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Anaxagoras (500 – 428 v. Chr.) & Diogenes (499 – 428 v. Chr.)

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Anaxagoras


Diogenes

Vossenkuhl:

Von Anaxagoras sagt man, er habe das geistige Schauen und die aus ihm entspringende Freiheit als das Lebensziel bezeichnet. Anaxagoras, ein Mann aus Kleinasien, ähnlich wie die Leute aus Milet. Er stammte aus Klazomenä. Später, wahrscheinlich 462, zog er nach Athen und wurde der erste Philosoph dieser Stadt.

Lesch:

Er brachte die Philosophie nach Athen und er war, unter anderem, der Lehrer von Perikles, einer der wichtigsten Athener Politiker und des Dichters Euripides.

Platon schreibt über Anaxagoras: „Perikles machte, wie es scheint, die Bekanntschaft des Anaxagoras, der ein Mann der Wissenschaft war, und indem er sich mit der Theorie der Dinge über der Erde sättigte und zur Kenntnis des wahren Wesens des Verstandes und der Torheit gelangt war, schöpfte er aus dieser Quelle alles, was geeignet war, ihn in der Kunst der Rede zu fördern.“

Der Mann scheint den Durchblick gehabt zu haben.

Vossenkuhl:

Wir müssen uns mal kurz überlegen, in welche Epoche er eigentlich gehört. Wir haben schon etwas über Leukipp und Demokrit gehört. Die waren nun beide jünger als Anaxagoras.

Lesch:

Das heißt, die waren uns näher.

Vossenkuhl:

Die lebten schon oder starben im 3. Jahrhundert, während Anaxagoras schon oder noch im 4. Jahrhundert starb. Geboren wurde er so um 500, und war deutlich älter, sagen wir mal so an die 50 Jahre.

Diese Verschiebung ist deswegen wichtig, weil der Fortschritt, den wir bei Demokrit gesehen haben, hier noch nicht erreicht bzw. wieder zurückgenommen wird. Das ist natürlich etwas unfair, weil wir die Zeit künstlich zurückgedreht haben. Bevor der Fortschritt durch Demokrit Fuß fassen konnte, wurde er lang genug davor fast unmöglich gemacht. Denn mit Anaxagoras kommt ein völlig neues Prinzip in die Diskussion: Der Geist, „Nous“.

Man sagt etwas salopp, dass Anaxagoras der erste Dualist gewesen sei. Neben dem Geist stand als Zweites die Materie.

Lesch:

Also, diese Zwei, das Gegensätzliche.

Vossenkuhl:

Ja, Geist und Materie. Wir werden gleich noch sehen, wie die miteinander harmonieren können. Kein Gegensatz, eine Einheit, aber doch verschieden.

Du hast auf Euripides hingewiesen, einen der größten griechischen Dichter. Es ist interessant, dass ein Philosoph einen Dichter unterrichtet hat. Das, was der Euripides machte, hätte Demokrit mit seiner Theorie nicht erklären können. Aber der Anaxagoras konnte das. Denn das Geistige in der Kunst, das Wesentliche, das Unsichtbare, das die Worte zu schönen, gut gesetzten, wohlklingenden und richtigen macht, das kann man nur mit dem Nous erklären.

Lesch:

Das zutiefst Menschliche. Das, was uns Menschen ausmacht.

Was würde man denn einem Außerirdischen sagen, der fragt: Was habt ihr Menschen denn ins Universum eingebracht? Wir würden mit ihm nicht über die Naturgesetze reden. Bei denen sind wir ja der Meinung, dass sie überall im Universum die gleichen sind. Nein - wir würden ihm unsere Gedichte vorlesen, unsere Musik vorspielen, ihm unsere Bilder zeigen. Über Physik würde ich mit dem Außerirdischen nicht sprechen. Obwohl es bei mir so nahe liegt.

Vossenkuhl:

Welche Bilder würdest Du ihm denn zeigen?

Lesch:

Eigentlich Chagall. Ich würde jemandem von da draußen gerne ein Bild von Chagall zeigen. Und natürlich Feininger vom Feinsten.

Aber zurück zu Anaxagoras. Ich weiß von Anaxagoras aus meiner Schulzeit eigentlich nur, dass das einer der Philosophen gewesen ist, die sich nie um irgendwas anderes gekümmert haben als um Philosophie. Obwohl er Perikles ausgebildet hat, war er sozusagen der erste hauptamtliche Philosoph. Der hat nur das gemacht und sonst Feierabend.

Vossenkuhl:

Das stimmt. Ich habe mich oft gefragt, wovon der eigentlich lebte. Für Philosophen war Athen wohl kein so freundliches Pflaster. Wir werden das noch bei Sokrates sehen. Der Anaxagoras hat schon Probleme gekriegt, weil er sagte, dass die Sonne ein feuerglühender Metallklumpen sei. Damit hat er der Sonne die göttliche Bedeutung abgesprochen.

Daraufhin wurde er angeklagt. Anders als Sokrates, der den Schierlingsbecher getrunken hat, konnte Anaxagoras – unter dem Schutz von Perikles - einfach gehen, und zwar nach Lampsakos, dem heutigen Lapseki; das ist an den Dardanellen, also zwischen dem Marmara Meer und der Ägäis, gegenüber von Gallipoli. Wovon er dort gelebt hat, ist leider nicht überliefert.

Ich frage mich immer wieder, wie die Leute damals so rumgereist sind. Wie die ihr täglich Brot verdient haben. Da gab es ja keine Banken und keinen Automaten, in dem man seine Scheckkarte reinstecken konnte.

Lesch:

Ein etwas böses Bild von griechischen Philosophen ist ja, dass da einer, der nichts arbeiten muss, einhergeht mit einer Horde von Jünglingen, die auch die Söhne von irgendwelchen reichen Vätern und Müttern sind, die das Geld beigebracht haben.

Philosophie - so ein gängiges Klischee - entsteht erst dann, wenn die Leute Zeit haben, sich über Dinge Gedanken zu machen, die nicht unmittelbar zu ihrer Existenz beitragen.

Insofern könnte man sich vorstellen, dass Anaxagoras, wie viele andere Philosophen auch, als Hauslehrer vor Ort gearbeitet hat und sich so über Wasser hielt. Ich meine, das geht so durch bis Hölderlin. Der hat auch als Hauslehrer arbeiten müssen.

Vossenkuhl:

Anaxagoras muss noch eine Familie gehabt haben. Es ist überliefert, dass einer seiner Söhne starb. Das ist deswegen überliefert, weil er einen für sein Denken symptomatischen Satz geschrieben hat. Jemand hat ihm erzählt, dass sein Sohn gestorben sei. Darauf sagte er: „Ich weiß, dass ich einen Sterblichen gezeugt habe.“ Das ist ein cooler Satz, nicht wahr?

Oder noch ein anderer abgeklärter Satz von ihm. Als er gefragt wurde: Ist es für Dich nicht schrecklich, in fremder Erde begraben zu werden? Darauf sagte er: „Von überall ist der Hinabweg in die Unterwelt gleich weit.“ Das halte ich für eine gute Sicht der Dinge.

Lesch:

Da hat einer offenbar über viele Sachen nachgedacht. Wobei ich mir nicht vorstellen kann, dass die Nachricht, dass der Sohn tot ist, sich nur in einem solchen Satz erschöpft hat. Da wird sicherlich noch mehr gewesen sein.

Vossenkuhl:

Immerhin hatte er Familie.

Und mit der Familie ist er wohl aus Athen weggegangen. Über die weiteren Lebensumstände an den Dardanellen weiß man nichts.

Lesch:

Mein Eindruck aus der Literatur ist, dass Anaxagoras als echter Theoretiker, als theoretischer Philosoph gearbeitet hat. Für ihn war Wissenschaft jetzt nicht - wie bei Pythagoras oder Empedokles - immer auch Philosophie oder gar etwas Heilsbringerisches. Philosophie wird hier zur wertfreien Wissenschaft. Wir versuchen einmal sein Weltbild zusammen nachzubauen.

Anaxagoras hat eine Forderung an die Theorie gestellt, also an die Gottesschau oder an die Schau der Phänomene: Natürlich sei es wichtig, Erfahrungen zu sammeln. Also auch mit den Sinnen. Aber das ist nur sekundär. Entscheidend ist, dass man aus den Phänomenen eine Theorie ableitet, die mehr erklärt als nur die Phänomene, die man schon gekannt hat.

Das ist tendenziell ein Schritt in Richtung Neuland. Da wird zum ersten Mal zu dem, was schon da ist, etwas hinausgedacht. Da macht einer das Scheunentor auf für einen Blick in die Zukunft.

Vossenkuhl:

Das bringt uns auch gleich zum Kern dieser neuen Theorie.

Alles, was mit dem Geist zusammenhängt, ist eine neue Theorie. Deren Erklärungskraft machte er an ganz simplen Beispielen fest. Er sagte zum Beispiel: Betrachte einmal ein Haar. Das, was das Haar zum Haar macht, kann nicht ein Nicht-Haar sein.

Lesch:

Stimmt klar und deutlich. Keine Haarspalterei.

Vossenkuhl:

Oder was das Fleisch zum Fleisch macht, kann nicht ein Nicht-Fleisch sein.

Lesch:

Es muss ein Teil davon sein. Leuchtet ein.

Vossenkuhl:

Also, das was das Tier gefressen oder der Mensch gegessen hat, muss stofflich da schon drin sein, was zum Fleisch geworden ist. Solche Stoffe nannte er spermata, Baustoffe. Sperma heißt – wie fast jeder weiß – Same oder Keim.

Die Baustoffe des Fleisches sind im Futter oder in den Nahrungsmitteln schon drin. Die bilden dann das Fleisch. Das ist nun ganz anders als bei Demokrit. Kein Atomismus, um die Dinge zu erklären. Anaxagoras postulierte: In allem, was entsteht, steckt ursprünglich das Keimhafte drin. Und der Geist, der „Nous“, der dirigiert das Ganze zu seinem richtigen Ort. Das ist dann das Ordnungsprinzip im Stofflichen.

Lesch:

Das ist ein theoretisches Postulat. Auf Kosten der Atome, die er kannte. Erklärt er, was Nous ist oder wird das nur in einem Axiom angenommen?

Vossenkuhl:

Der Geist ist eine Kraft, eine Ordnungskraft, eine Gesetzeskraft. Die ganze Weltordnung wird durch diese Kraft hergestellt. Geist ist nicht nur das Denken, sondern es ist eine Kraft, die in der Natur herrscht. Natürlich ist die Annahme, wie Du vermutest, axiomatisch, wird also von nirgendwo her abgeleitet.

Lesch:

Ende des 19. Jahrhunderts gab es auch den Versuch, biologische Vorgänge durch einen „élan vital“ zu erklären, Bergson mit seiner Vitalismusgeschichte.

Da gibt es eine Kraft, die nicht zu den berühmten Vier der physikalischen Kräfte zählt. Da kommt etwas dazu, was aus toter eine lebendige Materie macht. Würde man das so in diese Richtung interpretieren können?

Vossenkuhl:

Ja, das ist genau die Richtung.

Lesch:

Das ist dann schon ein Nicht-Materialismus. Der Geist ist also nicht materialistisch.

Vossenkuhl:

Anaxagoras war - das haben wir vorhin schon gesagt - Dualist. Das heißt, er hat Geist und Materie als zwei, na ja „Stoffe“ kann man schon sagen, angenommen oder zwei Aspekte der Stoffe. Er hat diese aber nicht völlig getrennt.

Nicht so wie später dann Descartes. Bei dem hatte das eine mit dem anderen gar nichts zu tun. Es waren zwei unabhängige Substanzen.

Unser Grieche sah das anders. Er hat nur den Geist mit dem Stofflichen so verbunden, dass das Stoffliche nach dem Geistigen kommt. Die Seele, sagt er, ist früher als der Körper. Das Geistige ist vor dem Körperlichen.

Dann sah er sich natürlich mit der Frage konfrontiert: Ja, aber woher weißt du das? Das sieht man doch gar nicht.

Da beginnt eine besondere Entwicklung, die später in den Gottesbeweisen eine wichtige Rolle gespielt hat. Anaxagoras erkennt: Man sieht natürlich das Geistige nicht, auch nicht die Seele. Aber man erkennt ihre Wirkungen.

Dafür hatte er auch wieder ein Prinzip. Er sagte: Etwas, was ist, entsteht nicht nur aus anderem, was ist, sondern auch aus Nichtseiendem. Ein Gedanke, zum Beispiel, der ja selbst nicht sichtbar ist, hat trotzdem eine Wirkung. Du hast – in Gedanken - das Ziel, irgendwohin zu gehen, also gehst du dahin. Man sieht zwar den Gedanken oder jenes Ziel nicht, aber man sieht, dass der Mensch dahin geht.

Lesch:

Donnerwetter!

Vossenkuhl:

Ein brandneues Prinzip, das dann später vom griechischen Wort, Telos abgeleitet, als „Teleologie“, also die „Erklärung vom Ziel her“ bezeichnet wurde. Das ist eben nur mit dem Nous möglich.

Es wäre interessant gewesen zu erfahren, was er gedacht oder geschrieben hätte, wenn er Demokrit schon gekannt hätte.

Für Dich ist das ein Rückschritt. Gut, es war ja auch schon früher.

Lesch:

Es hätte ihn sicher inspiriert, wenn er die Atomisten schon gekannt hätte.

Vossenkuhl:

Hat er aber nicht. Empedokles kannte er wohl auch nicht. Aber immerhin … Teleologie, das ist das Neue. Und die Idee ist: Nicht alles, was man nicht sieht, ist wirkungslos. Das, was noch nicht sichtbar ist, kann eine Wirkung haben.

Das ist ein hoch interessanter, neuer Gedanke, dass das Nochnichtseiende eine Wirkung haben kann.

Bei Demokrit gibt es übrigens später ähnliche Gedanken, aber die hatten eine ganz andere theoretische Ausformulierung. Da ist es nicht so, dass man sagen kann: Gedanken, also Dinge, die man nicht sieht, oder seelische Bewegungen, die man nicht äußerlich erkennen kann, haben doch eine Wirkung.

Lesch:

Es ist ganz sicher so, dass sie eine Wirkung haben. Aber haben sie diese Wirkung, weil sie von jemandem gedacht worden sind, oder haben sie die Wirkung, weil jemand über diese Gedanken gesprochen hat?

Es nutzt ja nichts, wenn jemand einen Zweck denkt und diesem Zweck nicht nachgeht und den anderen nicht mitteilt, was er sich unter diesem Zweck jetzt nun vorstellt oder wie er den erreichen will.

Diese Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, die kommen doch erst dann ins Spiel, wenn durch die Kommunikation mit der Außenwelt tatsächlich eine Informationsübertragung passiert ist. Dass dann eine Wirkung auftritt, ist ja quasi geschenkt.

In dem Moment, in dem Du mir sagst: Junge, Du bist aber … ich weiß nicht, was auch immer … dann passiert da natürlich etwas. In dem Moment in dem das Wort ausgesprochen ist, sind natürlich auch die Wirkungen da.

Es zeigt sich heute noch, dass es zwei verschiedene Arten von Denkrichtungen über die Welt gibt.

Die Einen machen Experimente und stellen im Grunde genommen nur fest, was da ist. Die Anderen versuchen darüber hinaus zu erklären, wie das alles miteinander zusammenhängt. Sie müssen immer wieder, ob sie wollen oder nicht, auf irgendeine Art von … meine Güte, heute spricht man dann vom schöpferischen Prinzip und dass der Kosmos evolviert, also sich entwickelt.

Immer dann, wenn wir versuchen, in das Kreuzworträtsel der Wirklichkeit ganze Wörter hinzuschreiben – obwohl wir wissen, dass wir nur einzelne Buchstaben haben – müssen wir extrapolieren. Zu dem, was sich da zeigt, müssen wir irgendwie sagen: OK, dann gehören eben diese drei Stücke dazwischen. Anders geht es nicht. Wir kommen nicht ohne Füllhypothesen aus. Von Wissenschaftlichkeit kann beileibe nicht die Rede sein, wenn heute davon gesprochen wird, dass der Kosmos evolviere.

Das Einzige, was wir im Grunde sagen können ist: Da hat eine Entwicklung stattgefunden. Ich würde den Anaxagoras heute fragen: Hör mal, das mit dem Geist klingt ja prima. Aber wo war der Geist, als es noch nichts gab?

Vossenkuhl:

Du meinst also, bei diesem Kreuzworträtsel kann man leicht die falschen Wörter einsetzen?

Lesch:

Ja, die passen zwar rein, aber unter Umständen sind es halt die falschen.

Vossenkuhl:

Da gibt es eine Geschichte von Emil, dem Schweizer Kabarettisten.

Der machte ein Kreuzworträtsel, in dem nach einem Wort für „Grautier“ mit vier Buchstaben gefragt wurde. Er hatte schon drei Buchstaben; es fehlte ihm ein Buchstabe zwischen denen, die er schon hatte. Natürlich war nicht klar ob er schon die richtigen hatte. So wurde das Grautier bei Emil leider zu einem „Egel“.

So etwas kann natürlich vorkommen, wenn man nicht weiß, wonach man sucht und schon etwas hat, was gar nicht passt.

Aber wenn du die Teleologie, die zielorientierte Erklärung oder die zielorientierte Bewegung zusammen mit dem Spermata-Gedanken nimmst, mit diesem Baustoff- oder Keim-Gedanken, dann passt das doch gut zusammen.

Lesch:

Ja klar. Das ist eine sehr biologische Weltsicht. Wenn sich die Teleologie irgendwo durchgesetzt hat, dann doch sicherlich in der Biologie. Hier wird jeder Organismus im Grunde genommen von seinem Zweck her gedacht. Das ist in der Physik nicht der Fall.

Da haben wir - wie wir noch sehen werden - den Aristoteles mit seiner „causa finalis“, mit der Begründung vom Ziel her. Was ist der Zweck von allem? Das haben wir in den Naturwissenschaften völlig rausgenommen. Bei den anderen sind wir hinreichend zufrieden, da ist alles ganz ordentlich.

Anaxagoras ging es aber offenbar um mehr. Er wollte darüber hinaus schauen und mehr erklären als das, was man sieht. Für ihn musste eben noch ein Prinzip dahinter stehen. Was ich allerdings an der Stelle etwas unbefriedigend finde ist, dass man eben nichts darüber weiß, woher dieses Prinzip kommt. Es ist offenbar kein Gott.

Vossenkuhl:

Noch nicht. Den Gott gibt es dann bei seinem Schüler Diogenes von Apollonia. Da wird der Geist dann zum Gott.

Lesch:

Ach!

Vossenkuhl:

Ja. Das ist das Interessante. Den haben wir ja auch noch zu besprechen. Dieser Diogenes - nicht zu verwechseln mit dem noch jüngeren, damals noch nicht lebenden Sokratiker Diogenes im Fass. Unser jetziger Diogenes stammte aus Apollonia Pontiké am Schwarzen Meer, einem Ort im heutigen Bulgarien. Sein Lehrer Anaxagoras hat ihn nach Athen gebracht.

Dieser Diogenes hat nun den Geist zu einem Gott gemacht. Er hat jenes unwandelbare Prinzip vergöttlicht. Eigentlich eine ganz monotheistische Vorstellung. Sie hatte mit den antiken Göttern Griechenlands direkt gar nichts zu tun.

Lesch:

Ist aber verständlich. Wenn man über das Größte nachdenkt, was sein kann, wenn man über etwas nachdenkt, was hinter den Dingen steckt, was auch noch ein Ziel verfolgt, dann hat man doch eigentlich schon sämtliche Eigenschaften einer Gottheit zusammen. Da fehlt fast nichts mehr.

Vossenkuhl:

Du brauchst eben nur die Allheits-Bedingungen allwissend, allmächtig, allgegenwärtig, dann hast Du schon alles für einen Gott zusammen. Der Keim dafür war schon angelegt. Wenn der Geist das Prinzip der Bewegung, der Ordnung ist, dann steckt das Göttliche da schon drin. Bei Anaxagoras war das aber so, dass der Geist, wenn er bei ihm als Gott zu interpretieren wäre - was nicht klar ist - nicht der Weltschöpfer, sondern nur der Dirigent oder Baumeister der Welt sein könnte.

Lesch:

Dirigent hört sich gut an. Es gab also noch einen Komponisten.

Vossenkuhl:

Den Stoff hat der Gott nicht gemacht. Ich glaube, dass bei Diogenes der Stoff nicht von Gott stammt. Also Gott ist nicht der Schöpfer, sondern eben nur der Baumeister.

Lesch:

Da gibt’s also noch mehr.

Der Stoff ist da. Es wird im Allgemeinen davon ausgegangen, dass die Welt schon ewig da war. Solche Philosophen wie die beiden sind im Grunde genommen in einem Weltbild mit einem echten Anfang gar nicht mehr denkbar. Da ist überhaupt nichts zu holen. Wir haben es hier mit Theoretikern zu tun, für die die Welt schon immer da war.

Wie ist es mit Entwicklungsprozessen? Ich meine mich zu erinnern: Anaxagoras zumindest hat die Unendlichkeit durchaus als eine Denknotwendigkeit festgestellt. Unendlichkeit ist nichts Paradoxes. Das muss so sein und ist anerkannt. Praktisch ist es ein Teil unseres Denkapparates. Hat er aber Entwicklungen zugelassen? Oder war alles schon da?

Vossenkuhl:

Das Unendliche bei Anaxagoras ist nicht so unendlich wie bei Empedokles. Die Entwicklung ist bei Anaxagoras ein ständiges Werden und Vergehen, eine Entwicklung vom Keim zum Ganzen und wieder von einem neuen Keim zu einem neuen Ganzen. Es ist also eine Art von Kreislauf-Entwicklung. Die konnte man immer schon beobachten: Der Keim in der Ähre einer Pflanze bildet eine neue Pflanze, die hat wieder eine Ähre, aus der erneut eine Pflanze entsteht usw. Das ist das Modell. Das Ganze läuft teleologisch. Der Zweck der Pflanze ist es, neuen Samen zu bilden und natürlich die Menschen zu ernähren.

Lesch:

Diesen Philosophien kann man eigentlich keinen Vorwurf machen. Im Grunde genommen ist das die einzige Möglichkeit, die Welt so wie sie zu denken, wenn man nicht die technischen Mittel hat, um die Natur unter kontrollierten Bedingungen genauer zu befragen. Wenn du darauf angewiesen bist, nur mit natürlichen Erscheinungen zu arbeiten und nichts anderes machen kannst als schauen, einfach nur das aufnehmen, was da ist, dann ist doch eine Weltsicht, wie sie der Anaxagoras entwickelt hat, wahrscheinlich das Einzige, was sich anbietet.

Vossenkuhl:

Das hat auch theoretisch eine große Plausibilität. Wir haben ja schon öfters festgestellt, dass bestimmte Erklärungen, z.B. Erklärungen mit Hilfe des Gesetzes der Erhaltung der Substanz, eine Jahrhunderte lange Wirkungsgeschichte hatten. Dasselbe gilt für das Gesetz, dass Ähnliches nur aus Ähnlichem entstehen und Ähnliches nur von Ähnlichem erkannt werden kann.

Bei Anaxagoras haben wir ebenfalls ein interessantes Grundmodell, das sich über Jahrhunderte gehalten hat: Der Geist ist das Schaffende, das Aktive und die Materie das Passive.

Das führt uns bis zu Kants Unterscheidung zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Die Sinnlichkeit ist dabei das Passive, das, was uns über die Sinne zufließt, während der Verstand, der Geist, das Aktive ist, das aus uns selbst kommt. Das sind Beispiele für Grundanschauungen, die sich Jahrhunderte lang gehalten haben und plausibel erschienen.

Lesch:

Zumal die Natur auch schon da ist. Wenn wir heute über einen Entwicklungsgedanken reden - ob es nun der Kosmos oder die Entwicklung des Lebens auf der Erde ist - dann reden wir doch im Grunde genommen wie der Affe von der Seife.

Wir haben nicht mitgekriegt, wie der Kosmos oder das Leben entstanden sind. Aber wir versuchen, uns das mit Puzzle-Steinchen zusammenzubauen. Dadurch, dass es gelungen ist, Experimente über Zustände zu machen, die weit weg von allem Menschlichen sind, haben wir gewisse Informationen, die man aber nur dann kriegt, wenn man die Natur, wie Werner Heisenberg einmal gesagt hat, „erpresst“. Wenn man so harte Fragen an sie stellt, dass sie nur eine bestimmte Art von Antworten geben kann.

Bei Naturbeobachtungen ist das ja etwas völlig anderes. Vor allen Dingen dann, wenn du praktisch nur das beobachtest, was zu dir passt. Was passt zu uns Menschen? Die Dinge, die im Meta-Bereich sind, die sich nicht zu schnell abspielen.

Ich glaube, die Griechen würden sich kaputt lachen, wenn sie mitkriegen würden, dass wir inzwischen in der Lage sind, eine Sekunde auf 15 Stellen hinter dem Komma genau zu messen. Die hatten keine Uhren damals. Sie haben rhythmisch gelebt. Die Sonne ist untergegangen, es wurde dunkel. Da hatte man noch die Fackeln. Im Wesentlichen hat man sich an die Jahreszeiten gehalten.

Diese Einteilung in Takt, in Maschinen, alles das, was eine normierte Uhr ausmacht, das kannten die ja nicht. Insofern ist eine organische Weltsicht eigentlich das Normalste für Menschen, für die die Natur vorgegeben ist. Die sehen zwar gewisse Entwicklungsprozesse, erkennen aber nicht, was dahinter steckt. Abgesehen davon, dass sie sagen: Das ist ein Wunder!

Vossenkuhl:

Darauf trinken wir jetzt mal ein kleines Schlückchen: Aufs Organische und die „veritas“.

Lesch:

Zum Wohlsein. Ein guter Roter erweckt sofort das Weinhafte in mir.

Vossenkuhl:

Auch unseren gewogenen Lesern sei eine kleine Denk- und Trinkpause empfohlen. Salute!

Lesch:

Jetzt noch einmal zu Diogenes von Apollonia. Da muss ich wirklich aufpassen. Ich hätte beinahe gedacht, dass das tatsächlich der Mann in der Tonne ist, der dann später zu Alexander dem Großen sagt: „Geh mir aus der Sonne.“

Unser Diogenes von Apollonia hat aus dem Geist eine Gottheit gemacht. Das muss dann ja jemand gewesen sein, der später von den Kirchenvätern hoch geschätzt worden ist, oder?

Vossenkuhl:

So war es auch. Es gibt augenfällige Parallelen zwischen dem, was der Diogenes schrieb oder das, was von ihm berichtet wurde und dem, was zum Beispiel im „Römerbrief“ über Gott steht. Das ist verblüffend. Man darf das aber nicht nur im Hinblick auf das Christentum erstaunlich finden. Ähnliche Stellen gibt es schon im „Alten Testament“. Es hat da wohl nicht eine Art Einbahn-Entwicklung gegeben.

Genau lässt sich nicht festmachen, wie diese göttlichen, diese theologischen Gedanken dann zu den Christen kamen, ob die wirklich aus dieser Quelle stammten. Aber immerhin kann festgehalten werden, dass dieser Diogenes über das göttliche Prinzip Dinge sagte, die sich im Christentum später wiederfinden.

Lesch:

Eine klare Hinwendung zum Monotheismus. Diogenes hat tatsächlich seine ganze griechische Götterfamilie, die so gut im Tagesgeschäft war, komplett weggelassen?

Vossenkuhl:

Ja. Er hat sich in Athen ebenso unbeliebt gemacht wie Anaxagoras und ist wohl auch mit ihm aus Athen abgehauen. Diogenes stand wegen Gotteslästerung auf der schwarzen Liste. Er hat sich seine Freiheit, die wie für seinen Lehrer Anaxagoras mit dem Geist verbunden war, erhalten wollen.

Lesch:

Die Freiheit des wissenschaftlichen Tuns. Sich der Wissenschaft zuzuwenden und daraus Freiheit zu gewinnen, das ist schon eine ganz tolle Angelegenheit. Dass sich aus dem, was theoretisch oder experimentell über die Welt erfahrbar ist, ein freierer Blick und möglicherweise eine Erkenntnis über Alternativen gewinnen lässt. Das finde ich schon sehr beeindruckend.

Vossenkuhl:

Die Freiheit bezog sich natürlich nicht nur auf das, was man denkt. Diese Freiheit bezog sich auch auf die Unabhängigkeit vom Stofflichen, vom Materiellen. Also die Möglichkeit, über die Zwänge des Körpers und der Gesellschaft hinaus zu denken und Abstand zu gewinnen von den Nöten des Alltags.

Diese Freiheit war wesentlich größer und wichtiger als die, um von Athen aus zu den Dardanellen oder auf irgendeine Insel zu flüchten. Der Geist als Ort, an dem man nicht mehr verfolgt wurde, diese geistige Freiheit war wohl das eigentliche Ziel unseres griechischen Denkers.

Die Großen Denker

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