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Über Philosophie:

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Vossenkuhl:

Wenn wir an die Geschichte Europas oder der Welt denken, dann fallen uns sofort große Politiker und Schlachten ein. Diese Gedanken oder Erinnerungen sind meistens von zwiespältigen Gefühlen begleitet.

Wir vergessen dabei allzu leicht, dass die Geschichte, vor allem die europäische Geschichte, von Männern gestaltet wurde, die nicht geherrscht oder das Schwert geschwungen haben. Sie benutzten einfach nur ihren Kopf. Denker, Philosophen, Wissenschaftler, Physiker oder Theologen. Überlegen wir doch einmal, was diese Menschen uns in den letzten zweieinhalbtausend Jahren zu sagen hatten.

Einen überaus kompetenten Gesprächspartner habe ich in meinem Freund Harald Lesch gefunden – ein gestandener Naturwissenschaftler, genauer Astrophysiker und bekennender Philosoph. Er ist dies alles auf einmal, ein richtiger Naturphilosoph eben.

Lesch:

Ohne Philosophie ist alles nichts. Ich kann nicht ohne sie, Willi, Du weißt es doch. Auch die Physik ist nichts ohne Philosophie. Sie ist eigentlich erst einmal nur eine Ansammlung von Informationen. Die kann ich bewerten. Irgendwann frage ich mich dann: Was mache ich hier eigentlich, was beschreibe ich denn eigentlich?

Du hast mich als Naturwissenschaftler bezeichnet. Ich bin Wissenschaftler und ich beschäftige mich mit der Natur. Wenn Du mich aber fragen würdest, was Natur ist, dann würde ich sagen, dass Du das doch als Philosoph eigentlich viel besser wissen müsstest. Ohne Philosophie kann man nach meinem Dafürhalten keine Physik betreiben, denn Physik ist ein Ergebnis von philosophischer Forschung. Sie war lange Zeit experimentelle Philosophie.

Aber schnell noch dazwischen eine kurze Klärung. Es gibt ja vielerlei Definitionen von Philosophen und was Philosophie ist. So sagt z. B. der berühmte italienische Autor, der „Don Camillo & Peppone“ geschaffen hat, Giovanni Guareschi: Die Philosophen sind wie Zahnärzte, die Löcher bohren, diese aber dann nicht füllen können. Ich meine: Bohrt ihr Philosophen tatsächlich Löcher, um sie dann nicht zu füllen? Geht das so?

Vossenkuhl:

Das ist eine ziemlich zutreffende Beschreibung.

Lesch:

Wirklich? Also, dann liegt der Nerv ja frei?

Vossenkuhl:

Der Nerv liegt frei.

Nehmen wir uns doch gleich einmal einen vor, der genau das gemacht hat. Ich weiß nicht, ob Guareschi an ihn gedacht hat - aber Sokrates hat das gemacht. Der hat Leute einfach auf dem Marktplatz angesprochen. Meistens Politiker, aber auch einfache Leute. Er ist ihnen mit seiner Fragerei so nachhaltig auf die Nerven gegangen, dass sie wirklich dieses Gefühl hatten: Er hat was aufgedeckt, was angebohrt, aber er hat’s nicht gefüllt. Seinen Schülern hat er natürlich schon eine Füllung angeboten.

Bei der Art zu fragen, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, sind oft die Löcher einfach offen geblieben. Besonders dann, wenn z.B. die Dialoge, die Platon aufgeschrieben hat, in einer Aporie, also in einem Widerspruch endeten. Weil es einfach keine Lösung gab.

Lesch:

Die hörten einfach auf?

Der kannte kein Happyend oder wollte es auch nicht haben?

Vossenkuhl:

Kein Happyend, nein.

Lesch:

Es gab auch keine Moral von der Geschicht’?

Vossenkuhl:

Nein. Ich glaube, das eigentliche Thema war: Wie geht man überhaupt mit solchen Problemen um?

Dialogisch. Das geht hin und her. Man macht Vorschläge, die wieder zurückgewiesen werden, und am Schluss ist man vielleicht nicht wirklich klüger als zuvor, das wäre also dieses offene Loch. Aber man hat eine Sensibilität für das Problem und weiß wenigstens, was man nicht weiß.

Lesch:

Wir fangen jetzt gleich mit zwei Großtätern der Philosophie an. Damit stehen wir am Anfang des europäischen Denkens.

Deine Einleitung fand ich wunderschön, denn ich glaube, dass wir Europäer es dringend nötig haben, auf unsere Geschichte zurückzuschauen und zu sagen: Hey, das ist ja wirklich gut, was wir da haben.

Vossenkuhl:

Volle Zustimmung.

Lesch:

Die Philosophie ist heutzutage nicht unbedingt mehr in aller Munde. Stell Dir mal vor, Du würdest heute, wie Sokrates damals, auf den Marktplatz gehen und würdest die Leute fragen: Was machen Sie hier eigentlich? Wieso sind Sie so geldgierig oder warum machen Sie so einen gehetzten Eindruck? Seien Sie doch froh, dass Sie leben! Was würden die denn mit Dir machen?

Vossenkuhl:

Die würden mich wahrscheinlich für verrückt halten. Philosophen wurden seit den Anfängen ausgelacht. Es war sogar durchaus so, dass man sich bewusst lächerlich machen musste, um einigermaßen anerkannt zu sein als Philosoph.

Die Lächerlichkeit kommt daher, dass man sich nicht einfach mit dem zufrieden gibt, was z.B. in der Öffentlichkeit Geld bringt, was Ansehen bringt. Was also gewissermaßen normal und bekannt ist. Sondern man geht raus, exponiert sich und stellt mit Fragen alles infrage. Man ist in gewisser Weise nicht normal, also verrückt.

So war auch der mit der Tonne, der Diogenes. Über den großen Aristoteles hat sogar seine eigene Magd gelacht. Da gibt’s bis ins Mittelalter schöne Darstellungen, wie die Magd den Aristoteles auslacht. In einer Darstellung – zu sehen im Freiburger Augustinermuseum – reitet sie sogar auf seinem Rücken und schwingt eine Peitsche, ganz schön frivol. Selbst in den Zeiten, in denen die Philosophen gefragt waren, wurden sie belächelt, weil die meisten Menschen bis heute keinen so großen Sinn dafür haben, das Gewohnte zu hinterfragen, es schräg ins Leben zu stellen. Sie wollen einfach ihren bekannten Stiefel weiter machen. Sie wollen Erfolg haben. Stelle Dir vor, Du als Physiker würdest danach fragen: Was heißt eigentlich Natur? Was würden dann Deine Kollegen sagen?

Lesch:

Mach erst mal was, und dann kannst du immer noch fragen.

Vossenkuhl:

Genau das.

Lesch:

Du hast das Wort „schräg“ benutzt. In der Physik würde man vielleicht sagen, da macht jemand was Orthogonales, der geht einfach senkrecht zum Mainstream. Das scheint mir eine ganz klassische Eigenschaft der antiken Denker gewesen zu sein. Sie sind ihren Mitmenschen mit der Fragerei auf die Nerven gegangen. Aber auch ihre Lebensentwürfe waren sehr unterschiedlich.

Vossenkuhl:

Sie haben auch versucht, für die Probleme der damaligen Zeit eine Antwort zu geben. Die Spätantike war ja voller Irritationen. Eigentlich gibt es kaum eine Zeit, ohne große Irritationen. Die Spätantike war aber noch dazu die Endzeit einer großen Epoche.

Was haben die Philosophen gemacht? Sie versuchten rauszukriegen: Was macht Menschen eigentlich glücklich, wie können sie glücklich leben? Interessanterweise fanden sie heraus: Der Mensch kann eigentlich nur glücklich leben, wenn er möglichst wenig will. Also …

Lesch:

… leichtes Gepäck.

Vossenkuhl:

Es ist ein bisschen so wie, wenn man nicht einschlafen kann. Was macht der Mensch dann? Er versucht, sich zu entspannen. Das führt dazu, dass er gerade nicht einschlafen kann. Das ist exakt das Grundproblem, wenn jemand partout glücklich sein will. Also muss man sich mit seinem zwanghaften Wollen zurücknehmen. Für viele Menschen war das ein wertvoller Hinweis, um ihr Leben neu und besser zu gestalten.

Lesch:

Was ist denn so typisch daran gewesen, dass man heutzutage im Allgemeinen, wenn man von Philosophie spricht, den Beginn in Griechenland annimmt. Es wird gesagt, der erste Philosoph sei Thales (624-546 v.Chr.) gewesen, weil er eine Sonnenfinsternis richtig vorher sagte und die Welt durch ein Prinzip erklären wollte.

Wieso glaubst Du, hat so was in Europa einen völlig anderen Verlauf genommen als z. B. in Indien und in China, wo es ja auch große Denker gegeben hat? Der Sokrates hat seine Fragetechnik schon als „Hebammenkunst“ bezeichnet. Stimmt. Immer wenn die Philosophie Fragen aus der Taufe hebt, fängt sie an, praktisch ganze Wissenschaften zu begründen und damit ins Leben zu setzen.

Die Physik ist ja ein typischer Fall. Auch viele andere Wissenschaften kommen aus der Philosophie. Jedes Mal, wenn die Philosophie dann wieder ein neues Kind auf die Welt gebracht hat, dann zeigen ausgerechnet diejenigen, die gerade frisch auf die Schiene gesetzt wurden, mit dem Finger darauf und sagen pikiert: Was ist denn das für eine Wissenschaft? Die brauchen wir doch gar nicht mehr.

Was glaubst Du, wieso ist das am Anfang so gelaufen?

Vossenkuhl:

Wahrscheinlich gab es da viele Einflüsse, die zusammen kamen. Es existierte schon eine „Schule“, die wohl stark von religiösen Vorstellungen, die in Ägypten beheimatet waren, beeinflusst war, die Pythagoräer. Pythagoras (570-496 v.Chr.) hat ja einen Großteil seines Lebens gar nicht in Athen oder im alten Griechenland verbracht, sondern in Neu-Griechenland, im heutigen Süditalien, in Kroton und Tarent. Da ging es um die Frage: Was ist eigentlich das Wissen, das die Wirklichkeit im Inneren zusammenhält? Das war sehr nahe an dem geheimen Wissen, das Priester für sich beanspruchten mit ihrer Beherrschung der Symbole, mit den religiösen Riten, den Weisheiten und Offenbarungen, über die sie herrschten. Das waren die Wurzeln für so allgemeine Fragen: Wie ist eigentlich die Welt insgesamt zu verstehen, und wer darf das wissen?

Die Schrift hat diese Frage ganz stark verändert. Zunächst mal gab es gar keine Verschriftlichung, es gab nur die Sprache.

Lesch:

Mund-zu-Mund-Propaganda also.

Vossenkuhl:

Ja. Es gab viele Strömungen, die Religion war eine davon. Die Entwicklung der Schrift war ein wesentlicher Anschub. Ohne sie hätten wir ja keine nachvollziehbare Tradition über längere Zeitspannen. Wir wüssten ja gar nicht, was da früher passiert ist. Möglicherweise gab es in anderen Kulturen, etwa in Indien oder im Vorderen Orient, ähnliche Fragestellungen. Nur wissen wir nichts mehr davon. Es ist nicht überliefert worden.

Lesch:

Was allerdings überliefert worden ist, scheint sich aber deutlich von dem zu unterscheiden, was die ersten griechischen Denker, die Vorsokratiker in die Welt gesetzt haben. Da wurde davon gesprochen, das Wasser sei das Element, aus dem sich alles entwickelt. Der berühmte Heraklit meinte: „panta rei“, wie es so schön heißt, „alles fließt“. Wieder ein anderer meinte, es wäre wohl die Luft, ein dritter meinte, es wäre das Feuer.

Die haben damals etwas gemacht, was zumindest für uns Naturwissenschaftler heute noch Programm ist. Sie haben gesucht. Sie wollten wissen, was die Welt zusammenhält, was das Innerste ist, wie es im Faust so schön heißt. Ich finde es erstaunlich, dass dieser Funke in einem Teil der Welt gezündet hat, der sich nicht besonders durch eine Hochkultur auszeichnete. Wie die alten Ägypter am fruchtbaren Nil. Ich bin fest davon überzeugt: Philosophie zu betreiben mit Zahnschmerzen oder mit einem hungrigen Bauch ist etwas ganz anderes als Philosophie in einigermaßen geregelten Verhältnissen.

Vossenkuhl:

In Athen wurde das Geschäft der Philosophie von freien Bürgern betrieben. Vorrangig von Männern. Und die waren alle wohlhabend und hatten Zeit. Muße. Die haben Politik gemacht oder sie haben eben philosophiert. Sie haben teilgenommen an Gesprächen. Das gehörte mit dazu.

Es gab zunächst einen religiösen Hintergrund. Die grobe Einteilung ist: Erst kamen die Mythen und dann die Philosophie. Ob das stimmt, kann ich nicht genau sagen. Mythen waren jedenfalls eine Form der Welterklärung. Und die Philosophie auch. Also wird wohl das eine mit dem anderen ursprünglich verkoppelt gewesen sein.

Die Menschen brauchten Freiheit, also Freizügigkeit, sie mussten Zeit und Muße haben. Dazu dienten die Sklaven. Man zuckt vielleicht heute ein bisschen zusammen, wenn man hört, dass die frühesten Philosophen in Athen eigentlich nur philosophieren konnten, weil es Sklaven gab. Das ist uns nicht mehr so ganz geheuer. Aber Muße, diese Freiheit, diese Ungebundenheit, das ist schon ein wesentlicher Faktor. Man brauchte einen Freiraum der Gedanken. Es gab keine Autoritäten, die bestimmt hätten, was man als freier Bürger denken oder nicht denken darf. Gut, bei Sokrates griffen dann doch Autoritäten ein, die bestimmten, Junge, das kannst du öffentlich so nicht sagen …

Lesch:

… der musste dann den Schierlingsbecher trinken.

Vossenkuhl:

Sie hatten ihm aber die Chance gegeben, zu fliehen.

Aber er wollte nicht. Weil er der Meinung war, auf diese Art und Weise erlangt er endlich die Freiheit, von seinem Dasein, seinem Körper, dem Ärger des Tages, der Gicht oder was immer ihn geplagt hat. Er wollte eigentlich nicht abhauen. Ich glaube, er wollte auch der Willkür des Gesetzes trotzen. Er wollte mutig sein und zu dem stehen, was er gelehrt hatte.

Lesch:

Nach meinem Dafürhalten spielte sich da etwas ganz Bahnbrechendes ab. Du hast eben gesagt: Es gab Mythen, Religionen und parallel dazu die Philosophie. Da hat einer den Mut, sich auf seinen Verstand so verlassen zu wollen, dass er der Meinung ist, man könne tatsächlich was von der Welt verstehen, man könne etwas erklären, etwas erkennen. Das Ganze ohne Zutun von Göttern und Priestern, die einem im Grunde genommen ja sagen: Passt alle mal auf. Wenn ihr daran glaubt, dann wird das alles schon gut werden.

Also richtig hineinzugehen in die Welt. Jetzt gehen einige wenige direkt hinein. Ich will noch nicht sagen ganz selbstbewusst, aber sie wagen durchaus einen Schritt nach vorne.

Wenn ich daran denke, der Odysseus, der ist 20 Jahre lang durch den Mittelmeerraum geschippert und hat sich mit allen möglichen Willfährnissen auseinandersetzen müssen …

Vossenkuhl:

Er hat aber auch ganz schöne Sachen erlebt.

Lesch:

Wunderschöne Frauen. Eigentlich alles prima. Aber er war immer derjenige, der trotz göttlicher Hilfe - die Athene stand ihm ja immer zur Seite – praktisch das Ruder in der Hand behielt. Es kam auf ihn an. Das ist für mich so ein Punkt, wo ich denke, Europa ist in dem Moment erwacht, wo Menschen angefangen haben, nicht hinter jedem Baum und Strauch einen Gott oder einen Kobold zu vermuten. Sie sagten sich vielmehr: O.k. Freunde, wenn wir hier was werden wollen, dann müssen wir was tun.

Vossenkuhl:

So ist es. Das ist eine schöne Brücke zu einer der Hauptideen, die die Philosophie in der Antike propagiert hat: die Erziehung. Die Erziehung des Menschen. Ähnlich wie wir heute in Schulen und Universitäten junge Menschen erziehen, ihnen Wissen vermitteln, hat man damals gemeint, wenn man dem Nachwuchs philosophisches Wissen vermittelt, dann befähigt man ihn dazu, ein gutes Leben zu führen oder auch den Staat gut zu lenken.

Aristoteles war der Lehrer von Alexander dem Großen. Der Vater von Alexander hätte ihn wohl nie als Hauslehrer angestellt, wenn er nicht gedacht hätte: Das ist der Beste, den ich finden kann. Übrigens, gut honoriert – das, was man sich ja heutzutage auch als Philosoph so wünscht.

Lesch:

Sind die Zeiten denn so schlecht?

Vossenkuhl:

Nein, nein – ich bin´s zufrieden.

Lesch:

Dann ist es ja gut.

Es bleibt auch gar nichts anderes übrig. Wie Aristoteles ja mal auf die Frage, ob man philosophieren muss oder nicht, gesagt hat: Philosophieren muss man. Es bleibt gar nichts anderes übrig.

Vossenkuhl:

Selbst wenn man zu dem Schluss käme, dass man das nicht muss, tut man’s schon.

Lesch:

Genau. Schon in dem Moment, in dem man sich fragt, ob man das muss, oder wenn man über die Philosophen spottet, philosophiert man ja schon selbst. Man kommt da gar nicht raus. Das finde ich so irre. Bei Religionen gibt es etwas Trennendes. Da ist alles eine Glaubens- oder Überzeugungssache.

Für mich ist Philosophie so wunderbar, weil sie den Zweifel schon fast zum Prinzip erhebt. Und Zweifel verbinden. Wenn Leute an einem Tisch sitzen und zweifeln, das ist gut. Man muss ja nicht an allem zweifeln. Aber die Zweifel haben etwas unglaublich Beruhigendes und Pazifistisches.

Vossenkuhl:

Natürlich sind für uns jetzt die großen Denker und Geister das Hauptthema. Aber noch mal: Philosophieren, das tut fast jeder.

Man redet gerne etwas despektierlich über den Stammtisch. Aber die Leute dort machen eigentlich genau das, was Philosophie sein kann. Nur nicht ganz so gut, wie sie es vielleicht eigentlich vermögen. Sie versuchen, sich einen Reim zu machen, etwas zu erklären, sich ein Bild zu machen, eine Erklärung zu geben für das, was so passiert oder schon passiert ist. Für sie ist ihre Erklärung oder Meinung zunächst einmal die richtige. Das ist das gleiche Prinzip, wie wenn man – mit sehr viel Hintergrund und Informationen natürlich – philosophiert.

Also Philosophie ist nicht weltabgewandt oder wirklichkeitsfremd. Im Gegenteil. Sie steht mitten im Leben, und deckt die Fragen auf, um die es geht und – wie Du gesagt hast – sie bohrt Löcher. Nicht immer kann sie sie füllen, manchmal schon.

Lesch:

Und sie beschäftigt sich mit Fragen, die - zumindest nach meiner Einschätzung - zu den eindringlichsten gehören, die wir stellen können. Also Fragen, die uns so richtig auf den Solarplexus treffen. Was mache ich hier? Was ist der Sinn des Lebens? Was mache ich hier angesichts der Tatsache, dass ich weiß, dass ich sterben muss?

Es gibt ja so die Vorstellung, dass Philosophen sich aus lauter Todesangst in die Vernunft gerettet haben. Da ist noch etwas, das Ewige, die Wahrheit. Wenn es schon sicher ist, dass es irgendwann zu Ende geht, dann will man wenigstens irgendwo mal in Berührung kommen mit dem, was als das Ewige gilt. Das muss dann wohl die Wahrheit sein. Das muss das Gute, das Schöne und das Wahre sein. Das halte ich für eine der ganz wichtigen Ideen, die europäische Denker in die Welt gesetzt haben.

Vossenkuhl:

Die Glückssuche, die Suche nach Wahrheit, nach dem Höchsten – das hat alles die gleiche Tendenz. Man will sich nicht mit dem Hier und Jetzt zufrieden geben. Will nicht einfach so vor sich hin leben. Man gibt sich nicht mit den Dingen zufrieden, die einfach kaputt gehen können, so wie ein Weinglas oder der Wein selbst. Man will zur Sache kommen, zur Wirklichkeit.

Lesch:

Was mich sehr beeindruckt ist, dass es über diese Unmittelbarkeit hinausgeht. Es geht jetzt nicht mehr nur darum, das zu machen, was man sowieso schon tut. Das Neue ist, dass ein Gedanke auftauchen kann wie: Gibt es etwas hinter der Dingen, das unveränderlich ist?

Um die Menschen herum passiert alles Mögliche: Leute kommen und gehen, Kinder kommen auf die Welt, es wird gestorben, Bäume wachsen und werden gefällt. Eine pausenlose Verwandlung.

Dann wird plötzlich praktisch gegen die eigene Anschauung gedacht. Da wird gegen den Berg angerannt. Wenn sich alles verändert, dann muss doch irgendwo hinter den Dingen etwas sein, was unveränderlich ist. Das ist doch eine irre Geschichte.

Vossenkuhl:

Ja, ja. Ich glaube aber, dass Du als Physiker so was eher noch in Händen halten kannst als wir als Philosophen. In der Philosophie hat man genau diese Überzeugung jahrhundertelang gepflegt. Es gibt Substanzen, es gibt Unveränderliches. Wir können sie zwar nicht direkt greifen, aber wir können sie erkennen, ja, wir können dahinter steigen. Wir kriegen sie nicht zu fassen, aber wir wissen davon. Wir können sie wenigstens logisch begreifen.

Die Substantialität der Dinge ist ins Schlingern geraten. Was ist z. B. eine „Person“? Ist in unserem Menschsein etwas drin, etwas ganz Stabiles, Hartes, Unveränderliches? Oder nicht?

Wenn Du als Physiker gefragt wirst: Was ist denn in der Natur das Stabilste, was würdest Du da sagen?

Lesch:

Elektron, ganz klar. Elektron. Ich vermute, dass auch die Quarks stabil sind. Wir sind nahe dran und guter Dinge.

Vossenkuhl:

Bestimmte Gesetzmäßigkeiten?

Lesch:

Es gibt natürlich Gesetze, die überall und jederzeit im Universum gelten. Die Naturkonstanten. Ich habe Legionen von Kolleginnen und Kollegen, die mit mir an diesem Projekt arbeiten. Dabei gilt das Verfahren: Idee, Theorie, testen. Idee, Theorie, testen. Test positiv – Theorie weiterverfolgen. Test negativ – Theorie wegschmeißen. Da sind wir fein raus.

Vossenkuhl:

Ihr seid eigentlich heute die Substanzvertreter. Ihr habt, ohne dass ihr das so nennt, eigentlich mit diesen Überzeugungen die Philosophie beerbt.

Aber eigentlich bis Du ja ein Naturphilosoph.

Lesch:

Ich bemühe mich. Ich bemühe mich hinreichend.

Vossenkuhl:

Wenn Du aber Naturphilosoph bist, bohrst Du ja wohl auch Löcher. Kommt da wieder was rein?

Lesch:

Sicher kommt da was rein. Vor allen Dingen kommt aber was wieder. Es kommt also!

Bei dem, womit ich mich beschäftige, geht es darum: Wie wäre die Welt, wenn die Theorien, die wir uns über sie ausdenken, wahr wären? Das ist genau das, was Physik macht. Wir haben Theorien, wir testen sie und stellen fest: Mensch, diese Theorien, wenn sie falsch sind, müssen verdammt gut falsch sein. Wir können ja nur falsifizieren, rein gar nichts verifizieren. Und dann bleiben immer Reste übrig, die wir naturwissenschaftlich nicht mehr fassen können.

Also, wie interpretieren wir solche Sachen? Und da sind wir in der Naturphilosophie auf dem besten Wege wieder von der Philosophie getrennt zu werden und systematisch mehr in die Physik rein zu gehen. Weil es für viele Fragen, die früher rein philosophische Fragen waren – wie ist die Welt entstanden? - heute Experimente oder zumindestens Beobachtungen gibt, die es uns erlauben, eine Aussage darüber zu machen, wie das Universum als Ganzes entstanden ist. Vor 2.000 Jahren konnten unsere Altvorderen davon nicht einmal träumen.

Vossenkuhl:

Wahnsinn.

Lesch:

Ist doch irre.

Vossenkuhl:

Ich wollte noch mal auf den Anfang zurückkommen.

Große Denker, Geister. Es ist doch erstaunlich und grenzt schon ans Wunderbare, dass mit bloßem Denken das Leben bewegt wird. Dinge bewegt werden. Vielleicht ist es das Wunder des Denkens, dass man mit bloßen Gedanken Gutes und Schlechtes bewirken kann. Das letzte große Beispiel, das leider nicht so gut war, ist Karl Marx. Da setzt sich einer hin, schreibt „Das Kapital“, macht Politik und was entsteht daraus? Oder geh` zurück: Platon wollte in Syrakus Politik machen. Dreimal ist er angereist und es ist trotzdem schief gegangen.

Was haben eigentlich diese Denker bewirkt?

Lesch:

Mit der Philosophie ist es nicht so wie mit einer Handgranate. Man zieht nicht einfach den Ring raus, wirft und dann macht’s bumm. Es scheint eher so etwas zu sein, was wie ein ganz langsam sich verbreitender Virus wirkt. Da taucht eine Idee auf, und wenn die einmal in der Welt ist, dann kann man nicht mehr hinter sie zurück. Man kann zwar Versuche unternehmen, die Idee einzusperren oder zu unterdrücken, aber das scheint ein bisschen so zu sein wie bei diesem lustigen Gag-Geschenk, einen kleinen Kasten, in dem man eine widerspenstige Feder solange bändigt und zusammen presst, bis sie dann plötzlich mit voller Wucht herausschießt.

Da scheint mir die Philosophie eine ganz interessante Eigenschaft zu haben. Wenn einmal der richtige Gedanke zur richtigen Zeit gedacht wird, dann scheint die Welt zu sagen: Oh, darauf habe ich ja nur gewartet. Da gibt es schnell Leute, die sagen: Mensch, wieso bin ich eigentlich nicht selbst auf den Gedanken gekommen? Wenn das passiert, dann geht es schnell.

Vossenkuhl:

Manchmal geht es geradezu explosionsartig. Dann aber ist es auch wieder so, dass es schlummert, lange, lange schlummert. Da hat z.B. Immanuel Kant mit seiner „Kritik der reinen Vernunft“ 1781 …

Lesch:

Die hat doch kaum jemand gelesen, das ist so … puh!

Vossenkuhl:

Das war erst nur so ein Fürzchen, das verpuffte. Aber Jahre später war es der Hammer.

Lesch:

Ich finde es einfach irrsinnig gut, was manche Menschen am Schreibtisch in ihrem stillen Kämmerchen und damit letztlich ganz alleine für Erfahrungen machen und auf welche Ideen die da kommen. Da werden irgendwelche Kabel angeschlossen, da passieren Manipulationen, da werden Idealisierungen vorgenommen.

Wenn wir in der Physik Experimente machen, dann versuchen wir ja uns als Subjekte so weit wie möglich zurückzunehmen. Wir entmenschlichen das soweit es nur irgendwie geht. Es gibt aber gleichzeitig Menschen, die sich als Subjekt benutzen, um so ein geistiges Experiment an sich selbst durchzuführen. Das finde ich ungeheuerlich. Dass das so verstärkt in den letzten zweieinhalbtausend Jahren aufgetreten ist!

Vossenkuhl:

Es sind alles machtlose Menschen gewesen, die nicht wie ein Bundeskanzler oder ein Präsident irgendwelche Machtmittel in der Hand hatten. Aber ihre Gedanken entfalteten eine unglaubliche Wirkkraft. Das ist doch das Tolle.

Lesch:

Das muss uns natürlich beschäftigen. Vielleicht gelingt es uns sogar hier und da herauszufinden, unter welchen Bedingungen eigentlich Philosophie wirklich durchgreift. Manchmal steht die Situation so auf der Kippe, dass es dann besonders stark wirkt, oder am Ende kommt gar nichts dabei raus.

Immer dann, wenn Gesellschaften in Krisen geraten, dann werden die „Zahnschmerzen“, der Existenzdruck sehr groß. Dann haben die Menschen gar keine Zeit und gar keine Möglichkeit, Philosophie zu betreiben. Dann gibt es Zeiten, in denen Lebensberater in Buchform „Wie werde ich glücklich?“, „Wie finde ich mein Glück?“, „Wegweiser zum glücklichen Leben“ – überhand nehmen. Immer dann, wenn ein Werteverfall beklagt wird, dann heißt es auf einmal: Wo sind denn unsere Philosophen? Wir hatten doch neulich mal welche, die haben doch irgendwann mal … haben die nicht mal irgendetwas Sinnstiftendes von sich gegeben?

Vossenkuhl:

Jetzt sind die irgendwie abgetaucht.

Lesch:

Wo sind denn diese Philosophen?

Vossenkuhl:

Kaum wird’s ernst, tauchen sie ab.

Lesch:

Holt mal die Philosophen raus! Wir haben ein paar Probleme. Wir haben Werte-Probleme.

Vossenkuhl:

Genau. Die müssen die Werte wieder aufbauen. So wie Sandburgen.

Lesch:

Und dann kommt eine Welle: Wusch.

Vossenkuhl:

Dann ist die Werte-Sandburg wieder weg.

Lesch:

Das Thema packen wir mit unserem Dialog über die Denker des Abendlandes einmal von Grund auf an. Wir gehen einmal querab durch die europäische Philosophie. Ja. Einmal quer durch. Ich werde mich bemühen, etwas von den Wissenschaften zu erzählen, die ja alle einmal aus der Philosophie gekommen sind. Und Du, lieber Wilhelm musst aber auch bei nächster Gelegenheit einmal erklären, wieso sich die Philosophie eigentlich so verändert hat. Denn heute sind die Philosophen nicht mehr so berühmt wie früher. Nehmen wir Sokrates oder Aristoteles, oder Nikolaus von Kues. Der ist sogar ein großer Kirchenfürst gewesen.

Vossenkuhl:

Die meisten der Vordenker waren in ihrer Zeit auch keine Prominenten.

Lesch:

Waren die nicht so berühmt wie heute?

Vossenkuhl:

Nein, ganz und gar nicht.

Lesch:

Erst immer im Nachhinein?

Vossenkuhl:

Ich bin sicher, wenn Du damals in Syrakus jemanden auf der Strasse gefragt hättest: Kennen Sie den Herrn Platon? Dann wäre wohl die Antwort gewesen: Platon? Platon? Wer beim Zeus ist dieser Platon?

Die Großen Denker

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