertzuweisung, dass nur das Geordnete als wertvoll anerkannt wurde, dagegen das Chaos als chaotischer Teil herab gewürdigt wurde, - als minderwertig - und nicht anerkannt wurde, obwohl seit längerem die Gleichwertigkeit bekannt war.

Architekten fanden sich zusammen, welche die Nase voll hatten von den bisherigen modernistischen Bauten, die auf Fertigbauelementen beruhten, wo allenfalls mal gerundete Eckstrukturen zugelassen waren. Spritzbeton zur Herstellung geschwungener Wände rückte in den Mittelpunkt des baulichen Interesse. Die Farbgebung der Computerdarstellungen von Fraktalen wurde auf das Äußere von Gebäuden übertragen.

Plötzlich stand für Bauten in Deutschland die Architektur von Gaudi in Barcelona im Mittelpunkt des Interesses. Man fing an, sie zu untersuchen, indem man eine Fraktalanalyse vornahm - eine Sache, die auch von Mathematikern begeistert aufgenommen wurde, - gab es doch schon seit längerem an verschiedenen Orten sogenannte Chaos-Clubs, welche sich mit ungeordneten Strukturen in der Mathematik beschäftigten und die neue Mathematik von Mandelbrot als gleichwertig eingestuft haben wollten neben der traditionellen funktionellen Mathematik. Dies hatte wiederum Rückwirkungen in den verschiedensten Berufen, - auf Designer, insbesondere auch im Textilbereich, bei Grafikern, in der Werbung, im Showbusiness und schließlich im Theater- und Filmbereich. Kurzum, es veränderte die gesamte Gesellschaft.

1994

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