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Kapitel 3

Gloria September

Gloria richtete sich auf und blickte zufrieden über ihre Rosenbeete. Sie hatte nichts übersehen. Alle verwelkten Blüten waren abgeschnitten. Wenn sie das konsequent tat, blühten manche Sorten bis weit in den Herbst, wie sie an den vielen Farbtupfern in den Rabatten erkennen konnte. Die rosafarbene „Constanze Mozart“, deren Duft an Champagner erinnerte, „Ghislane“, die Kletterrose, die mit ihren apricotfarbenen Blüten den Durchgang zum Gemüsegarten zierte, und die karminrote „Rotilie“ hatten sich entschlossen, eine letzte Blühperiode einzulegen und noch einmal Knospen gebildet. Gloria hoffte, dass sie es bis zum ersten Frost schafften. Oder wenigstens bis zu ihrem Geburtstag im Oktober. Am unermüdlichsten war Schneewittchen“, eine reinweiße, fein duftende Sorte, die sogar im Dezember noch Blüten hervorbrachte und Gloria besonders am Herzen lag. Immer wieder hatte sie sich gefragt, wie ein so zartes Gewächs so robust sein konnte. Die meisten Rosen hatten sich jedoch schon auf rauere Tage eingestellt und Hagebutten gebildet.

Es musste eine schicksalhafte Vorherbestimmung gewesen sein, die sie ausgerechnet an einen Ort mit Namen Rosfelden geführt hatte. Obwohl der Name nichts mit Rosen zu tun hatte, sondern auf die Rösser zurückging, die hier einst gezüchtet worden waren. 45 Jahre hatte Gloria gebraucht, um den Garten, der von ihren Schwiegereltern im Stil der 60er Jahre angelegt worden war, in ein Rosenparadies zu verwandeln. Sie konnte sich noch gut an die von düsteren, immergrünen Koniferen eingefasste Rasenfläche erinnern, an Bodendecker in ovalen Beeten und an den nierenförmigen Gartenteich in der Mitte des Grundstücks, in dem Goldfische auf und ab schwammen.

Sie steckte die Nase in die letzte sattgelbe Blüte der „Bengali“ und sog das süß herbe Aroma ein. Berauschend! Auf dem frisch geschnittenen Rasen, der an die Rabatten grenzte, lagen verstreut Rosenblätter in allen Farbnuancen. Eine Weile genoss sie diesen Anblick, dann griff sie energisch zum Laubrechen, fegte alles zusammen und warf es zu den vertrockneten Stängeln des Lavendel und Frauenmantels in ihre Schubkarre.

Es war Ende September, der Altweibersommer ging zu Ende. Buntes Laub segelte von den Bäumen herunter. Der Kirschbaum war schon fast kahl. Er war immer der erste, der seine Blätter losließ, als sei er ihrer überdrüssig.

Gloria schaute prüfend zu dem alten Ahorn hinüber und stellte fest, dass er noch fast grün war. In wenigen Wochen würde er ein bezauberndes Farbspektakel bieten. Das alte Baumhaus in seiner Krone war vollständig eingewachsen. Glorias Sehschärfe war nicht mehr die beste, aber die Holzleiter, die zu ihm hinaufführte, konnte sie selbst auf die Entfernung noch deutlich erkennen. Eberhard hatte sie vor langer Zeit mit einem Spanngurt am Stamm befestigt. Der Wimpel mit dem selbstgemalten Totenkopf und den gekreuzten Knochen, den der kleine Adrian beim Richtfest stolz gehisst hatte, war verschwunden und den roten Drachen, der vor Ewigkeiten in der Baumkrone hängengeblieben war, hatten die Herbststürme längst losgerissen und über den Zaun und die angrenzenden Felder geweht.

An einem stürmischen Herbsttag war auch Merle fortgegangen. Wochenlang hatte Gloria versucht, ihre Tochter davon abzubringen.

„Ausgerechnet Berlin. Warum nicht Freiburg, München oder Göttingen?“ hatte sie gefragt.

„Was hast du gegen Berlin? Du hast doch selbst dort studiert“, hatte Merle entgegnet.

„Das waren andere Zeiten“, hatte Gloria gemurmelt und sich dabei wie ihre eigene Mutter angehört. Sie hasste es, wenn sie Ähnlichkeiten mit ihrer Mutter an sich bemerkte. Tatsächlich hatten sich ihre Eltern damals genauso vehement gegen Glorias Studium in Berlin gesträubt. Und wenn sie ehrlich war, mit gutem Grund. Am Ende hatte sie Hals über Kopf aus Berlin fliehen müssen, um nicht vollständig unter die Räder zu geraten. Aber davon wusste bisher niemand etwas. Und so sollte es auch bleiben.

Merle war nicht von ihren Plänen abgerückt. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, zog sie es durch. So war sie eben. Gloria hatte schließlich nachgegeben, zumal Eberhard, wie fast immer, auf Merles Seite gestanden hatte. Gloria waren schließlich die Argumente ausgegangen. Und so war Merle an einem kalten, regnerischen Oktobertag vor 29 Jahren mit einem vollgestopften Kleintransporter in ihr neues Leben aufgebrochen.

Nachdem Merle ausgezogen war, hatte Eberhard mit Adrian das Baumhaus, das vorher nur eine Plattform aus Brettern gewesen war, zu einem richtigen kleinen Holzhaus mit Spitzdach, Fenstern und Veranda ausgebaut. Damit würde der Junge leichter über Merles Auszug hinwegkommen, hatten sie gehofft. Den ganzen Herbst hatten sie daran herumgebastelt, in jeder freien Minute Werkzeuge und Baumaterial nach oben gezogen, während Adrians kleine Schwester Bianca und Gloria sie mit Saft, belegten Broten und Keksen versorgt hatten. Als das Baumhaus winterfest gewesen war, hatten sie Richtfest gefeiert, unter dem Ahorn ein Lagerfeuer angezündet und Stockbrot gebacken. Anschließend hatten Vater und Sohn im Baumhaus übernachtet.

Gloria lächelte in Erinnerung an Adrians übernächtigtes, aber glückliches Gesicht am nächsten Morgen. Vor Aufregung hatte er sicher kein Auge zugemacht. Jetzt stemmte sie die Hände in die Hüften, zog die Schultern nach hinten, drückte den Rücken durch und versuchte den Schmerz zu ignorieren, mit dem sich ihre Bandscheiben in Erinnerung brachten. Sie überlegte, wie lange sie nicht mehr im hinteren Teil des Gartens gewesen war? Hauptsächlich hatte sie sich um die Blumen-, Kräuter- und Gemüsebeete gekümmert. Für das Mähen, den Baum- und Heckenschnitt hatten sie eine Firma beauftragt. Nur der abgelegene Bereich an der Grundstücksgrenze, über den der riesige Ahorn seine Äste breitete, war von der Gartenpflege ausdrücklich ausgenommen. Im Februar schoben sich dort Schneeglöckchen durch das vermodernde Laub und bald darauf zeigten sich gelbe Winterlinge und blaue Hasenglöckchen. Auch Anemonen, Schlüsselblumen und Taubnesseln hatten dort ihren Stammplatz.

Als sie noch klein waren, hatten die Kinder oft in dieser „Wildnis“ gespielt. Weit genug vom Haus entfernt, um ungestört zu sein, aber noch in Rufweite. Gloria hatte sich immer bemüht, ihren Kindern einen angemessenen Freiraum zuzugestehen, aber seit dem tragischen Unfall, der dem kleinen Sohn ihrer Freundin Bea zugestoßen war, hatte sie immer Sorge, ihnen könnte auch etwas passieren. Auch wenn sie keine direkte Schuld traf, waren Gloria und Eberhard an der Kette von Ereignissen, die einst auf Kreta in Gang gesetzt worden waren und letztlich zum Tod des kleinen Jungen geführt hatten, nicht unbeteiligt gewesen.

Sie sah wieder hinüber zu dem Ahorn und erinnerte sich an den Igel, den Adrian vor Zeiten unter den Büschen entdeckt hatte, und wie sie den Jungen nur mit Mühe davon abhalten konnte, das Tier ins Haus zu tragen. Stattdessen hatten sie ihm einen kleinen Verschlag gebaut und Apfelschalen und ein Schüsselchen Milch hineingestellt. Aber am nächsten Tag war der Igel verschwunden. Adrian war außer sich gewesen, hatte geweint und jeden Winkel des Gartens abgesucht.

„Der Igel ist abgehauen“, hatte Bianca trocken gesagt, als Adrian wieder aus dem Unterholz aufgetaucht war.

Das kleine Mädchen hatte eine Decke auf dem Rasen ausgebreitet, winzige Teller und Tassen daraufgestellt und mit ihren Puppen „Picknick“ gespielt.

„Die gehört Merle!“ hatte Adrian geschrien, als er Poppi entdeckte, und die Puppe an sich gerissen.

„Merle ist weg! Gib sie sofort her!“

Bianca war hastig aufgesprungen, wobei das Puppengeschirr klirrend durcheinander gefallen war.

„Ja, die blöde Merle ist weg. Genau wie mein Igel.“

Wütend hatte Bianca sich auf ihren Bruder gestürzt, ein Bein der alten Puppe zu fassen bekommen und mit aller Kraft daran gezogen.

„Die gehört jetzt mir! Lass sie los!“

„Gehört sie nicht!“ hatte Adrian gebrüllt und mit der freien Hand nach seiner Schwester geschlagen.

Biancas Geschrei war noch lauter geworden, als sie plötzlich ein Puppenbein Bein in der Hand hielt.

Gloria, die das Geschehen vom Küchenfenster aus beobachtet hatte, in der vergeblichen Hoffnung, die Kinder würden den Konflikt alleine lösen, war über die Wiese gerannt, hatte die Streithähne getrennt, die Puppe und ihr ausgerissenes Bein an sich genommen und den Kindern ein Eis in Aussicht gestellt, wenn sie sich wieder vertrügen. An diesem Abend hatte Eberhard Bianca ins Bett gebracht und Gloria war leise an Adrians Bett getreten und hatte versucht, ihn zu trösten.

„Ich vermisse Merle auch ganz schrecklich. Bestimmt besucht sie uns bald.“

„Ich will aber keinen Besuch! Sie soll bei uns wohnen oder ganz wegbleiben“, hatte er trotzig erwidert und sich zur Wand gedreht.

Gloria hatte seinen Schmerz nachfühlen können und ihm einen Kuss auf das strubbelige Haar gehaucht.

„Lass mich in Ruhe!“ hatte er geschluchzt, sich die Decke über den Kopf gezogen und Gloria war still aus dem Zimmer gegangen.

Noch am selben Abend hatte sie das ausgerissene Bein wieder angenäht und die Puppe als Merles stumme Stellvertreterin in eine Sofaecke gesetzt. Bianca durfte sie nicht mehr anrühren und irgendwann war Poppi wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Gloria rätselte noch immer, wo sie geblieben war. Bianca hatte unter Tränen beteuert, es nicht zu wissen und Adrian hatte behauptet, sie sei „gestorben“. Damals war sie von seinem kindlichen Erklärungsversuch gerührt gewesen. Später hatte sie sich oft gefragt, ob der Erdboden Merles Puppe wirklich verschluckt hatte. Und ob jemand dabei nachgeholfen hatte.

Im Schatten des Ahorns lag auch der kleine Tierfriedhof. Dort war vor langer Zeit Moni, die alte Hauskatze beerdigt worden. Auch Merles Hamster und einige aus dem Nest gefallene, tote Vögelchen hatten in Gräbern aus Blättern und Blüten die letzte Ruhe gefunden. Die kleinen Kreuze aus Zweigen und Wollfäden, die die Kinder gebastelt und auf die Grabhügel gesteckt hatten, waren längst vermodert.

Gloria bugsierte die Schubkarre zum Kompost, kippte sie aus und lehnte sie an das Gartenhaus. Dann wandte sie sich noch einmal um, ließ ihren Blick über das weitläufige Gartengrundstück schweifen und fand, dass sie für heute genug getan hatte. Trotzdem hatte sie noch keine Lust ins Haus zu gehen. Auch dort war alles getan. Das große Wohnzimmer mit dem offenen Kamin, den gemütlichen Sesseln und Sofas und den großen Schiebetüren aus Glas, die auf die Terrasse führten, war so sauber und aufgeräumt, dass es unbewohnt wirkte. Was es fast auch war. Ein Wunder, dass noch nicht eingebrochen wurde, dachte sie, während sie das Haus durch den Seiteneingang betrat.

Sie hatte Lust auf einen Kräutertee. Es war später Nachmittag, fast schon Abend, aber die Dämmerung hatte noch nicht eingesetzt. Kaffee hatte sie heute genug getrunken und für Wein war es noch zu früh. Sie zog die Arbeitshandschuhe aus, schlüpfte aus den Gartenschuhen, stellte sie in das Regal im Windfang und ging auf Socken in die Küche. Ein Blick auf ihr Handy, das auf der Arbeitsplatte aus poliertem Granit lag, zeigte, dass keine Nachrichten oder Anrufe eingegangen waren. Die Kinder meldeten sich nur sonntags, wenn überhaupt, und Eberhard rief nur selten von unterwegs an. Hatte er nicht gesagt, dass er heute früher von seiner Dienstreise zurückkommen würde? Aber darauf konnte man sich nicht verlassen.

Die helle Landhausküche aus nachhaltig produziertem Massivholz, eine Maßarbeit der örtlichen Schreinerwerkstatt, ausgestattet mit modernstem Komfort, war Eberhards Stolz. Gloria nutzte den Eis- Zerkleinerer, die italienische Kaffeemaschine, den Mikrowellenherd und all die glänzenden Töpfe und Pfannen nur, wenn die Familie oder Freunde zu Besuch kamen. Das war in letzter Zeit jedoch immer seltener vorgekommen. Für sich allein kochte sie keine aufwändigen Mahlzeiten und meistens viel zu viel. Die Reste landeten meist auf dem Kompost, in der Toilette oder abends aufgewärmt in Eberhards Magen. Anscheinend waren ihr die Mengen für eine fünfköpfige Familie in Fleisch und Blut übergegangen. Heute hatte sie sich Nudeln mit einer Sauce aus den letzten Gartentomaten gekocht und etwas Schafskäse darüber gebröselt. Obwohl sie sich mehr als satt gegessen hatte, waren ein halber Topf Pasta und eine Menge Sauce übriggeblieben. Sollte Eberhard heute noch heimkommen, könnte er es sich in der Mikrowelle aufwärmen. Gestern hatte sie Pellkartoffeln mit Leinöl und Kräuterquark gehabt und bewusst fünf mittelgroße Kartoffeln abgezählt. Beim Blick in den fast leeren Topf war ihr schwer ums Herz geworden und sie hatte sich vorgenommen, demnächst ein paar kleine Töpfe anzuschaffen.

Da es sich nicht lohnte, mit dem wenigen schmutzigem Geschirr die Spülmaschine in Gang zu setzen, hatte sie es von Hand abgewaschen und zum Trocknen auf die blinkende Edelstahlspüle gestellt. Sie würde es später wegräumen. Sie setzte den Wasserkocher in Gang und schüttete ihre Spezialmischung aus getrockneten Gartenkräutern in die Teekanne. Dann ging sie ins Bad, um sich das verschwitzte Gesicht zu waschen. Ihre Füße bewegten sich lautlos über die Fliesen, die Eberhard konsequent „Feinsteinzeug“ nannte, und erneut fiel ihr auf, wie still es in diesen optimal isolierten Niedrigenergiehäusern war. Zurück in der Küche goss sie den Tee auf, stellte Kanne und Tasse auf ein Tablett und trug es auf die Terrasse hinaus. Dort ließ sie sich in einen Rattan Sessel sinken.

Die Sonne war untergegangen und es war deutlich kühler geworden. Gloria legte sich eine Decke um die Schultern und goss Tee ein. Die Vögel hatten ihr Abendkonzert fast beendet. Bald würden die meisten von ihnen fort sein. Der Herbst war spürbar nah. Sie schloss die Augen. Sie war müde und der Rücken schmerzte. Das Baumhaus fiel ihr wieder ein. Wie es wohl darin aussah? Hatten sie die Matratze je heruntergeholt? Wahrscheinlich moderte sie da oben immer noch vor sich hin. Sie würde nachsehen. Falls das Holz noch stabil war, könnten ihre Enkel im Baumhaus spielen, wenn sie im Oktober zu Besuch kamen. Luisa war vielleicht noch zu klein und hatte noch nicht genügend Körperspannung, um hinaufzuklettern, aber Leo würde es bestimmt gefallen.

Gloria trank den Tee aus, verknotete die Zipfel der Decke vor ihrer Brust, ging über das weiche, vom Abendtau angefeuchtete Gras zu dem Ahorn und sah hinauf. Das Baumhaus befand sich viel weiter oben als in ihrer Erinnerung. Der Ahorn war ihr schon riesig vorgekommen, als sie das Haus von Eberhards Eltern übernommen hatten. Mit den Jahren hatte er an Höhe und Breite mächtig zugenommen. Es sah aus, als hätte er das Baumhaus mit sich hochgehoben. Doch die Leiter stand immer noch am Boden und endete oben an der Kante des Bretterbodens, der eine kleine Veranda bildete. Prüfend rüttelte Gloria an ihr. Sie fühlte sich fest und sicher an. Dann gab sie sich einen Ruck und stieg vorsichtig hinauf.

Ein Schwarm Krähen, die sich im dichten Blattwerk zur Nachtruhe begeben hatten, warf sich in die Luft und flatterte mit lautem Krächzen davon. Vor Schreck wäre Gloria beinahe abgestürzt. Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, kletterte sie ganz nach oben, kroch vorsichtig über den Bretterboden, zog die schmale Tür auf, die schief in den Angeln hing, und schob sich hinein.

Sie konnte sich nicht erinnern, jemals hier oben gewesen zu sein. Die kleinen Fenster aus bruchsicherem Plexiglas waren blind und verdreckt. Von der Decke hingen Spinnweben und die Matratze war zerfetzt. Irgendwelche Tiere hatten anscheinend Nistmaterial gebraucht oder es sich im Schaumstoff gemütlich gemacht. Da sie sich nicht aufzurichten konnte und mit den Spinnweben unter der Decke nicht in Berührung kommen wollte, kauerte sie sich in eine Ecke, winkelte die Beine an, schlang ihre Arme um die Knie und wunderte sich, wie Vater und Sohn hier hatten schlafen können.

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