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Kapitel 8

Gloria September

Gloria hatte dem schwarzen Volvo nachgewunken bis er hinter der Straßenbiegung verschwunden war. Undeutlich war Eberhards Hand zu erkennen, die aus dem Seitenfenster hing und sich auf und ab bewegte. Sollte das ein Winken sein? Natürlich war er gekränkt, weil sie es abgelehnt hatte, ihn nach Berlin zu begleiten. Aber warum sollte sie sich zu etwas zwingen? Aus dem Alter war sie nun wirklich heraus. Außerdem würde Merle sowieso bald kommen.

Der Regen hatte nachgelassen, im Westen war es schon deutlich heller, die Vögel erfüllten den Morgen mit lautem Gezwitscher und die Luft roch würzig nach überreifem Obst und feuchter Erde. Gloria betätigte einen Schalter neben der Haustür und das schmiedeeiserne Tor glitt geräuschlos vor die Einfahrt. Dann schloss sie auch die Garage und ging wieder hinein.

Sie liebte Eberhard immer noch. Seit sie ihn kannte, seit fast fünfzig Jahren, hatte sie nur ihn haben wollen. Sie waren immer ein gutes Team gewesen. Auch in erotischer Hinsicht. Wenn ihre Freundinnen gefragt hatten, wie sie es so lange mit einem einzigen Mann aushalten könnte, hatte sie nur mit den Achseln gezuckt und geantwortet:

„Er genügt mir eben.“

Ihre alte Freundin Bea, die einige Semester Psychologie studiert, das Studium jedoch, genau wie Gloria, an den Nagel gehängt hatte als sie schwanger geworden war, hatte es einmal das „Schlüssel-Schloss-Prinzip“ genannt. Und die beteiligten Personen „Reaktionspartner“.

„Man reagiert unbewusst auf alles, was der Partner ebenso unbewusst aussendet, also auf das, was einem aus frühester Kindheit vertraut ist. Falls diese Prägung negativ und beängstigend war, werden die Betroffenen oft ihr Leben lang von brutalen oder gefühllosen Partnern angezogen“, hatte sie erklärt.

Es gab aber auch das positive, liebevolle „Schlüssel-Schloss-Prinzip“. Manchmal fragte sich Gloria, ob sie in ihrem Mann ihren Vater wiedererkannt hatte. Von Anfang an hatte sie in Eberhards Gegenwart das Gefühl gehabt, sie würden sich schon ewig kennen. Ihm war es genauso gegangen. Jedenfalls hatte er das behauptet. Aber was erkannte sein Unterbewusstsein in ihr? War sie seiner Mutter ähnlich? Rosa war als junge Frau aus Ostpreußen geflüchtet. Bei einem Gespräch unter Frauen hatte sie einmal angedeutet, dass während der Flucht ein Mann „zudringlich“ geworden sei. Mehr hatte sie nicht sagen wollen.

Lange bevor sie Eberhard kennengelernt hatte, war Gloria etwas Ähnliches zugestoßen. Trotzdem hatte sie sich Rosa nicht anvertrauen können. Vielleicht aus Scham oder weil sie ihre Schwiegermutter nicht belasten wollte. Obwohl die Schicksale der Frauen nicht vergleichbar waren, schließlich hatte Gloria den Krieg nicht erlebt, waren beide schreckhaft, hatten ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis und gingen unangenehmen Dingen am liebsten aus dem Weg.

Gloria räumte das Frühstücksgeschirr ab. Dann brachte sie den Wäschekorb in den Keller, stopfte Hosen, Socken und Jacken in die Maschine, fügte Pulver dazu und startete das Waschprogramm. Der Trockner, in dem sich Bettwäsche und Handtücher drehten, würde sein Programm in fünf Minuten beenden. Solange konnte sie warten. Sie setzte sich auf einen Hocker vor die Waschmaschine, schaute auf das Bullauge hinter dem sich die Wäsche drehte, und überlegte, was heute noch zu tun war.

Zuerst musste sie sich um die bevorstehende Geburtstagsfeier kümmern. In wenigen Wochen würde sie 70 werden. Adrian hatte sich mit seiner Familie angekündigt, Bianca würde kommen und Merle hatte auch zugesagt. Ob allein oder in Begleitung war noch unklar. Auf Glorias vorsichtige Frage, ob es derzeit jemanden in ihrem Leben gebe, hatte Merle sich bedeckt gehalten.

Wie auch immer, in ihrem großen Haus war Platz für alle.

Im Geiste sah sie sich mit ihren Enkeln Luisa und Leo auf dem Schoß vor dem Kamin sitzen und aus einem Kinderbuch vorlesen. Oder in alten Fotoalben blättern. Papierfotos und Alben sind für Kinder von heute, die mit Touchscreens und Bildschirmen aufwachsen, etwas Exotisches, dachte Gloria und schmunzelte, als sie sich erinnerte, wie Leo, kaum zwei Jahre alt, versucht hatte, mit seinem kleinen Zeigefinger ein Bild in einem Bilderbuch wegzuwischen, anstatt die Seite umzublättern. Und bei der Abbildung eines alten Telefons mit Wählscheibe und Hörer auf der Gabel hatte Luisa anerkennend gemeint: „Schönes T-Shirt“.

„Seht mal, das ist euer Papa“, würde sie sagen, auf ein Kinderbild von Adrian in kurzen Hosen deuten und in ihre ungläubigen Gesichter schauen.

Bei dem Gedanken an ein gemütliches, herbstliches Kaminfeuer fiel ihr ein, dass sie dringend Holz bestellen musste. Am besten einen Raummeter Buchenholz, dessen Glut am längsten vorhielt und heimelige Wärme verbreitete, dazu einen Raummeter Fichtenholz, das Feuer knisterte und knackte so schön, und einen halben Raummeter Birkenholz, das sie dekorativ an der Hauswand und rund um den Kamin stapeln würde. Ein Bauer aus dem benachbarten Dorf lieferte das Holz fertig gesägt und gehackt. Sie würde ihn später anrufen. Außerdem musste sie die Putzfrau bitten, die Fenster der ehemaligen Kinderzimmer im Obergeschoss und in der Souterrain-Wohnung zu putzen, die Vorhänge zu waschen und nach Spinnweben Ausschau zu halten. Luisa hatte schreckliche Angst vor Spinnen.

Der Trockner piepte, das Programm war zu Ende. Gloria füllte die warme, flauschige Wäsche in den Korb, wischte die Flusen aus dem Auffangsieb und ging wieder hinauf. Vor der Treppe, die nach oben führte, stellte sie die Wäsche ab. Sie würde sich später darum kümmern. Zuerst aber brauchte sie noch einen Kaffee.

Mit einem frischen Cappuccino, Notizblock und Stift nahm sie wieder am Tisch im Wintergarten Platz und begann mit ihrer Geburtstags-to do-Liste.

Den Speiseplan musste sie mit Eberhard besprechen. Er war der beste und leidenschaftlichste Koch in der Familie. Um alles andere würde sie sich kümmern. Sie konnte zwar auch ganz ordentlich kochen, hatte aber nie Interesse an den Finessen der Koch-Kunst gezeigt. Eberhard spielte begeistert den „Chef de Cuisine“, wenn er die Gelegenheit dazu hatte, experimentierte mit ausgefallenen Zutaten und zauberte immer etwas Raffiniertes auf den Tisch. Ein großes Fest würde es an ihrem runden Geburtstag nicht geben. Darauf hatte sie bestanden. Anstatt alle Freundinnen und Freunde, die sich gegenseitig kaum kannten, da sie unterschiedlichen Lebensabschnitten angehörten, einzuladen, hatte sie sich entschieden, in ihrem nächsten Lebensjahrzehnt die Menschen, die ihr im Leben wichtig gewesen waren, der Reihe nach zu besuchen.

Doch mit wem sollte sie anfangen? Mit den an Jahren ältesten Freundinnen? Mit denen, die sie am längsten kannte? Mit denen, die ihr emotional am nächsten standen? Oder einmal gestanden hatten? Wie beispielsweise Bea.

Bea kannte sie fast so lange wie Eberhard. Leider war der Kontakt zu ihr vollständig abgebrochen. Hauptgrund war die Tragödie um Beas Sohn, die sich vor Jahrzehnten in Kreta abgespielt hatte. Max wäre jetzt 49. Genau wie Merle.

Bea hatte noch Jahrelang versucht, ihre Freundschaft aufrecht zu erhalten, hatte Briefe geschrieben und manchmal angerufen. Gloria wusste, dass sie Bea damals hätte beistehen sollen. Stattdessen hatte sie sich um ihre eigenen Probleme gekümmert, kümmern müssen, sich von Bea zurückgezogen und damit wirklich schuldig gemacht. Verziehen hatte sie sich bis heute nicht. Irgendwann war es für einen Neuanfang zu spät gewesen. Das Leben war über sie hinweggefegt. Drei Kinder, das expandierende Geschäft, der Umbau des Hauses und ihre demente Mutter hatten sie dermaßen auf Trab gehalten, dass die Erinnerung an Kreta immer mehr verblasste und Bea schließlich in Vergessenheit geriet.

Inzwischen hatten sich die Stürme gelegt. Gloria konnte wieder klarer sehen. Und weiter. Vor allem zurück in die Vergangenheit. Das muss das Alter sein, vermutete sie. Angeblich öffnet das Langzeitgedächtnis zum Ende hin noch einmal seine Tresore, bevor es sie für immer verschließt. Vielleicht eine letzte, gnädige Chance auf Vergebung und Heilung. Als ihr bewusst wurde, wie sehr sie Bea vermisste, und immer vermisst hatte, fasste sie den Entschluss, ihre Freundschaftsbesuche mit Bea zu beginnen. Gleich nach dem Geburtstag würde sie versuchen, Bea ausfindig zu machen. Lebte sie noch auf Kreta? Vielleicht hatte sie geheiratet und trug einen griechischen Namen. Wie sie derzeit wohl aussah?

Wofür gibt es Internet? dachte sie, legte den Stift neben die leere Kaffeetasse und sah wieder aus dem Fenster. Die Wolkendecke war aufgerissen und die Sonne hatte sich durchgesetzt. Der Rasen war abgetrocknet, aber die Maulwürfe hatten schon wieder neue Hügel aufgeworfen.

Endungen

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