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Als erstes ging ich zu meinem Regierungssitz und nahm Platz. Da stellte sich heraus, dass es gar kein Sitz war, sondern dass ich auf dem pelzigen Rücken eines Gummibären saß. Ich war froh, als ich es merkte. Ihr Bestand hatte sich wohl offensichtlich wieder erholt, seit der ekligen Epidemie vom letzten Jahr. Die rote Liste hatte sie gerettet. Sofort, einer spontanen Eingebung folgend, setzte ich mein ganzes, im Moment noch flüchtiges Personal ebenfalls auf die rote Liste und rettete es. Den Hut behielt ich während der ganzen Aktion auf dem Kopf und den Stock in der Hand. Es waren die Fleisch gewordenen Auswüchse meiner Insignien, und sie halfen mir bei meiner Mission in unerklärbarer Weise. Sie waren die Garantie dafür, dass ich meine Mission jederzeit abbrechen konnte, wenn ich keine Lust mehr hatte oder großen Hunger bzw. Durst oder müde war oder krank. Und im Kleingedruckten waren noch viel mehr Gründe aufgeschrieben. Damit mich die ganze Litanei auf meiner Mission nicht störte, habe ich das Kleingedruckte natürlich sehr klein gedruckt. Jetzt konnte man es nicht mehr sehen, aber es war trotzdem noch da. Wieder so ein alter Ministerpräsidententrick, der für klare Verhältnisse sorgte. Das war eben Erfahrung in der dritten Generation. Da wackelte nichts, nicht mal ein wackeliger Regierungssitz.

Jetzt konnte ich damit anfangen, meine Wunschliste für die Ministerposten in mein Notizbuch zu notieren. Viele hätten gerne gewusst, was drin stand. Ich tat ihnen den Gefallen. Ich hielt ihnen das aufgeschlagene Notizbuch unter die Nase und blätterte die Seiten einzeln durch. Es stand nichts drin. Ich hatte nämlich mit unsichtbarer Tinte geschrieben. Man konnte nichts sehen, aber die Namen waren trotzdem noch da. Ich stellte fest, dass mir auch in meinem Leben als Ministerpräsident immer wieder Bekanntes über den Weg lief. Das machte mich regelmäßig ganz verrückt. Ich war ausgesprochen dankbar dafür. Denn sehr oft war ich schon kurz davor gewesen, in einen unverrückten Zustand zu geraten. Zum Glück kam die Rettung aber immer noch gerade rechtzeitig.

Mit meinen Augen aus gebogenem Qualitätsstahl betrachtete ich die unsichtbare Liste der Minister, die ich notiert hatte. Sie war so lang wie ein Kuckucksei aber nicht so dick. Dafür waren aber ihre Kriterien sehr weit fortgeschritten. So wie ich es jetzt sah, mussten meine Minister ein ungewisses Etwas haben. Damit hatte ich nun einen genauen Plan in der Hand, was zu tun war. Gerade als ich loslegen wollte, entwischte der genaue Plan aus meiner Hand und flüchtete mit den gesamten Daten. Er machte dabei riesengroße Schritte. Das war eigentlich verboten in der Politik. Ich teilte es ihm mit. Er entschuldigte sich bei mir, sprang dann blitzschnell in ein Auto mittleren Alters und gab Vollgas. Ich hatte so etwas Ähnliches natürlich erwartet und vorsorglich die Straße mit meinem Lächeln für eine Schrecksekunde blockiert. Trotzdem brauchte ich unverzüglich eine schnelle, junge Limousine, um dem Auto mittleren Alters zu folgen und ihm den Weg abzuschneiden. Autoreifen quietschten an der Barriere meines Lächelns, und ich zerrte einen willig brummenden Bankmann vom Fahrersitz seiner schnellen, jungen Kleinlimousine. Bankleute waren für Unterhaltung immer zu haben, das war bekannt. Bei den Gagen lagen sie aber weit abgeschlagen am Tabellenende. Das war auch bekannt. Aber damit konnte ich mich jetzt nicht befassen. Ich hatte einen genauen Plan zu verfolgen, der gerade mit Vollgas meine Barriere umfahren hatte. Ich versuchte mich mit meiner ausgeliehenen, schnellen, jungen Kleinlimousine an die Antenne des Autos mittleren Alters zu hängen. Aber es bog plötzlich und hinterhältig ab. Fast wäre meine, nicht gerade alte, nicht gerade langsame und nicht gerade große, Limousine dabei aus der Kurve geflogen. Ich schaffte es soeben, die Kurve zu kriegen, knallte aber gegen einen Rollstuhlfahrer, dessen Gefährt sich dabei an meiner hinteren Stoßstange verhakte. Im Moment konnte ich aber nichts für ihn tun, denn ich jagte ja hinter dem genauen Plan her. Der Rollstuhlfahrer musste sich deshalb noch etwas gedulden. Zum Glück für ihn und für die Nerven aller waren wir aber in eine Tempo-30-Zone geraten. Da konnte man etwas verschnaufen. Außerdem galt hier links vor rechts. Es konnte kein Zweifel bestehen, wir befanden uns in England. Denn nicht ein einziger Franzose war zu sehen. Auch darum konnte ich mich natürlich erst später kümmern.

Endlich hatten wir die langsame Zone hinter uns gelassen und konnten wieder die Tube ausdrücken. Wir rasten auf eine große Kreuzung zu. Ich kam dem Auto mittleren Alters mit meinem genauen Plan am Steuer immer näher. Der Rollstuhlfahrer klopfte mehrmals höflich an die Heckscheibe meiner ausgeliehenen, schnellen, jungen Kleinlimousine. Er wollte aussteigen. Um ihn bei Laune zu halten reichte ich ihm einen Becher Kaffee durchs Seitenfenster nach hinten. Er bedankte sich. Ich konzentrierte mich ganz auf die Verfolgung. Der genaue Plan überquerte gerade noch bei Grün die Kreuzung. Dann sprang die Ampel auf Rot. Ich musste eine Vollbremsung machen, die nicht von schlechten Eltern war. So ein Glück für den Rollstuhlfahrer, dachte ich. Jetzt konnte er aussteigen. Aber er wollte nicht mehr.

„Warum willst du nicht aussteigen?“ fragte ich ihn.

„Weil der Fahrtwind meine Haare so erotisch wehen lässt“, sagte er, „mit dem Rollstuhl habe ich das noch nie geschafft.“

„Du kannst mitkommen“, sagte ich zu ihm, „aber ich habe eine Bedingung.“

„Und die wäre“ fragte er neugierig.

„Du machst mit in meiner Regierung als Minister für erotisch im Fahrtwind wehende Haare.“

„Kann ich Bedenkzeit haben?“ fragte er.

„Nein!“ antwortete ich mit der ganzen Entschlossenheit eines Ministerpräsidenten.

„Unter diesen Umständen sehe ich mich gezwungen, Ja zu sagen“, gab er auf.

Nun wusste er, wer der Ministerpräsident war und wer lediglich über erotisch wehende Haare im Fahrtwind verfügte. Er hatte schnell begriffen. Er war ein guter Mann. So mussten meine Minister geschnitzt sein!

Doch da ging es schon wieder weiter. Die Ampel war auf Grün gesprungen. Ich sah, dass der genaue Plan mit seinem Auto mittleren Alters auf die Zugbrücke zufuhr, um die andere Seite des Flusses zu erreichen. Es durfte ihm nicht gelingen. Sonst hätte ich mich bestimmt geärgert und mir etwas Neues einfallen lassen müssen, etwas ganz Neues vielleicht sogar.

Es entwickelte sich ein sehr enges und spannendes Finish. Beeilung in jeder Hinsicht konnte da nicht schaden. Denn jeden Tag um diese Zeit wurde die Zugbrücke hochgezogen, und alle mussten warten, bis sie wieder herunter gelassen wurde. Der Rollstuhlfahrer hatte den Ernst der Lage auch begriffen und ganz cool seinen Elektromotor zugeschaltet, um unserem Gefährt einen zusätzlichen Schub zu verleihen und so die nötige Geschwindigkeit zu geben. Die Schranken, die die Zugbrücke abriegeln sollten, waren schon in steilem Sinkflug begriffen. Im nächsten Moment war die Straße dicht. Der genaue Plan hatte es nicht geschafft. Er musste stehen bleiben. Die Schranke war geschlossen und verwehrte ihm strengstens die Weiterfahrt. Ich bremste neben ihm. Er stieg mit erhobenen Händen aus und beglückwünschte mich. Er wusste nun auch Bescheid, genau wie der Rollstuhlfahrer.

Großzügig lud ich die beiden zum Essen ein. In der Jugendherberge gab es heute wieder etwas Leckeres. Der genaue Plan, der Rollstuhlfahrer und ich hatten natürlich einen Riesenhunger nach der Verfolgungsjagd. Als Ministerpräsident hielt ich mich an das eherne Gesetz meines zünftigen Gewerbes und das hieß damals genau wie damals: Voller Bauch regeneriert sehr gern.

Danach spielten wir noch ein paar Runden Billard und tranken viele Gläser Wasser, das teilweise sogar aus anderen Gegenden importiert worden war. Später hielten wir uns aneinander fest und tanzten einen engen Tanz. Wir waren uns einig, dass Freundschaft die schönste Nebenabsprache der Welt war.

Trilogie der reinen Unvernunft Bd. 2

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