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Das Janusgesicht der Welt

Uns ein „Bild“ von dieser Welt zu schaffen, ein „Weltbild“, war und ist ein alter Wunschtraum der Menschen. Je nach unserer persönlichen oder gesellschaftlichen Grundeinstellung verhalten wir uns dieser Frage gegenüber entweder eher skeptisch oder aber wir sind von ihr fasziniert. Mancherorts geht diese Polarisierung soweit, dass es entweder unerlaubt scheint oder gemacht wird, uns ein Bild von dieser Welt zu machen. Auch heute noch sind die Bilderstürmer sicher nicht ausgestorben. Andere fordern umso vehementer, dass wir uns mehr damit beschäftigen sollen. Was hat es damit auf sich?

Wovon man redet, davon soll man klar reden, sagte Ludwig Wittgenstein (1889 - 1951). Was meinen wir mit den hübschen Worten „Welt“ und „Bild“? Wollen wir etwas sinnvolles sagen, so müssen wir klare Definitionen haben..

Schon befinden wir uns auf gefährlichem Glatteis; denn so einfach ist dies gewiss nicht. Das mag natürlich sofort die Skeptiker bestärken. Doch machen wir es ihnen nicht gleich zu einfach, indem wir sofort aufgeben, sondern setzen uns erst einmal auf den Schlitten von nahe liegenden simplen „Definitionen“ (ja was sind eigentlich Definitionen, - wer liefert uns da mal schnell eine Definition?) und sagen wir folgendes:

Unter der „Welt“ sei ALLES verstanden, was es gibt. Mit „Bild“ aber sei eine ABBILDUNG im Sinne einer mathematischen Projektion gemeint. Jedem realen Punkt soll möglichst eindeutig ein Punkt in einer Darstellung zugeordnet sein, was für eine Darstellung das auch sein möge. Populär gesprochen läuft das auf eine pure BESCHREIBUNG der Welt hinaus. So soll eine sinnvolle Abgrenzung gegen Fantasieprodukte auf der einen Seite und gegen Ideologien auf der anderen Seite erreicht werden.

Traditionell beginnen die meisten Versuche, sich ein Bild von dieser Welt zu machen, damit, etwas über ihren Anfang - über die „Schöpfung“ - sagen zu wollen, was aber vielleicht das aller schwierigste oder gar etwas unmögliches ist.

Über die Entstehung der Welt wurde eh und je und wird auch heute noch viel nachgedacht und geredet und geschrieben. Doch lässt sich, wenn wir uns an die soeben getroffenen Abmachungen und Definitionen halten, schlicht und einfach nichts von Bedeutung darüber sagen. Denn kein Wesen und kein Teil eines solchen kann etwas über seine eigene Geburt sagen. Das gilt für alle Teilwesen dieser Welt genauso für das Gesamtwesen, - eben diese unsere Welt. Jede Schöpfungsgeschichte und jede Kosmogonie wird also nie die Entstehung der gesamten Welt beschreiben können, sondern nur von Teilen der Welt.

Diese Erkenntnis ist so einfach, dass nur wenige sie bisher verstanden haben. Regen wir uns nicht weiter darüber auf? Bleibt uns doch der Trost, dass wir über die Teilwesen mehr sagen können. Schließlich ist die gesamte Welt die Summe aller Teilwesen. So bleibt die Hoffnung, dass für sie auch gilt, was für alle Teilwesen gilt.

Von der Entstehung der natürlichen Dinge, der Lebewesen und der Menschen selbst haben Naturwissenschaftler heute recht klare Vorstellungen. Doch wie steht es mit solchen „Dingen“ wie Kultur, Religion, Kunst und Geisteswissenschaften? Sie alle scheinen als Zwilling geboren zu sein. Es gibt, wenn wir uns auf die wesentlichen Grundzüge beschränken und lokale Nuancen außer acht lassen, östliche Kulturen und westliche, östliche Religionen und westliche, östliche (orientalische) Kunst und westliche.

Nur die Naturwissenschaften scheinen eine Ausnahme zu spielen. Hier fällt es schwer, westliche und östliche Versionen zu finden. Genau sie liefern uns heute im wesentlichen unsere Vorstellungen von der Entstehung und den Eigenschaften der Dinge. Diese scheinen überall dieselben zu sein.

Fast jeder, der naturwissenschaftliche Methodik kennt, hat das unbewusste Gefühl, dass die Naturwissenschaften im Grunde auch ein Kind des Westens sind. Woran liegt dies? Kommt dies nur daher, dass die Naturwissenschaften mehr oder weniger zufällig eben hauptsächlich im Westen entwickelt worden sind, oder gibt es dafür einen tiefer liegenden Grund?

Ein ganz entscheidender Punkt war, dass sich im Westen das Denken in Funktionen (“ein funktionelles Denken”) etabliert hat. Die einfachste Form, das mathematisch auszudrücken, lautet:

y = c0 + c1 * f(x)

wo c0 und c1 Konstanten sind und f eine beliebige Funktion ist, etwa sin(x) oder eine Potenz von x. Dies ist die Schreibweise der Schulmathematik. Die Formel besagt, dass die Werte in der y-Dimension in einer bestimmten, durch die Funktion beschriebenen Weise von den Werten in der x-Dimension abhängen, was auch immer diese Dimensionen bedeuten mögen (z.B. zwei Koordinaten auf einer Fläche).

Der allgemeine mathematische Ausdruck einer solchen Beschreibung, der auch nichtlineare Abhängigkeiten umfasst, ist ein Polynom etwa folgender Art:

x = c0 + c1 * f(x1) + . . . + fn(xn) + . . .

wird damit sofort verständlich, wobei die c-Werte Konstanten, die f-Werte Funktionen und die x-Werte Einheiten in den jeweiligen Dimensionen 0,1,2, . . . k, . . . sind. Diese Werte gelten jeweils innerhalb eines gewissen Bereichs, in dem ein System definiert ist. Je geordneter ein solches System ist, umso besser lässt sich auf diese Weise etwas beschreiben. Wesentlich ist hierbei das Denken in Dimensionen. Das Verhalten einer Größe in einer bestimmten Dimension wird als Summe verschiedener Abhängigkeiten von Größen in anderen Dimensionen hergeleitet.

Dies ist die bei uns traditionelle Art der naturwissenschaftlichen Beschreibung, die große technische Erfolge hervorgebracht hat. Erst relativ spät wurde erkannt, dass auch eine prinzipiell andere Art der Beschreibung existiert, die zu der bisherigen quasi komplementär ist. Diese basiert auf den 1975 von dem französischen Mathematiker Benoit Mandelbrot entdeckten sogenannten Fraktalen (schon früher waren die sogenannten Julia-Mengen bekannt). Hierbei wird ein Zustand eines Systems durch seine Abhängigkeit von einem früheren Zustand des Systems beschrieben, also in einem einfachen Fall etwa durch einen Ausdruck der Form:

xn = c * f(xn - 1)+ d

wobei c und d Konstanten sind. Eine Größe in einem bestimmten Zustand (n) wird also durch ihre Abhängigkeit von dieser Größe in einem früheren Zustand (n-1) beschrieben.

Es zeigt sich, dass diese neue Art der Beschreibung für stark geordnete Systeme wenig geeignet ist, dafür aber umso besser für chaotische Systeme. Ansonsten sind aber beide Arten der Beschreibung gleichwertig, obwohl die Handhabung sehr verschieden ist. Dahinter steckt die ganz wichtige Erkenntnis, dass Ordnung und Chaos gleichwertig sind, dass Chaos also nicht von vorne herein als etwas negatives angesehen werden muss.

Während man Funktionen oft noch relativ einfach mit Schulmethoden berechnen kann, lassen sich Fraktale praktisch nur mit Computern auswerten. Das erklärt wahrscheinlich, dass sie erst so spät entdeckt und in ihrer enormen Bedeutung erkannt worden sind.

Als erste haben sich die Computergrafiker quasi auf sie gestürzt und sie mit den bunten Bildern der humorvoll Apfelmännchen genannten Figuren bekannt gemacht. Diese Figuren existieren in unendlich vielen Variationen. Stundenlang kann man auf den Bildschirmen von heute unglaublich schnell rechnenden Computern immer wieder neue Gebilde entstehen sehen, wobei laufend eine bestimmte Formel erneut durchgerechnet wird. Typisch ist bei dieser Iteration der Anfang, - eine im Inneren des Bildes liegende apfelförmige, meist schwarz dargestellte Fläche, von der man weiß, dass sie den geordneten Bereich darstellt. Um sie herum entstehen mit zunehmender Rechendauer immer neue bunt dargestellte Figuren von einer geheimnisvoll anmutenden, oft bizarren Schönheit. - ohne Ende, - welche den zunehmenden Übergang zum Chaos darstellen. Jedem Generationswechsel entspricht dabei ein Farbwechsel.

Ein wesentliches Charakteristikum lässt sich in ihnen entdecken. Diese Figuren zeigen in Teilbereichen nach weiterer Durchrechnung (einige Generationen weiter) verblüffende Ähnlichkeiten mit sich selbst. Diese Selbstähnlichkeit scheint bei Iterationen im Bereich des Chaos eine ähnliche Rolle zu spielen wie Proportionen bei Funktionen im Bereich der Ordnung. Dies muss nicht selbst ein Element von „Ordnung“ im Bereich des Chaos bedeuten (die Anführungszeichen sollen klar machen, dass auch dieser grundlegende Begriff einer genauen Definition und Bestimmung seines Gültigkeitsbereichs bedarf und hier vielleicht gar nicht verwendet werden sollte), sondern hat eher wie der Begriff Proportionen mit dem Begriff Schönheit zu tun.

Als erste verwendeten also Grafiker die Fraktale, wobei die Kreationen von errechneten Landschaften besonderes Aufsehen erregten. Bald folgten, wenn auch mit weniger Publizität, Musiker und schufen entsprechende fraktale Kompositionen.

Auffällig ist, dass im Bereich der Fraktale zunächst die Synthese im Vordergrund stand und analytische Ansätze erst später folgten, während man im Bereich der Funktionen eher umgekehrt voran geschritten war.

Ein wichtiger weiterer Schritt ergab sich durch die Zuordnung von „Dimensionen“ zu fraktalen Darstellungen (für die Anführungszeichen gilt auch hier das oben gesagte). Dabei zeigte sich, dass sich nicht, wie sonst gewöhnlich, nur ganzzahlige Werte ergeben, sondern im allgemeinen Kommawerte und zwar vorwiegend im Bereich zwischen 2 und 3. Je näher die Dimension noch bei 2 liegt, umso weicher und geglätteter kommt uns die fraktale Struktur vor (sei es Grafik oder Musik oder die fraktale Analyse einer Struktur), während bei Annäherung an 3 die Struktur immer härter und schroffer erscheint. Gibt man bei der Synthese von fraktalen Strukturen den genauen Wert der Dimension vor, so kann man damit bestimmen, wie sie erscheint: weicher und glatter oder härter und schroffer.

Stellen wir uns nun ein System von irgendetwas vor, das einen wählbaren Grad von Zufälligkeit haben soll. Zum Beispiel könnten dies irgendwelche Gebilde aus verschieden großen bunten Bauklötzen sein. Wir wollen uns fragen, welchen Grad von Komplexität dieses System bei verschieden großer Zufälligkeit hat. Um bei unseren Bauklötzen zu bleiben: ein völlig geordnetes System wäre ein sorgfältig zusammengesetzter gleichseitiger Würfel, bei dem sich auf jeder Seite Klötze einer bestimmten Farbe befinden, während ein völlig ungeordnetes, also maximal zufälliges System die beliebig durcheinander wirbelnden herum fliegenden Klötze wären.

Es ergibt sich, wenn wir bei niedriger Zufälligkeit (also bei geordneten Zuständen) beginnen, ein kontinuierlicher Anstieg der Komplexität bis zu einem bestimmten Wert im mittleren Bereich, während bei weiterer Zunahme ( je weiter wir ins Chaos vordringen) die Komplexität wieder abnimmt.

In ihrem Maximalbereich wird die Komplexität sehr groß. Auf der einen Seite der von diesem Maximum gebildeten Grenze - im Land der Ordnung - lassen sich die Strukturen besser mit Funktionen beschreiben, während sie sich auf der anderen Seite dieser Grenze - im Land des Chaos - einfacher mit Fraktalen darstellen lassen. Analysiert man bedeutende künstlerische Schöpfungen, insbesondere musikalische, so zeigt sich interessanterweise, dass sie genau in diesem Grenzbereich angesiedelt sind.

Als Beispiel für eine praktische Anwendung von fraktalen Zerlegungen kann die damit mögliche Verringerung der Zahl der zu übertragenen Werte bei einer Bildübertragung dienen. Bilder lassen sich meist mit viel weniger fraktalen Koeffizienten wiedergeben, als es einer Zerlegung in Bildpunkte entsprechen würde, welche zum Beispiel bei der Fernsehübertragung durchgeführt wird. Fraktale können also zur Komprimierung von Bildern sehr nützlich sein, - eine Technik, die noch ganz in den Anfangsschuhen steckt (einzelne Bildpunkte, zum Beispiel i-Punkte, werden dabei selbstverständlich nicht mit übertragen).

Dieses Beispiel mag uns eine Ahnung davon geben, welche enorme Bedeutung die Fraktale haben. Doch ist es wieder ein typisch „westliches“ Beispiel, und damit kommen wir zu unserem Ausgangspunkt zurück: der offensichtlichen Existenz von zwei diametral verschiedenen Kulturtypen im Osten und im Westen mit all ihren auch religiösen und künstlerischen Ausprägungen.

Denn viel wichtiger scheint etwas grundsätzlich anderes zu sein: nämlich das Denken und Empfinden in Iterationen. Und genau das ist ja einer der wesentlichsten, wenn nicht überhaupt DER zentrale Punkt der östlichen Kulturen

So drängt sich als Erkenntnis das Gefühl auf, dass den westlichen Kulturen im wesentlichen das geordnete Denken innewohnt, in welchem Punkt, Linie und Proportion zentrale Begriffe sind (auch im übertragenen Sinne als „Standpunkt“ oder „Entwicklungslinie“), während für östliche Kulturen das chaotische Denken charakteristisch ist, in welchem Mischung, Fluss und Selbstähnlichkeit (anders benannte) zentrale Begriffe sind.

Als erstes muss an dieser Stelle ganz deutlich unterstrichen werden, das damit keinerlei Wertung verbunden ist. Die westliche Kultur hat inzwischen total verinnerlicht, dass Ordnung mehr wert sei als Chaos. Mit dieser Idee müssen wir gründlich aufräumen. Ordnung und Chaos sind einfach zwei Extreme im Zustand unserer Natur. Fast alles spielt sich dazwischen ab, wobei der Grenzbereich zwischen beiden offensichtlich am interessantesten ist. Nichts und gar nichts außer unseren durch Erziehung bedingten Gewohnheiten rechtfertigt, der einen oder anderen Seite einen höheren Wert zuzusprechen.

An dieser Stelle wird überdeutlich, dass hier Ideologie einsetzt und sich in übler Form breit gemacht hat, - auf der einen wie auf der anderen Seite. Dabei geht es in Wirklichkeit um nichts anderes als um Weltbeschreibung. Er ist ein Verdienst der Mathematiker, uns jetzt klar gemacht zu haben, dass es prinzipiell zwei Arten der Beschreibung gibt, und dass diese quasi komplementär zueinander sind, aber keinerlei Wertunterschied haben. Wert kann diesen nur durch ideologische Festsetzungen zugeordnet werden.

Komplementäre Beschreibungen sind aber nicht etwas ganz neues. Schon 1924 wurden die Menschen damit aufgeschreckt, dass sich „die Welt“ auf zwei grundlegend verschiedene Arten beschreiben lässt, nämlich durch Wellen oder durch Teilchen (Louis-Victor de Broglie; 1892-1987). Um diesen damaligen Aufruhr ist es seitdem ziemlich still geworden. Die Fachwelt hat geschluckt, dass es eine Unschärfebeziehung gibt (Werner Heisenberg; 1901-1976), welche es verbietet, dass Dinge gleichzeitig beliebig genau sowohl als Wellenerscheinung als auch als Teilchenphänomen beobachtet werden können.

Ob es tiefere Zusammenhänge zwischen diesen beiden physikalischen Beschreibungsformen und den beiden mathematischen Beschreibungsformen gibt, steckt noch im Dunkel. Die Analogien drängen sich auf. Gibt es auch eine entsprechende Unschärfebeziehung bei der alternativen gleichzeitigen Beschreibung in geordneten und chaotischen Systemen?

Im Moment können wir hierauf noch keine Antwort geben. Eines scheint jedoch sicher. Eine eventuelle Erkenntnis würden die Menschen wahrscheinlich genauso beiseite schieben wie diejenige vom Teilchen-Welle-Dualismus, obwohl sie größte Konsequenzen für unser Weltbild haben könnte.

ca. 1994; ergänzt 2009 und 2013

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