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Kapitel 2

Lydia September

„Mama!“

Nachdem er seine Mutter überall gesucht hatte, entdeckte Ulli sie schließlich auf dem Sofa. Unter der dicken Decke war ihre schmächtige Gestalt kaum zu erkennen.

„Mamaa!!“

Lydia rührte sich nicht.

Ulli bekam es mit der Angst zu tun.

„Mamaaa!!!“

Endlich schlug sie die Augen auf und betrachtete versonnen die Gestalt, die den ganzen Türrahmen ausfüllte. Sie musste sehr tief geschlafen haben. Die Bilder eines Traums gingen ihr noch im Kopf herum. Es waren farbige Bilder, wie man sie nur selten träumt. Irgendwie hatten sie mit früher zu tun. Und mit Gloria. Lydia versuchte den Traum festzuhalten, aber er löste sich rasch auf und hinterließ ein befremdliches Gefühl.

„Ich habe Hunger“, jammerte der Mensch an der Tür und Lydia wurde mit einem Ruck in die Gegenwart katapultiert.

„Ulli“, wollte sie sagen, konnte jedoch wegen eines Hustenanfalls gerade noch das „U“ herausbringen.

Als sie wieder Luft bekam, zupfte sie ein Papiertaschentuch aus der Packung auf dem Sofatisch und spuckte hinein. Früher hätte sie ihren Auswurf genau untersucht, jetzt knüllte sie das Tuch zusammen und ließ es unauffällig zwischen den Kissen verschwinden. Sie wusste, wie es darin aussah und wollte ihren Sohn nicht weiter beunruhigen.

„Ich muss was essen!“ drängelte Ulli, der keine Anstalten machte, näher zu kommen.

„Ich kümmere mich darum, mein Schatz. Gib mir nur ein paar Minuten“, keuchte sie, zwischen jedem Wort nach Luft schnappend.

„Okay“, brummte er und verschwand aus ihrem Blickfeld. Kurz darauf hörte sie die Toilettenspülung und seine Zimmertür, die krachend ins Schloss fiel.

Nur ein paar Minuten, redete sie sich zu, dann steh ich auf und backe Pfannkuchen. Er muss sich mit dem zufrieden geben, was da ist. In zwei Tage gibt es wieder Geld. So lange halten wir noch durch. Lydias winzige Rente und Ullis Sozialbezüge reichten kaum für den Lebensunterhalt. Das meiste ging für sein Essen drauf. Sie selbst bekam fast nichts mehr hinunter und war nur noch ein Strich in der Landschaft. Sie musste sich zwingen, wenigstens eine Kleinigkeit zu essen. Einen Bissen weiches Brot mit Margarine bestrichen, ein paar Löffel Suppe, ein winziges Stück Schokolade oder ein Schälchen Haferbrei.

Ulli konnte Unmengen verschlingen. Döner, Pommes, Pizza, XXL-Burger, Chickenwings, Megatüten Chips und Berge von Süßigkeiten. Dazu trank er Literweise Cola. Wenigstens raucht er nicht, dachte Lydia nachsichtig.

Ihr Brustkorb schmerzte. Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihr endlich, sich aufzurichten und nach den Tabletten zu greifen. Sie steckte zwei in ihren ausgetrockneten Mund und spülte sie mit abgestandenem Leitungswasser aus einem halbleeren Glas hinunter. Sofort wurde ihr übel und sie musste sich wieder zurücklehnen.

Sie musste sich dringend um Tablettennachschub kümmern. In absehbarer Zeit auch um Sauerstoff. Den beunruhigenden Gedanken an ihren Onkologen wischte sie energisch beiseite. Da Ulli kaum dazu zu bewegen sein würde, ihr die Medikamente zu besorgen, würde sie ihren Hausarzt anrufen und um die Zusendung eines Rezeptes bitten. Wozu hatten Apotheken einen Lieferdienst? Wenn der Arzt ihr einen Termin aufdrängen wollte, müsste sie eben eine Ausrede erfinden. Ihr würde schon etwas einfallen.

Bei der letzten Nachuntersuchung vor einem halben Jahr hatte er versucht, sie von einem neuen MRT zu überzeugen. Sie hatte abgewunken, weil sie wusste, worauf es hinauslaufen würde. Auf das MRT würde die Bronchoskopie folgen, danach, je nachdem wie weit sich der Krebs schon in den verbliebenen Lungenflügel gefressen hatte, Operationen, Chemotherapien und Bestrahlungen. Noch einmal würde sie diese Tortur nicht durchstehen. Es war zu spät. Sie wusste, wie es um sie stand. Der Tod war ganz in ihrer Nähe und wartete geduldig auf den Moment, an dem sie bereit war, mit ihm fortzugehen. An Tagen, an denen sie es vor Schwäche kaum aus dem Bett auf die Toilette schaffte, spürte sie, wie er sich ihr näherte. Wie gern hätte sie sich ihm dann anvertraut, um mit ihm in den weiten, zeitlosen Raum zu schweben, wo nichts mehr wehtat und nichts mehr erledigt werden musste. Sie war 75 und hatte mit ihrem Leben abgeschlossen. Manchmal fragte sie sich, wie sie überhaupt so alt hatte werden können.

Aber noch war es nicht so weit. Der Sensenmann musste warten und sie noch eine Weile weiterkämpfen. Nicht für sich, sondern für Ulli, den einzigen Menschen den sie wirklich liebte. Und für diese überwältigende Erfahrung war sie ihm etwas schuldig. Sie war schon 43 gewesen, als sie noch einmal schwanger geworden war und beschlossen hatte, dieses Mal nicht abzutreiben. Was hatte sie ihrem Sohn nicht alles zugemutet. Entzüge, Rückfälle, Klinikaufenthalte, neue Rückfälle, Gefängnis und Wohnungslosigkeit. Monatelang hatte er in Heimen leben müssen, weil seine Mutter zu kaputt war, um für ihn zu sorgen. Wer sein Vater war, wusste Lydia nicht genau. Irgendein Freier vom Drogenstrich, vermutete Ulli, dem es inzwischen egal war. Zumindest tat er so.

Aber dann hatte Lydia doch noch die Kurve gekriegt und ihren Sohn wieder zu sich nehmen dürfen. Das war vor 20 Jahren gewesen. Der Tod ihrer Mutter hatte den Ausschlag gegeben. Damals hatte sie deren Wohnung übernehmen und Ulli zum ersten Mal ein richtiges Zuhause bieten können. Damals war er 13 und brachte schon über 90 Kilogramm auf die Waage. Seit er bei ihr lebte, war sie clean und hatte keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Nur das Rauchen konnte sie bis heute nicht lassen, obwohl sie nur noch einen Lungenlappen besaß und dieser auch nicht mehr richtig funktionierte.

Die Tabletten begannen zu wirken. Mit den Schmerzen ließ auch die Übelkeit nach. Sie stemmte sich hoch und kam auf die Beine. Auf dem Weg in die Küche hörte sie Ulli in seinem Zimmer rumoren. Sicher suchte er nach etwas Essbarem zwischen den leeren Verpackungen die überall herumlagen. Sie durfte sein Zimmer schon lange nicht mehr betreten, konnte sich aber vorstellen, wie es darin aussah.

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