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Kapitel 1

Lydia September

Lydia hatte die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen und die Hände tief in die Taschen ihres abgetragenen Mantels gesteckt. Der stürmische Herbstwind fuhr ihr in die Knochen und dann begann es auch noch in Strömen zu regnen. Natürlich hatte sie nicht daran gedacht, einen Schirm mitzunehmen. Vermutlich hätte der sowieso nichts gebracht. Die erste Böe hätte ihn umgeklappt, die Streben zerknickt und anschließend hätte sie ihn wegwerfen können. Seufzend zog sie sich die fadenscheinige Wollmütze tiefer in die Stirn. Seit einer Stunde stand sie sich hier die Beine in den Bauch. Wenn es nicht endlich weiterging, würde sie sich eine Erkältung holen. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Aber die Leute rückten nur im Schneckentempo voran.

Gestern hatte sie sich bei der „Tafel“ angemeldet. Wegen des großen Andrangs war auch im Büro der Kirchengemeinde Geduld gefragt gewesen. Eine Eigenschaft, die sie nur noch begrenzt besaß seit sie wusste, wie wenig Zeit ihr noch blieb. Aber sie hatte sich zusammengerissen und auf der von zahllosen nervösen Hintern glatt polierten Holzbank ausgeharrt, bis sie an der Reihe war. Einer korpulenten Frau mit silbergrauem Haar, das zu einem strengen Bob geföhnt war, hatte sie ihren Personalausweis sowie den Grundsicherungsnachweis vorlegen müssen und 1,50 Euro bezahlt. So viel hatte sie gerade noch zusammenkratzen können. Es war Monatsende und wäre sie nicht so pleite gewesen, wäre sie gar nicht erst hierhergekommen. Schließlich hatte sie ein blaues Ansteckkärtchen mit der Nummer 20 erhalten, welches sie als legitime Empfängerin gespendeter Lebensmittel auswies.

Wie sich dann herausstellte, kamen im laufenden Quartal Berechtigte mit blauen Nummernschildern zuletzt an die Reihe. Und am Ende dieser Reihe stand sie nun mit dem verschlissenen Einkaufstrolley, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte, und zitterte vor Kälte.

Pünktlich um 14:00 Uhr hatte sie sich vor der Ausgabestätte eingefunden, wo bereits eine große Zahl von Bedürftigen mit grünen und gelben Kärtchen Aufstellung genommen hatte. Vor ihr warteten weitere 19 mit blauen Kärtchen und hinter ihr noch drei. Die kalte Luft verursachte einen Hustenanfall nach dem anderen. Lydia hielt sich ein Taschentuch vor den Mund und kämpfte um jeden Atemzug. Obwohl sie sich vor Schmerzen krümmte und fürchtete, jeden Moment umzukippen, nahm niemand Notiz von ihr. Die Leute hier haben mit sich selbst zu tun, dachte sie. Im Grunde war es ihr recht, dass sich niemand um sich scherte.

Als der Husten endlich nachließ, beugte sie sich aus der Warteschlange und taxierte die Menschen die vor ihr ausharrten: Frauen mit dunklen, bodenlangen Gewändern und Kopftüchern, umringt von Scharen quengelnder Kinder, alte Männer in vor Dreck starrender Kleidung, deren schlechter Geruch bis zu ihr drang, gebeugte, alte Weiblein mit abgenutzten Taschen, bleiche junge Männer mit umgedrehten Schirmmützen und bärtige Patriarchen, die mit strengen Blicken ihre weiblichen Familienmitglieder überwachten und das Tragen prall gefüllter Tüten den Frauen überließen. Ob diese schwanger waren oder nicht. Und dazwischen Lydia, die nie, nie, nie in diese Situation hatte kommen wollen.

Sie fror erbärmlich. Kein Wunder, bestand sie doch fast nur noch aus Haut und Knochen. Außerdem war ihr schlecht. Vielleicht hätte sie etwas essen sollen bevor sie losgegangen war. Aber wie an jedem Morgen hatte sie keinen Appetit gehabt und das Essen auf später verschoben. Wie hätte sie auch ahnen können, dass man hier so lange anstehen musste?

Ihre Füße schmerzten und sie lechzte nach einer Zigarette. Doch Rauchen war auf dem Kirchengelände verboten. Stöhnend fügte sie sich wieder in die Reihe, die ab und zu ein paar Trippelschrittchen vorrückte.

Als sie endlich eingelassen wurde, waren die Körbe und Kisten fast leer. Lydia griff nach einer Aubergine und wurde von einer Mitarbeiterin streng zurechtgewiesen.

„Selbstbedienung ist bei uns verboten!“

„Okay, Okay!“

Lydia hob beschwichtigend die Hände, legte die fleckige Aubergine zurück und blickte ungläubig auf die Gaben, die ihr über den Tisch gereicht wurden: Zwei runzelige Äpfel, zwei Clementinen, eine Orange, eine runzelige Limone, zwei überreife Bananen, eine Plastikschale mit matschigen Brombeeren, zwei Köpfe Eisbergsalat, ein Päckchen geschnittenes Roggenbrot, eine angefaulte Fenchelknolle, ein welkes Bund Schnittlauch. Das war alles.

Sie brachte es nicht fertig, sich zu bedanken, warf alles in ihren Trolley und verließ wortlos das Gemeindezentrum. Auf dem Heimweg begann eins der beiden Rädchen zu eiern und zu quietschen, wahrscheinlich würde es demnächst abfallen, aber sie achtete nicht darauf. Sie wollte nur so schnell wie möglich nach Hause und eine Zigarette rauchen.

Keuchend schleppte sie sich und den Trolley die vier Etagen zu ihrer Wohnung hinauf, wobei sie auf jedem Treppenabsatz pausieren und nach Luft schnappen musste. Wäre die Tasche voll gewesen, hätte sie in der Wohnung klingeln und Ulli über die Sprechanlage herunterbitten müssen. Da er das Treppensteigen wie jede körperliche Anstrengung mied, hätte er den Fahrstuhl nehmen können. Lydia war seit mindestens 30 Jahren in keinen Aufzug mehr gestiegen. Seit ihrer Haft litt sie unter Klaustrophobie.

Außerdem blieb dieser klapprige Kasten alle naselang stecken. Zur Not hätte sie den Trolley in den Fahrstuhl stellen und nach oben schicken können, aber sie traute den anderen Mietern nicht über den Weg. Sie klauten alles was nicht niet- und nagelfest war, warfen

stinkende Pampers in die Biomülltonne und pinkelten in den

Hauseingang. Zwei Mal hatten sie schon versucht, in ihre Wohnung einzubrechen. Die Kratzer am Schloss konnte man immer noch sehen. Sie würde es auch so schaffen.

Endlich war sie oben angekommen. Im engen Flur der Mansardenwohnung hängte sie die nasse Jacke auf einen Kleiderbügel, zog die durchweichten Schuhe aus und schlüpfte in ihre Pantoffeln. Dann schlurfte sie ins Bad, seifte ihre Hände ein, schrubbte sie mit einer kleinen Bürste bis sich die Haut rot färbte und spülte echten und

gefühlten Schmutz und die Qual der letzten Stunden mit bis zur

Schmerzgrenze heißem Wasser ab.

Auf dem Weg zur Küche rief sie in Richtung einer geschlossenen Tür: „Ich bin wieder da“, bemüht, ihrer heiseren Stimme einen fröhlichen Klang zu verleihen. Dann lauschte sie eine Weile, aber aus dem Zimmer kam kein Laut. Vermutlich hatte Ulli seine Kopfhörer auf den Ohren und hörte irgendetwas Lautes. Oder er schlief noch.

Sie bugsierte den Trolley in die warme Küche, ließ sich auf einen Stuhl fallen und zündete sich sofort eine Zigarette an. Das Nikotin wanderte über die fein verästelten Atemwege in ihr Nervensystem und breitete sich rasch im ganzen Körper aus. Lydia lehnte sich zurück, schloss die Augen, streckte die Beine aus und entspannte sich. Während sie Rauch inhalierte und wieder ausblies, überlegte sie, was sie mit den gespendeten Lebensmitteln anfangen sollte. Am liebsten hätte sie das Zeug weggeworfen, zwang sich dann aber, wenigstens einen Blick darauf zu werfen.

Der Schnittlauch hatte den Heimweg nicht überlebt und landete im Mülleimer. Mit spitzen Fingern sortierte sie die Brombeeren und warf die angeschimmelten ebenfalls weg. Die übrigen würden, mit der gleichen Menge Zucker gekocht, ein halbes Glas Marmelade ergeben und die beiden Äpfel, zusammen mit dem letzten aus ihrem Obstkorb, ein Schälchen Apfelmus. Beides passte gut zu Pfannkuchen, die Ulli über alles liebte. Jedenfalls hatte er sie als Kind geliebt. Zucker, Mehl, eine halbe Tüte H-Milch und ein Ei hatte sie noch im Schrank.

Sie nahm einen letzten Zug, quetschte den Stummel in den Aschenbecher und unterdrückte einen Hustenanfall. Dann machte sie sich an die Arbeit.

Von der Fenchelknolle und den Eisbergsalaten schnitt sie die matschigen, braunen Stellen ab und legte das Übriggebliebene zur späteren Verwendung in den Kühlschrank. Die Zitrusfrüchte und die beiden Äpfel leisteten dem Apfel im Obstkorb Gesellschaft. Die Bananen würde sie später in Scheiben schneiden und auf den Pfannkuchen verteilen. Was sollte sie mit dem Schnittbrot machen? Die Mindesthaltbarkeit war längst abgelaufen, außerdem mochte sie kein Schnittbrot. Warum hatte sie es überhaupt angenommen? Sie riss die Packung auf und begutachtete jede einzelne Scheibe, ohne jedoch Schimmelspuren zu entdecken. Vielleicht konnte man es doch noch essen.

Nachdem sie sich eine weitere Zigarette angesteckt hatte, überschlug sie den Wert der Spenden und kam zu dem Ergebnis, dass sie bei dem Discounter, von dem sie stammten, frisch und in einwandfreiem Zustand, zusammen nicht mehr als fünf Euro gekostet hätten. Zog sie die Tafel-Gebühr von 1,50 Euro davon ab, hatte sie zwar 3,50 Euro gespart, insgesamt aber vier oder fünf Stunden kostbarer Lebenszeit verschwendet. Wie war sie nur auf die Idee mit der Tafel gekommen? Sie musste einen anderen Weg finden, um für Ulli wenigstens ab und zu etwas Gesundes kochen zu können. Der Junge musste unbedingt abnehmen.

Ich kann nicht drei Monate warten, bis die Besitzer blauer Kärtchen zuerst an die vollen Körbe gelassen werden. Morgen würde sie wieder auf den Wochenmarkt gehen, wo die Gemüsehändler nach Verkaufsschluss ihre Reste für wenig Geld abgaben, manchmal sogar verschenkten. Ich bin schließlich keine wandelnde Bio-Mülltonne für Billig-Discounter und schon gar kein Blitzableiter für Damen mit Föhnfrisuren, die aus Langeweile ehrenamtlich bei der Tafel arbeiten, dachte sie und schüttelte den Kopf.

Bevor sie mit den Pfannkuchen anfing, musste sie unbedingt eine Weile ausruhen. Sie leerte den Aschenbecher, lüftete kurz durch und ging leise ins Wohnzimmer. Bei Ulli war noch alles still.

Aufatmend sank sie auf die Couch, zog die flauschige Fleecedecke über sich und stopfte drei dicke Kissen hinter den Rücken. Flach auf dem Rücken liegen konnte sie wegen der Atemnot schon lange nicht mehr. Die Tafel-Aktion hatte viel Kraft gekostet. Und wozu das Ganze? Für nichts und wieder nichts. Sie nahm sich vor, die blaue Nummer 20 zurückzugeben. Vielleicht hatte jemand anderes mehr Glück damit. Langsam kippte ihr Kopf zur Seite und der Körper erschlaffte. Sie war so unendlich müde.

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