Читать книгу Honoré de Balzac – Gesammelte Werke - Оноре де'Бальзак, Honoré de Balzac, Balzac - Страница 45

Der Todeskampf

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In den ers­ten De­zem­ber­ta­gen schritt ein sieb­zig­jäh­ri­ger Greis un­ge­ach­tet des Re­gens durch die Rue de Va­ren­nes, schau­te an je­dem Ge­bäu­de em­por und such­te mit der Nai­vi­tät ei­nes Kin­des und der ge­dan­ken­ver­sun­ke­nen Mie­ne ei­nes Phi­lo­so­phen die Woh­nung des Mar­quis de Va­len­tin. Aus die­sem Ge­sicht, das von lan­gen wir­ren Haa­ren um­rahmt und ein­ge­dorrt war wie ein al­tes Per­ga­ment, das sich im Feu­er krümmt, sprach bit­te­rer Kum­mer im Kampf mit ei­nem des­po­ti­schen Cha­rak­ter. Wäre ein Ma­ler die­sem selt­sa­men, klap­per­dür­ren al­ten Mann in sei­nem schwar­zen An­zug be­geg­net, hät­te er ihn, ins Ate­lier zu­rück­ge­kehrt, wahr­schein­lich so­fort in sei­nem Skiz­zen­buch ver­ewigt und dar­un­ter ge­schrie­ben: »Klas­si­scher Poet auf der Su­che nach ei­nem Reim.« Nach­dem die­ser leib­haf­tig wie­der­er­stan­de­ne Rol­lin1 die Num­mer ge­fun­den hat­te, die ihm an­ge­ge­ben wor­den war, klopf­te er be­hut­sam an das Tor ei­nes präch­ti­gen Ge­bäu­des.

»Ist Mon­sieur Ra­pha­el zu Hau­se?« frag­te der wa­cke­re Alte einen Schwei­zer in Li­vree.

»Mon­sieur le Mar­quis emp­fängt nie­man­den«, er­wi­der­te der Die­ner und ver­schlang da­bei eine rie­si­ge Brot­schei­be, die er in eine große Kaf­fee­tas­se ge­tunkt hat­te.

»Sein Wa­gen steht dort«, sag­te der un­be­kann­te Alte und wies auf eine glän­zen­de Equi­pa­ge, die un­ter ei­nem höl­zer­nen Vor­dach in Form ei­nes Zel­tes stand, das zu­gleich die Stu­fen der Freitrep­pe vor dem Re­gen schütz­te. »Er wird bald aus­fah­ren, ich wer­de war­ten.«

»Ja, Al­ter­chen, da kön­nen Sie bis mor­gen früh hier war­ten«, ver­setz­te der Schwei­zer. »Es steht im­mer ein Wa­gen für Mon­sieur be­reit. Bit­te, ge­hen Sie; ich wür­de 600 Fran­cs Lei­b­ren­te ver­lie­ren, wenn ich nur ein­mal un­er­laubt einen frem­den Men­schen ein­tre­ten lie­ße.«

In die­sem Au­gen­blick trat ein hoch­ge­wach­se­ner Greis, des­sen Tracht der ei­nes Tür­hü­ters in ei­nem Mi­nis­te­ri­um glich, aus dem Ves­ti­bül und stieg rasch ein paar Stu­fen her­ab, wo­bei er den ver­blüfft da­ste­hen­den be­jahr­ten Bitt­stel­ler prü­fend mus­ter­te.

»Da kommt üb­ri­gens Mon­sieur Jo­na­thas«, sag­te der Schwei­zer, »spre­chen Sie mit ihm.«

Die bei­den al­ten Män­ner, die sich durch Sym­pa­thie oder durch ge­gen­sei­ti­ge Neu­gier zu­ein­an­der hin­ge­zo­gen fühl­ten, tra­fen in der Mit­te des wei­ten In­nen­ho­fes zu­sam­men an ei­nem Ron­dell, wo zwi­schen den Pflas­ter­stei­nen ein paar Gras­bü­schel wuch­sen. Schreck­li­che Stil­le herrsch­te in die­sem Palast. Wer Jo­na­thas sah, war ver­sucht, das Ge­heim­nis zu lüf­ten, das sei­ne Züge be­schat­te­te und von dem jede Klei­nig­keit in die­sem düs­te­ren Hau­se zeug­te. Als er die rie­si­ge Erb­schaft sei­nes Oheims an­ge­tre­ten hat­te, war es Ra­phaels ers­te Sor­ge ge­we­sen, her­aus­zu­fin­den, wo der alte er­ge­be­ne Die­ner leb­te, auf des­sen An­häng­lich­keit er sich ver­las­sen konn­te. Jo­na­thas wein­te vor Freu­de, als er sei­nen jun­gen Herrn wie­der­sah, dem er für ewig Le­be­wohl ge­sagt zu ha­ben glaub­te; aber nichts kam sei­nem Glück gleich, als der Mar­quis ihm die wich­ti­gen Auf­ga­ben ei­nes Ver­wal­ters über­trug. Der alte Jo­na­thas wur­de eine Zwi­schen­in­stanz zwi­schen Ra­pha­el und der Welt. Obers­ter Ver­mö­gens­ver­wal­ter sei­nes Herrn, blin­der Voll­stre­cker ei­nes un­be­kann­ten Wil­lens, war er gleich­sam ein sechs­ter Sinn, durch den al­lein die Wel­len des Le­bens zu Ra­pha­el ge­lang­ten.

»Mon­sieur«, sag­te der Alte zu Jo­na­thas und stieg ein paar Stu­fen der Freitrep­pe hin­auf, um sich vor dem Re­gen zu schüt­zen, »ich möch­te Mon­sieur Ra­pha­el spre­chen.«

»Mon­sieur le Mar­quis spre­chen?« rief der Ver­wal­ter; »kaum daß er ein Wort zu mir sagt, und ich bin doch sein Pfle­ge­va­ter!«

»Aber auch ich bin sein Pfle­ge­va­ter!« rief der alte Mann; »wenn Ihre Frau ihn einst säug­te, so war ich es, der ihn den Mu­sen an die Brust leg­te. Er ist mein Pfleg­ling, mein Kind, mein ca­rus alum­nus!2 Ich habe sei­nen Ver­stand ge­formt, sein Ur­teils­ver­mö­gen ent­wi­ckelt, sei­nen Geist ge­schärft, und, wie ich zu be­haup­ten wage, mir zur Ehre und zum Ruhm. Ist er nicht ei­ner der be­deu­tends­ten Män­ner un­se­rer Zeit? Bei mir war er in der Sex­ta, in der Ter­tia und in der Klas­se für Rhe­to­rik. Ich bin sein Leh­rer.«

»Ah! Sie sind Mon­sieur Por­ri­quet?«

»Rich­tig. Aber Mon­sieur …«

»Pst! pst!« fuhr Jo­na­thas zwei Kü­chen­jun­gen an, de­ren Stim­men das klös­ter­li­che Schwei­gen bra­chen, das über dem Hau­se ruh­te.

»Aber, Mon­sieur«, be­gann der Leh­rer von neu­em, »der Mar­quis ist doch hof­fent­lich nicht krank?«

»Oh, Mon­sieur«, er­wi­der­te Jo­na­thas, »Gott al­lein weiß, wie es um mei­nen Herrn steht. Se­hen Sie, es gibt in Pa­ris kein zwei­tes Haus wie das un­se­re. Ver­ste­hen Sie? Kein zwei­tes. Mon­sieur le Mar­quis hat die­sen Palast, der vor­mals ei­nem Her­zog und Pair ge­hört hat, kau­fen las­sen. Er hat es für 300 000 Fran­cs aus­stat­ten las­sen. Nicht wahr, das ist doch ein Sümm­chen: 300 000 Fran­cs! Aber da­für ist auch je­des Zim­mer un­se­res Hau­ses ein wah­res Wun­der. ›Schön!‹ sag ich mir also, wie ich die­se Herr­lich­keit sehe, ›das ist ganz so wie beim se­li­gen Mon­sieur, sei­nem Groß­va­ter: der jun­ge Mar­quis will die Stadt und den Hof emp­fan­gen.‹ Nichts da­mit. Mon­sieur woll­te kei­ne Men­schen­see­le se­hen. Er führt ein ko­mi­sches Le­ben, Mon­sieur Por­ri­quet, wis­sen Sie? Ein un­ver­träg­li­ches Le­ben. Mon­sieur steht je­den Tag zur sel­ben Stun­de auf. Ich al­lein, und wei­ter nie­mand, se­hen Sie, darf in sein Zim­mer. Ich öff­ne um sie­ben Uhr die Tür, im Som­mer wie im Win­ter. Das ist ein für al­le­mal fest­ge­legt. Nach dem Ein­tre­ten sage ich: Mon­sieur le Mar­quis, Sie müs­sen auf­wa­chen und sich an­klei­den. Schön, er wacht auf und klei­det sich an. Ich muß ihm sei­nen Haus­rock ge­ben, der im­mer nach dem­sel­ben Schnitt und aus dem­sel­ben Stoff ge­macht ist. Ist er ab­ge­tra­gen, so habe ich für einen neu­en zu sor­gen, nur um ihn der Mühe zu ent­he­ben, einen neu­en zu ver­lan­gen. Man stel­le sich das ein­mal vor! Al­ler­dings hat er auch 1000 Fran­cs täg­lich zu ver­zeh­ren, der lie­be Jun­ge kann tun, was er will. Und üb­ri­gens habe ich ihn so lieb, ich wür­de ihm die lin­ke Ba­cke hin­hal­ten, wenn er mir eine Back­pfei­fe auf die rech­te gäbe! Er könn­te mir noch viel schwie­ri­ge­re Din­ge auf­tra­gen, ich wür­de al­les tun, ver­ste­hen Sie? Und dann habe ich so viel Klein­kram für ihn zu er­le­di­gen, daß ich kaum weiß, wo mir der Kopf steht. Also nicht wahr, er liest Zei­tun­gen? Laut Be­fehl habe ich sie auf ein und die­sel­be Stel­le auf ein und den­sel­ben Tisch zu le­gen. Ich muß ihn auch in ei­ge­ner Per­son und stets zur näm­li­chen Stun­de ra­sie­ren und zit­te­re da­bei nicht im ge­rings­ten. Der Koch wür­de 1000 Ta­ler Lei­b­ren­te ver­lie­ren, die ihn nach dem Tod von Mon­sieur er­war­ten, wenn das Früh­stück nicht un­wei­ger­lich je­den Mor­gen Punkt zehn Uhr und das Di­ner Punkt fünf Uhr auf dem Ti­sche stän­den. Der Spei­se­plan ist für das gan­ze Jahr fest­ge­legt, Tag für Tag. Mon­sieur le Mar­quis bleibt nichts zu wün­schen üb­rig. Er hat Erd­bee­ren, wenn es Erd­bee­ren gibt, und die ers­te Ma­kre­le, die in Pa­ris an­kommt, ißt er. Das Menü ist ge­druckt, er weiß am Mor­gen aus­wen­dig, was er zum Di­ner be­kommt. Fer­ner klei­det er sich zur näm­li­chen Stun­de mit den näm­li­chen Klei­dern, der näm­li­chen Wä­sche, die ich im­mer – ver­ste­hen Sie? – auf den näm­li­chen Ses­sel lege. Ich habe auch da­für zu sor­gen, daß er im­mer das­sel­be Tuch hat, not­falls, wenn bei­spiels­wei­se sein Rock schä­big wird, muß ich einen neu­en da­für hin­le­gen und darf kein Wort dar­über ver­lie­ren. Ist es schö­nes Wet­ter, so gehe ich hin­ein und sage zu mei­nem Herrn: »Sie soll­ten aus­fah­ren, Mon­sieur le Mar­quis!« Er ant­wor­tet ja oder nein. Will er aber spa­zie­ren­fah­ren, so war­tet er nicht auf sei­ne Pfer­de, sie sind im­mer an­ge­spannt; der Kut­scher sitzt un­wei­ger­lich mit der Peit­sche in der Hand, wie Sie ihn da se­hen. Abends nach dem Di­ner fährt der Mon­sieur ein­mal in die Oper und ein an­der­mal zu den Ital … aber nein, bei den Ita­li­e­nern3 war er noch nicht, ich habe mir erst ges­tern eine Loge ver­schaf­fen kön­nen. Um elf Uhr pünkt­lich kommt er nach Hau­se und legt sich schla­fen. Wäh­rend der Zwi­schen­zei­ten am Tag, wo er nichts zu tun hat, liest er; er liest im­mer­zu, se­hen Sie! Das ist so sei­ne fixe Idee! Ich habe Be­fehl, vor ihm das »Jour­nal de la Li­brai­rie« zu le­sen und die neu­en Bü­cher zu be­sor­gen, da­mit er sie am Tage des Er­schei­nens auf sei­nem Ka­min lie­gen hat. Wei­ter­hin bin ich ge­hal­ten, stünd­lich zu ihm hin­ein­zu­ge­hen, um nach dem Feu­er, nach al­lem zu schau­en und dar­auf zu ach­ten, daß nichts fehlt. Er hat mir ein klei­nes Buch zum Aus­wen­dig­ler­nen ge­ge­ben, Mon­sieur, wo alle mei­ne Pf­lich­ten drin­ste­hen, ein klei­ner Ka­te­chis­mus! Im Som­mer muß ich mit großen Eis­blö­cken die Tem­pe­ra­tur im­mer gleich­mä­ßig kühl hal­ten und je­der­zeit über­all fri­sche Blu­men auf­stel­len. Er ist reich! Er hat 1000 Fran­cs täg­lich zu ver­zeh­ren, er kann sei­nen Lau­nen nach­ge­hen. Lan­ge ge­nug hat der arme Jun­ge so­gar das Not­wen­digs­te ent­behrt. Er quält nie­man­den, er ist gut wie das täg­li­che Brot, nie sagt er ein ein­zi­ges Wort, und Sie se­hen: völ­li­ges Schwei­gen im Haus und im Gar­ten! Kurz, mein Herr braucht kei­nen ein­zi­gen Wunsch zu äu­ßern, al­les läuft am Schnür­chen und ex­akt! Er hat auch ganz recht: wenn man die Die­ner­schaft nicht kurz­hält, geht al­les drun­ter und drü­ber. Ich sage ihm al­les, was er tun muß, und er hört auf mich. Sie kön­nen sich kaum vor­stel­len, wie weit er das ge­trie­ben hat. Sei­ne Ge­mä­cher sind in ei­ner … ei­ner … na, wie denn nun? … in ei­ner Flucht, will ich sa­gen. Aber macht er nun, sa­gen wir ein­mal, die Tür sei­nes Schlaf­zim­mers oder sei­nes Stu­dier­zim­mers auf, … krach! öff­nen sich alle Tü­ren von selbst durch einen Mecha­nis­mus. Se­hen Sie, so kann er in sei­nem Haus von ei­nem Zim­mer zum an­de­ren ge­hen und braucht kei­ne ein­zi­ge Tür zu öff­nen. Das ist be­quem und prak­tisch und sehr an­ge­nehm für uns! Aber das hat uns einen Bat­zen Geld ge­kos­tet, das kön­nen Sie glau­ben! Und, Mon­sieur Por­ri­quet, schließ­lich und end­lich hat er zu mir ge­sagt: ›Jo­na­thas, du wirst für mich sor­gen wie für ein Wi­ckel­kind.‹ Ein Wi­ckel­kind, so hat er ge­sagt, wie für ein Wi­ckel­kind hat er ge­sagt. ›Du wirst für mich an mei­ne Be­dürf­nis­se den­ken …‹ Ich bin der Herr, ver­ste­hen Sie? Er ist so­zu­sa­gen der Die­ner. Wa­rum? Ja, sa­gen wir ein­mal, das weiß nie­mand in der Welt als er und der lie­be Gott. Das ist un­wei­ger­lich.«

»Er ar­bei­tet an ei­ner Dich­tung«, rief der alte Pro­fes­sor.

»Sie glau­ben, er schreibt ein Ge­dicht, Mon­sieur? Das muß ja eine schö­ne Pla­cke­rei sein, was? Aber se­hen Sie, ich glaub das nicht. Er sagt mir oft, er wol­le durch­aus ver­ge­tie­ren, ja, sa­gen wir ein­mal, ganz ve­ge­ta­tie­risch wol­le er le­ben. Ja, erst ges­tern, Mon­sieur Por­ri­quet, be­sah er sich eine Tul­pe, so beim An­klei­den, wis­sen Sie, und da sag­te er: »So ist mein Le­ben. Ich ver­ge­tie­re, gu­ter Jo­na­thas!« Nun wahr­haf­tig, es gibt an­de­re, die be­haup­ten, er sei ein Mo­no­ma­ne. Das ist un­wei­ger­lich!«

»Das al­les be­weist mir«, ver­setz­te der Pro­fes­sor mit schul­meis­ter­li­cher Wür­de, die dem al­ten Kam­mer­die­ner tie­fen Re­spekt ein­flö­ßte, »daß Ihr Herr sich mit ei­nem großen Werk be­schäf­tigt. Er ist in tie­fe Me­di­ta­tio­nen ver­sun­ken und will durch die Be­dürf­nis­se des ge­mei­nen Le­bens nicht da­von ab­ge­lenkt wer­den. Ein geist­vol­ler Mensch ver­gißt in sei­ner Ge­dan­ken­ar­beit al­les. Ei­nes Ta­ges ver­brach­te der be­rühm­te New­ton …«

»Ah! New­ton, schön …«, sag­te Jo­na­thas; »den ken­ne ich nicht.«

»New­ton, ein großer Ma­the­ma­ti­ker«, fuhr Por­ri­quet fort, »blieb 24 Stun­den un­be­weg­lich sit­zen, die Ell­bo­gen auf einen Tisch ge­stützt; als er aus sei­nem Sin­nen er­wach­te, glaub­te er, es sei noch der vo­ri­ge Abend, als hät­te er ge­schla­fen. Ich will den lie­ben Jun­gen se­hen, ich kann ihm nütz­lich sein.«

»Halt!« rief Jo­na­thas. »Und wenn Sie der Kö­nig von Frank­reich wä­ren, der alte na­tür­lich, wür­den Sie nur hin­ein­ge­lan­gen, wenn Sie die Tü­ren spreng­ten und über mich hin­weg­schrit­ten. Aber, Mon­sieur Por­ri­quet, ich lauf hin und sag ihm, daß Sie da sind, und fra­ge ihn etwa so: ›Soll man ihn her­auf­kom­men las­sen?‹ Dann kann er ja oder nein ant­wor­ten. Nie­mals sage ich zu ihm: ›Wün­schen Sie? Wol­len Sie? Möch­ten Sie?‹ Sol­cher­lei Wor­te sind aus un­se­rem Ge­spräch ge­stri­chen. Ein­mal ist mir solch eins ent­wischt, und da frag­te er mich gleich in vol­lem Zorn: ›Willst du mich tö­ten?‹

Jo­na­thas ließ den al­ten Leh­rer im Ves­ti­bül zu­rück und be­deu­te­te ihm, sich nicht von der Stel­le zu rüh­ren; aber es dau­er­te nicht lan­ge, bis er mit ei­nem güns­ti­gen Be­scheid zu­rück­kam und den al­ten pen­sio­nier­ten Pro­fes­sor durch kost­bar aus­ge­stat­te­te Ge­mä­cher führ­te, de­ren Tü­ren samt und son­ders of­fen­stan­den. Por­ri­quet sah sei­nen Schü­ler schon von wei­tem an sei­nem Ka­min sit­zen. Ra­pha­el trug einen auf­fal­lend ge­mus­ter­ten Schlaf­rock, saß in ei­nem be­que­men Lehn­stuhl und las die Zei­tung. Die tie­fe Schwer­mut, der er zum Op­fer ge­fal­len schi­en, drück­te sich in der hin­fäl­li­gen Hal­tung sei­nes ab­ge­zehr­ten Kör­pers aus; sie stand auf sei­ner Stirn und auf sei­nem blei­chen Ant­litz, das ei­ner ver­küm­mer­ten Blü­te glich. Sei­ne Er­schei­nung ver­riet eine ge­wis­se weib­li­che An­mut und die rei­chen Kran­ken ei­ge­nen bi­zar­ren Ab­son­der­lich­kei­ten. Sei­ne Hän­de wa­ren weiß, weich und zart wie die ei­ner hüb­schen Frau. Sei­ne blon­den, be­reits schüt­teren Haa­re lock­ten sich mit ge­such­ter Ko­ket­te­rie um sei­ne Schlä­fen. Eine grie­chi­sche Kap­pe aus Kasch­mir wur­de von ei­ner für den leich­ten Stoff zu schwe­ren Quas­te her­un­ter­ge­zo­gen und saß schief auf sei­nem Kopf. Er hat­te ein mit Gold aus­ge­leg­tes Mala­chit­mes­ser, das er zum Auf­schnei­den ei­nes Bu­ches be­nutzt hat­te, acht­los zu Bo­den fal­len las­sen. Auf sei­nen Kni­en lag das Bern­stein­mund­stück ei­ner pracht­vol­len in­di­schen Nar­gi­leh,4 de­ren gla­sier­ter Schlauch sich wie eine Schlan­ge in sei­nem Zim­mer rin­gel­te, doch er ver­gaß, ih­ren fri­schen Duft ein­zu­zie­hen. Die of­fen­kun­di­ge Schwä­che sei­nes jun­gen Kör­pers wur­de in­des­sen von blau­en Au­gen Lü­gen ge­straft, in die sich das gan­ze Le­ben zu­rück­ge­zo­gen zu ha­ben schi­en: ein au­ßer­or­dent­li­ches Ge­fühl strahl­te aus ih­nen, das so­gleich er­griff. Die­ser Blick tat weh, wenn man ihn sah. Der eine moch­te Verzweif­lung dar­in le­sen; ein an­de­rer einen in­ne­ren Kampf ah­nen, der so schreck­lich sein muß­te wie Ge­wis­sen­spein. Es war der tie­fe Blick des Ohn­mäch­ti­gen, der sei­ne Wün­sche auf den Grund sei­nes Her­zens zu­rück­drängt, oder der Blick des Gei­zi­gen, der in Ge­dan­ken mit all den Freu­den spielt, die sein Geld ihm ver­schaf­fen könn­te und auf die er ver­zich­tet, um sei­nen Schatz nicht an­zu­tas­ten; oder der Blick des ge­fes­sel­ten Pro­me­theus, des ge­schei­ter­ten Na­po­le­on, der 1815 im Elysée vom stra­te­gi­schen Feh­ler5 sei­ner Fein­de er­fährt, für 24 Stun­den das Kom­man­do ver­langt und es nicht er­hält. Wahr­haft der Blick des Ero­be­rers und Ver­damm­ten! Ja, mehr noch, der Blick, den Ra­pha­el ei­ni­ge Mo­na­te zu­vor auf die Sei­ne oder auf das letz­te Gold­stück ge­wor­fen hat­te, das er im Spiel setz­te. Er un­ter­warf sei­nen Wil­len, sei­nen In­tel­lekt dem plum­pen ge­sun­den Men­schen­ver­stand ei­nes al­ten Bau­ern, den 50 Jah­re Dienst­stel­lung nur not­dürf­tig zi­vi­li­siert hat­ten. Fast froh, eine Art Au­to­mat zu wer­den, ent­sag­te er dem Le­ben, um zu le­ben, und ver­sag­te sei­ner See­le alle Poe­sie des Wün­schens. Um der grau­sa­men Macht, de­ren Her­aus­for­de­rung er an­ge­nom­men hat­te, bes­ser ent­ge­gen­zu­tre­ten, war er nach Art des Ori­ge­nes6 keusch ge­wor­den, in­dem er sei­ne Phan­ta­sie ent­mann­te. An dem Tag, nach­dem er, durch ein Te­sta­ment schlag­ar­tig reich ge­wor­den, ge­se­hen hat­te, wie das Cha­grin­le­der klei­ner wur­de, hat­te er sei­nen No­tar auf­ge­sucht. Dort hat­te ein da­mals be­lieb­ter Arzt beim Des­sert al­len Erns­tes er­zählt, wie ein Schwei­zer sich von der Schwind­sucht ge­heilt hat­te. Die­ser Mann hat­te zehn Jah­re lang kein Wort ge­spro­chen und sich ge­zwun­gen, nur sechs­mal in der Mi­nu­te in der di­cken Luft ei­nes Kuh­stal­les zu at­men, au­ßer­dem hat­te er nur ganz leich­te Spei­sen zu sich ge­nom­men. »So wer­de ich es auch ma­chen!« hat­te sich Ra­pha­el ge­sagt. Er woll­te um je­den Preis le­ben. Von Lu­xus um­ge­ben, führ­te er das Le­ben ei­ner Ma­schi­ne. Als der alte Pro­fes­sor die­sen jun­gen Leich­nam an­sah, er­beb­te er; al­les schi­en ihm an die­sem schmäch­ti­gen und ge­brech­li­chen Kör­per künst­lich zu sein. In die­sem Mar­quis mit dem bren­nen­den Blick, der ge­dan­ken­schwe­ren Stirn konn­te er nicht mehr den Schü­ler mit dem fri­schen und ro­si­gen Ge­sicht, den ju­gend­li­chen Glie­dern er­ken­nen, wie er in sei­ner Erin­ne­rung leb­te. Wenn der wa­cke­re Ver­fech­ter klas­si­scher Idea­le, der fein­sin­ni­ge Kri­ti­ker und Be­wah­rer des gu­ten Ge­schmacks Lord By­ron ge­le­sen hät­te, hät­te er ge­glaubt, einen Man­fred vor sich zu se­hen, wo er einen Chil­de Ha­rold7 er­war­tet hat­te.

»Gu­ten Tag, Va­ter Por­ri­quet«, sag­te Ra­pha­el zu sei­nem Leh­rer und drück­te die ei­si­gen Fin­ger des al­ten Man­nes mit sei­ner hei­ßen, feuch­ten Hand. »Wie geht es Ih­nen?«

»Mir geht es schon gut«, er­wi­der­te der Greis, von der Berüh­rung mit die­ser fie­bern­den Hand er­schreckt. »Und Ih­nen?«

»Oh! Ich hof­fe, mich bei gu­ter Ge­sund­heit zu er­hal­ten.«

»Sie ar­bei­ten ohne Zwei­fel an ei­nem schö­nen Werk?«

»Nein«, er­wi­der­te Ra­pha­el, »ex­egi mo­nu­men­tum,8 Va­ter Por­ri­quet, ich habe eine große Schrift vollen­det und der Wis­sen­schaft für im­mer Va­let ge­sagt. Ich weiß nicht ein­mal ge­nau, wo mein Ma­nu­skript sich be­fin­det.«

»Es ist doch hof­fent­lich in ei­nem rei­nen Stil ge­schrie­ben?« frag­te der Pro­fes­sor; »ich hof­fe, Sie ha­ben nicht die bar­ba­ri­sche Spra­che die­ser neu­en Schu­le an­ge­nom­men, die wun­der was zu tun glaubt, wenn sie Ronsard9 ent­deckt!«

»Mein Werk ist ein rein phy­sio­lo­gi­sches Buch.«

»Oh, da­mit ist al­les ge­sagt!« gab der Pro­fes­sor zu­rück; »in den Wis­sen­schaf­ten muß die Gram­ma­tik den Er­for­der­nis­sen der Ent­de­ckun­gen Ge­nü­ge leis­ten. Nichts­de­sto­we­ni­ger, mein Sohn, kann ein kla­rer, har­mo­ni­scher Stil, die Spra­che Mas­sil­lons,10 Mon­sieur de But­tons, des großen Ra­ci­ne,11 kurz, ein klas­si­scher Stil nie von Scha­den sein. Aber, mein Freund«, un­ter­brach sich der Pro­fes­sor, »ich ver­gaß den Zweck mei­nes Be­suchs. Es ist ein ei­gen­nüt­zi­ger Be­such.«

Ra­pha­el er­in­ner­te sich zu spät der wort­rei­chen Ele­ganz und der be­red­ten Um­schrei­bun­gen, an die ein lang­jäh­ri­ges Pro­fes­so­ren­da­sein sei­nen al­ten Leh­rer ge­wöhnt hat­te. Er be­reu­te jetzt fast, ihn emp­fan­gen zu ha­ben; aber in dem Au­gen­blick, als er ge­neigt war, den Al­ten lie­ber wie­der drau­ßen zu se­hen, un­ter­drück­te er has­tig die­sen ge­hei­men Wunsch und warf einen ver­stoh­le­nen Blick auf das Cha­grin­le­der, das vor ihm, auf einen wei­ßen Stoff ge­spannt, hing, auf dem sei­ne pro­phe­ti­schen Kon­tu­ren sorg­fäl­tig mit ei­ner ro­ten Li­nie nach­ge­zo­gen wa­ren, die das Le­der ge­nau ab­schlos­sen. Seit der ver­häng­nis­vol­len Or­gie un­ter­drück­te Ra­pha­el den lei­ses­ten An­flug ei­nes Be­geh­rens und leb­te in ei­ner Wei­se, die dem schreck­li­chen Ta­lis­man nicht das ge­ring­fü­gigs­te Zu­cken ver­ur­sa­chen konn­te. Das Cha­grin­le­der war wie ein Ti­ger, mit dem er le­ben muß­te, ohne sei­ne blut­dürs­ti­gen In­stink­te zu we­cken. Er hör­te also die weit­läu­fi­gen Er­klä­run­gen des al­ten Pro­fes­sors ge­dul­dig an. Va­ter Por­ri­quet brauch­te eine Stun­de, um ihm von den Ver­fol­gun­gen zu er­zäh­len, de­ren Ge­gen­stand er seit der Ju­li­re­vo­lu­ti­on ge­wor­den war. Der bie­de­re Bür­ger hat­te, vom pa­trio­ti­schen Ver­lan­gen nach ei­ner star­ken Re­gie­rung be­seelt, ge­äu­ßert, man möge die Krä­mer in ih­ren Lä­den, die Staats­män­ner in der Lei­tung der öf­fent­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten, die Ad­vo­ka­ten im Jus­tiz­pa­last und die Pairs von Frank­reich im Lu­xem­bourg las­sen; aber ei­ner der po­pu­lä­ren Mi­nis­ter des Bür­ger­kö­nigs hat­te ihn des Kar­lis­mus be­schul­digt und ihn von sei­nem Ka­the­der ver­bannt. Der alte Mann war ohne Stel­lung, ohne Ein­künf­te, ohne Brot. Da er für einen ar­men Nef­fen zu sor­gen hat­te, für den er im Se­mi­nar von Saint-Sul­pi­ce die Pen­si­on be­zahl­te, kam er, we­ni­ger für sich selbst als für sei­nen Ad­op­tivsohn, sei­nen ehe­ma­li­gen Schü­ler zu bit­ten, er möch­te sich bei dem neu­en Mi­nis­ter für ihn ver­wen­den. Es war ihm nicht ein­mal um die Wie­der­ein­set­zung in sein frü­he­res Lehr­amt zu tun, son­dern nur um eine Rek­tor­stel­le an ir­gend­ei­nem Pro­vinz­gym­na­si­um. Ra­pha­el war von ei­ner un­über­wind­li­chen Schlaf­sucht be­fal­len, als die ein­tö­ni­ge Stim­me des red­li­chen Al­ten schließ­lich auf­hör­te, in sei­nen Ohren zu tö­nen. Aus Höf­lich­keit hat­te er dem Greis bei des­sen lang­sa­men und um­ständ­li­chen Dar­le­gun­gen in die farb­lo­sen und fast star­ren Au­gen ge­blickt, und eine un­er­klär­li­che Träg­heit war über ihn ge­kom­men und hat­te ihn ma­gne­ti­siert und fast be­täubt.

»Nun ja, gu­ter Va­ter Por­ri­quet«, er­wi­der­te er, ohne recht zu wis­sen, auf wel­che Fra­ge er ant­wor­te­te, »da kann ich nichts tun, gar nichts. Ich wün­sche leb­haft, es möch­te Ih­nen ge­lin­gen …«

Mit ei­nem­mal bäum­te sich Ra­pha­el, der gar nicht dar­auf ach­te­te, wel­che Wir­kung die­se ba­na­len, egois­ti­schen und leicht­fer­ti­gen Wor­te auf der gel­ben, runz­li­gen Stirn des Al­ten her­vor­brach­ten, hef­tig auf wie ein auf­ge­scheuch­tes jun­ges Wild. Er be­merk­te eine dün­ne wei­ße Li­nie zwi­schen dem Rand des schwar­zen Le­ders und der ro­ten Kon­tur; er stieß einen so furcht­ba­ren Schrei aus, daß der arme Pro­fes­sor ent­setzt zu­sam­men­fuhr.

»Fort, al­ter Blö­di­an!« rief er, »Sie wer­den zum Rek­tor er­nannt wer­den! Konn­ten Sie nicht eine Lei­b­ren­te von 1000 Ta­lern er­bit­ten, statt ei­nes der­art mör­de­ri­schen Wun­sches! Dann hät­te Ihr Be­such mich nichts ge­kos­tet. Es gibt 100 000 Stel­len in Frank­reich, und ich habe nur ein Le­ben! Ein Men­schen­le­ben ist mehr wert als alle Stel­len der Welt … Jo­na­thas!«

Jo­na­thas er­schi­en.

»Das hast du nun an­ge­stellt, du drei­fa­cher Trot­tel! Wa­rum hast du mir vor­ge­schla­gen, die­sen Herrn da zu emp­fan­gen?« Da­mit wies er auf den Al­ten, der wie ver­stei­nert da­stand. »Habe ich mei­ne See­le in dei­ne Hän­de ge­legt, da­mit du sie in Stücke reißt? Du hast mir in die­sem Au­gen­blick zehn Jah­re mei­nes Le­bens ge­raubt! Noch einen Feh­ler wie den, dann kannst du mich an den Ort brin­gen, wo ich mei­nen Va­ter hin­ge­bracht habe. Da hät­te ich doch wahr­haf­tig bes­ser ge­tan, die schö­ne Fœ­do­ra zu be­sit­zen, als dem al­ten Ge­rip­pe da, die­sem Jam­mer­lap­pen, einen Dienst zu er­wei­sen! Ich habe Gold für ihn ge­nug. Und au­ßer­dem, wenn alle Por­ri­quets in der Welt Hun­gers stür­ben, was küm­mert das mich?«

Ra­phaels Ge­sicht war vor Zorn fast weiß ge­wor­den; ein leich­ter Schaum trat auf sei­ne zit­tern­den Lip­pen, und in sei­nen Au­gen lag Mord­lust. Bei die­sem An­blick wur­den die bei­den Al­ten von krampf­haf­tem Zit­tern be­fal­len; sie stan­den da wie zwei Kin­der vor ei­ner Schlan­ge. Der jun­ge Mann sank in sei­nen Ses­sel zu­rück; in sei­ner See­le voll­zog sich eine Art Re­ak­ti­on, und in Strö­men flos­sen die Trä­nen aus sei­nen flam­men­den Au­gen.

»Oh, mein Le­ben! mein schö­nes Le­ben!« stöhn­te er. »Kei­ne wohl­wol­len­den Ge­dan­ken mehr! Kei­ne Lie­be! Nichts!« Er wand­te sich zum Pro­fes­sor. »Das Un­glück ist ge­sche­hen, al­ter Freund«, sag­te er mit sanf­ter Stim­me. »Sie sind für Ihre treu­en Diens­te nun reich­lich be­lohnt; und mein Un­glück wird we­nigs­tens ei­nem gu­ten und wür­di­gen Man­ne Gu­tes brin­gen.« Es lag in die­sen fast un­ver­ständ­li­chen Wor­ten so viel See­le, daß die bei­den Al­ten wein­ten, wie man wohl beim An­hö­ren ei­ner rüh­ren­den Me­lo­die in ei­ner frem­den Spra­che weint.

»Er ist Epi­lep­ti­ker«, flüs­ter­te Por­ri­quet.

»Ich ver­ste­he Ihre Güte, al­ter Freund«, ver­setz­te Ra­pha­el sanft, »Sie wol­len mich ent­schul­di­gen. Krank­heit ist ein miß­li­cher Zu­fall, Un­mensch­lich­keit hin­ge­gen wäre ein Las­ter. Ver­las­sen Sie mich jetzt!« füg­te er hin­zu. »Sie wer­den mor­gen oder über­mor­gen, viel­leicht noch heu­te abend Ihre Er­nen­nung er­hal­ten, denn der »Wi­der­stand« hat über die »Be­we­gung« ge­siegt … Adieu.«

Der Greis zog sich, von Ent­set­zen ge­packt und in leb­haf­ter Un­ru­he über Va­len­tins Geis­tes­zu­stand, zu­rück. Die­ser Auf­tritt hat­te für ihn et­was Über­na­tür­li­ches ge­habt. Er zwei­fel­te an sich selbst und frag­te sich, ob er aus ei­nem schwe­ren Traum er­wa­che.

»Höre, Jo­na­thas«, sag­te der jun­ge Mann zu sei­nem al­ten Die­ner, »gib dir Mühe, die Auf­ga­be, die ich dir an­ver­traut habe, end­lich zu be­grei­fen.«

»Ja, Mon­sieur le Mar­quis.«

»Ich bin wie ein Mensch, der au­ßer­halb der ge­wöhn­li­chen Da­seins­ge­set­ze steht.«

»Ja, Mon­sieur le Mar­quis.«

»Alle Genüs­se des Le­bens wie­gen sich um mein To­ten­bett und um­tan­zen mich wie schö­ne Frau­en; wenn ich sie rufe, st­er­be ich. Im­mer der Tod! Du mußt eine Schran­ke sein zwi­schen mir und der Welt.«

»Ja, Mon­sieur le Mar­quis«, sag­te der Die­ner und trock­ne­te die Schweiß­trop­fen, die auf sei­ner runz­li­gen Stirn stan­den. »Aber wenn Sie kei­ne schö­nen Frau­en se­hen wol­len, was wol­len Sie dann heu­te abend in der Ita­lie­ni­schen Oper? Eine eng­li­sche Fa­mi­lie, die nach Lon­don zu­rück­reist, hat mir den Rest ih­res Abon­ne­ments ab­ge­tre­ten, und Sie ha­ben eine schö­ne Loge, oh, eine präch­ti­ge Loge im ers­ten Rang.«

Ra­pha­el war in tie­fes Träu­men ver­sun­ken und hör­te nicht mehr zu.

Se­hen Sie die­sen prunk­vol­len Wa­gen, die­ses äu­ßer­lich schlich­te und brau­ne Coupé, auf des­sen Tü­ren aber das Wap­pen ei­ner al­ten Adels­fa­mi­lie glänzt? Wenn die­ses Coupé vor­über­rollt, be­wun­dern es die Gri­set­ten, wer­fen be­gehr­li­che Bli­cke auf den gel­ben At­las, die ech­te Sa­von­ne­rie­de­cke, die Bor­ten, die wie Reiss­troh blin­ken, die mol­li­gen Kis­sen und die ge­schlos­se­nen Schei­ben. Zwei La­kai­en in Li­vree ste­hen hin­ten auf die­sem ari­sto­kra­ti­schen Ge­fährt; in­nen aber liegt auf Sei­den­kis­sen ein fie­brig-bren­nen­der Kopf mit um­rän­der­ten Au­gen, der Kopf von Ra­pha­el, trau­rig und in sich ge­kehrt. Düs­te­res Bild des Reich­tums. Er rast durch Pa­ris wie eine Ra­ke­te, langt am Säu­len­vor­bau des Théâtre Fa­vart12 an, der Tritt wird her­un­ter­ge­las­sen, sei­ne bei­den Die­ner stüt­zen ihn, eine nei­di­sche Men­ge starrt ihn an.

»Was hat der ge­tan, daß er so reich ist?« frag­te ein ar­mer Stu­dent der Rech­te, dem der Ta­ler fehl­te, um die be­zau­bern­den Klän­ge Ros­si­nis hö­ren zu kön­nen.

Ra­pha­el schritt lang­sam durch die Gän­ge des Thea­ters; er ver­sprach sich von die­sem Ver­gnü­gen, das er frü­her so er­sehnt hat­te, kei­ner­lei Ge­nuß. Den zwei­ten Akt der »Se­mi­ra­mis«13 er­war­tend, ging er im Foy­er auf und ab, irr­te durch die Ga­le­ri­en, un­be­küm­mert um sei­ne Loge, die er noch nicht be­tre­ten hat­te. Das Ge­fühl für Ei­gen­tum exis­tier­te für ihn nicht mehr. Wie alle Kran­ken dach­te er nur an sein Lei­den. An den Ka­min im Foy­er ge­lehnt, wo jun­ge und alte Stut­zer, frü­he­re und jet­zi­ge Mi­nis­ter, Pairs ohne Pairs­wür­de und Pairs­wür­den ohne Pairs, wie sie die Ju­li­re­vo­lu­ti­on her­vor­ge­bracht hat, und schließ­lich eine Men­ge Spe­ku­lan­ten und Jour­na­lis­ten auf und ab wan­del­ten, er­blick­te Ra­pha­el, ei­ni­ge Schrit­te von sich ent­fernt, un­ter all die­sen Köp­fen ein selt­sa­mes, gleich­sam über­na­tür­li­ches Ge­sicht. Er nä­her­te sich die­sem ab­son­der­li­chen We­sen, um es aus der Nähe zu be­trach­ten, wo­bei er un­ge­niert die Au­gen zu­sam­men­kniff. »Was für eine wun­der­ba­re Ma­le­rei!« sag­te er sich. Die Brau­en, die Haa­re, das Spitz­bärt­chen à la Ma­za­rin, mit dem der Un­be­kann­te sich ei­tel spreiz­te, wa­ren schwarz ge­färbt; aber da das Schön­heits­mit­tel of­fen­bar auf zu wei­ßes Haar auf­ge­tra­gen war, hat­te es eine vio­let­te, wi­der­na­tür­li­che Fär­bung er­zeugt, de­ren Töne je nach den mehr oder we­ni­ger star­ken Re­fle­xen der Lich­ter wech­sel­ten. Sein schma­les und plat­tes Ge­sicht, des­sen Fal­ten mit ei­ner di­cken Schicht Pu­der und Rou­ge be­deckt wa­ren, drück­te zu­gleich Ver­schla­gen­heit und Un­ru­he aus. An ei­ni­gen Stel­len fehl­te die Schmin­ke, und das ab­ge­leb­te Ge­sicht, sei­ne blei­er­ne Haut tra­ten um so deut­li­cher her­vor; so konn­te man das La­chen nicht ver­bei­ßen, wenn man die­sen Kopf mit dem spit­zen Kinn und der vor­ste­hen­den Stirn sah, der an die gro­tes­ken Holz­schnit­ze­rei­en er­in­ner­te, die deut­sche Schä­fer in ih­ren Mu­ße­stun­den schnitz­ten. Wer ab­wech­selnd die­sen al­ten Ado­nis und Ra­pha­el be­trach­te­te, hät­te in dem Mar­quis die Au­gen ei­nes Jüng­lings in der Mas­ke ei­nes Grei­ses und in dem Un­be­kann­ten die er­lo­sche­nen Au­gen ei­nes Grei­ses in der Mas­ke ei­nes jun­gen Man­nes zu er­ken­nen ge­glaubt. Va­len­tin such­te sich zu er­in­nern, wo und wann er die­sen ver­trock­ne­ten Al­ten schon ge­se­hen hat­te, der so eine zier­li­che Hals­bin­de trug, ge­stie­felt und ge­spornt wie ein Jüng­ling ein­her­schritt, und die Arme über der Brust kreuz­te, als hät­te er alle Kräf­te ei­ner sprü­hen­den Ju­gend zu ver­schwen­den. In sei­nem Gang lag nichts Vor­ge­täusch­tes oder Erzwun­ge­nes. Den al­ten, stark­kno­chi­gen Kör­per ver­mumm­te ein ele­gan­ter, sorg­fäl­tig zu­ge­knöpf­ter Rock und ver­lieh ihm das Aus­se­hen ei­nes al­ten Ge­cken, der noch der Mode hul­digt. Die­se selt­sa­me le­ben­di­ge Pup­pe hat­te für Ra­pha­el den gan­zen Reiz ei­ner Ge­s­pens­terer­schei­nung, und er be­trach­te­te sie wie einen al­ten, ver­räu­cher­ten, kürz­lich re­stau­rier­ten, ge­fir­niß­ten und in einen neu­en Rah­men ge­steck­ten Rem­brandt. Die­ser Ver­gleich führ­te ihn in sei­nen wir­ren Erin­ne­run­gen wie­der auf die rech­te Spur: er er­kann­te den An­ti­qui­tä­ten­händ­ler wie­der, den Mann, dem er sein Un­glück ver­dank­te. In die­sem Au­gen­blick lach­te die­ser phan­tas­ti­sche Alte ein laut­lo­ses La­chen, das sich auf sei­nen blut­lee­ren Lip­pen ab­zeich­ne­te, hin­ter de­nen ein falsches Ge­biß sicht­bar war. Bei die­sem La­chen ent­deck­te Ra­phaels leb­haf­te Phan­ta­sie die frap­pie­ren­de Ähn­lich­keit die­ses Ge­sichts mit dem Ty­pus des Kop­fes, den die Ma­ler Goe­thes Me­phi­sto­phe­les ge­ge­ben ha­ben. Tau­send aber­gläu­bi­sche Vor­stel­lun­gen be­mäch­tig­ten sich Ra­phaels star­ker See­le, auf ein­mal glaub­te er an die Macht des Teu­fels, an all die He­xen­küns­te, die in den Le­gen­den des Mit­tel­al­ters über­lie­fert und von den Dich­tern auf­ge­grif­fen wor­den sind. Ihn schau­der­te vor dem Schick­sal Fausts, er rief den Him­mel an, denn den Ster­ben­den gleich er­füll­te ihn plötz­lich ein glü­hen­der Glau­be an Gott und die Jung­frau Ma­ria. Ein strah­len­des Licht ließ ihn den Him­mel Mi­che­lan­ge­los und Raf­faels schau­en: Wol­ken­ge­bil­de, einen al­ten Mann mit weißem Bart, En­gels­köp­fe, eine schö­ne Frau, von ei­nem Hei­li­gen­schein um­ge­ben. Jetzt be­griff er die­se wun­der­ba­ren Schöp­fun­gen und mach­te sie sich zu ei­gen, da ihre ge­ra­de­zu mensch­li­chen Phan­tasi­en ihm sein Aben­teu­er deu­te­ten und ihm noch eine Hoff­nung lie­ßen. Als er aber sei­ne Au­gen wie­der ins Foy­er der Oper senk­te, er­blick­te er an­stel­le der Hei­li­gen Jung­frau ein rei­zen­des Mäd­chen, die ver­dor­be­ne Eu­phra­sie, die Tän­ze­rin mit dem bieg­sa­men und gra­zi­ösen Kör­per, die in ei­nem strah­len­den, mit ori­en­ta­li­schen Per­len über­la­de­nen Ge­wand un­ge­dul­dig auf ih­ren un­ge­dul­di­gen Greis zu­schritt und sich mit ke­cker Stirn und blit­zen­den Au­gen dreist die­ser nei­disch lau­ern­den Ge­sell­schaft prä­sen­tier­te, um den gren­zen­lo­sen Reich­tum des Händ­lers zu be­zeu­gen, des­sen Schät­ze sie ver­schwen­de­te. Ra­pha­el ent­sann sich des spöt­ti­schen Wun­sches, mit dem er das ver­häng­nis­vol­le Ge­schenk des Al­ten an­ge­nom­men hat­te, und ge­noß alle Won­nen der Ra­che, da er nun die tie­fe Er­nied­ri­gung die­ser er­ha­be­nen Weis­heit sah, de­ren Sturz noch vor kur­z­em un­mög­lich schi­en. Das Gra­bes­lä­cheln des Hun­dert­jäh­ri­gen war an Eu­phra­sie ge­rich­tet, die es mit ei­nem Lie­bes­wort er­wi­der­te; er bot ihr sei­nen Kno­chen­arm, mach­te zwei- oder drei­mal die Run­de um das Foy­er, emp­fing se­lig die lei­den­schaft­li­chen Bli­cke und die Kom­pli­men­te, wel­che die Men­ge sei­ner Ge­lieb­ten zu­warf, ohne das ver­ächt­li­che La­chen und den bei­ßen­den Spott zu be­mer­ken, des­sen Ge­gen­stand er war.

»Auf wel­chem Kirch­hof hat die­ser jun­ge Vam­pir den Leich­nam aus­ge­scharrt?« rief der ele­gan­tes­te der Ro­man­ti­ker.

Eu­phra­sie lä­chel­te. Der Spöt­ter war ein schlan­ker jun­ger Mann mit blon­den Haa­ren, blau­en, strah­len­den Au­gen und ei­nem Schnurr­bart; er trug einen kur­z­en Frack, den Hut auf dem Ohr, war nicht auf den Mund ge­fal­len: ganz die Spra­che der neu­en Schu­le.

»Wie vie­le Grei­se«, sag­te sich Ra­pha­el im stil­len, »krö­nen ein ehr­ba­res, ar­beit­sa­mes, tu­gend­haf­tes Le­ben mit ei­ner Tor­heit! Der steht schon mit den Fü­ßen im Grab und hält sich eine Ge­lieb­te.«

»Nun, wie ist es?« rief er den Händ­ler an und lieb­äu­gel­te mit Eu­phra­sie; »er­in­nern Sie sich nicht mehr der stren­gen Grund­sät­ze Ih­rer Phi­lo­so­phie?«

»Ach«, ant­wor­te­te der Händ­ler mit schon ge­bro­che­ner Stim­me, »ich bin jetzt glück­lich wie ein Jüng­ling! Ich hat­te das Le­ben ver­kehrt an­ge­fan­gen. In ei­ner Lie­bes­stun­de liegt ein gan­zes Le­ben.«

In die­sem Au­gen­blick er­tön­te das Klin­gel­zei­chen, und die Zuschau­er ver­lie­ßen das Foy­er, um sich auf ihre Plät­ze zu be­ge­ben. Der Alte und Ra­pha­el trenn­ten sich. Als der Mar­quis in sei­ne Loge trat, be­merk­te er Fœ­do­ra, die ihm ge­ra­de ge­gen­über auf der an­de­ren Sei­te des Thea­ters saß. Sie war of­fen­bar eben erst ge­kom­men, lös­te ih­ren Schal, ent­blö­ßte den Hals und voll­führ­te all die un­be­schreib­li­chen klei­nen Be­we­gun­gen ei­ner Ko­kot­te, die sich zur Schau stellt: alle Bli­cke wa­ren auf sie ge­rich­tet. Ein jun­ger Pair von Frank­reich be­glei­te­te die Com­tes­se; sie ließ sich von ihm das Opern­glas rei­chen, das sie ihm zu tra­gen ge­ge­ben hat­te. An ih­ren Ges­ten, an der gan­zen Art, wie sie den neu­en Ver­eh­rer an­sah, er­riet Ra­pha­el, wel­cher Ty­ran­nei sein Nach­fol­ger un­ter­wor­fen war. Si­cher eben­so be­zau­bert, eben­so be­tro­gen wie einst er sel­ber und wie er mit der gan­zen Kraft ei­ner wah­ren Lie­be ge­gen die kal­ten Be­rech­nun­gen die­ser Frau an­kämp­fend, muß­te die­ser jun­ge Mann Qua­len er­lei­den, auf die Va­len­tin zu sei­nem Glück ver­zich­tet hat­te. Nach­dem Fœ­do­ra ihr Opern­glas auf alle Lo­gen ge­rich­tet und mit ei­nem Blick die Toi­let­ten ge­mus­tert hat­te, strahl­te un­be­schreib­li­che Freu­de aus ih­rem Ge­sicht; denn sie hat­te sich ver­ge­wis­sert, daß sie mit ih­rem Schmuck und ih­rer Schön­heit die schöns­ten und ele­gan­tes­ten Frau­en von Pa­ris aus­stach; sie lach­te, um ihre wei­ßen Zäh­ne zu zei­gen, und neig­te ih­ren blu­men­ge­schmück­ten Kopf leb­haft, um sich be­wun­dern zu las­sen. Ihr Blick glitt von Loge zu Loge; mal mach­te sie sich über ein Ba­rett lus­tig, das schlecht auf dem Kopf ei­ner rus­si­schen Fürs­tin saß, mal über einen ge­schmack­lo­sen Hut, der ei­ner Ban­kier­s­toch­ter ab­scheu­lich schlecht stand. Plötz­lich wur­de sie blaß, sie war den star­ren Au­gen Ra­phaels be­geg­net; ihr ver­schmäh­ter Lieb­ha­ber schmet­ter­te sie mit ei­nem un­er­träg­li­chen Blick der Ver­ach­tung nie­der. Kei­ner ih­rer in Un­gna­de ge­fal­le­nen Lieb­ha­ber ent­zog sich ih­rer Macht, nur Ra­pha­el war, als ein­zi­ger von al­len, ge­gen ihre Ver­füh­rungs­küns­te ge­feit. Eine Macht, der man un­ge­straft trot­zen kann, nä­hert sich dem Un­ter­gang. Die­ser Grund­satz ist in ein Frau­en­herz tiefer ein­ge­gra­ben als in das Hirn der Kö­ni­ge. So sah denn Fœ­do­ra in Ra­pha­el das Ende ih­res Ruhms und ih­rer Ko­ket­te­rie. Ein Wört­chen, das er ges­tern in der Oper hat­te fal­len­las­sen, war in sämt­li­chen Pa­ri­ser Sa­lons von Mund zu Mund ge­gan­gen. Der schnei­den­de Witz die­ses furcht­ba­ren Epi­gramms hat­te die Com­tes­se un­heil­bar ver­letzt. Wir kön­nen in Frank­reich zwar eine Wun­de aus­bren­nen, aber wir ken­nen noch kein Heil­mit­tel ge­gen den Scha­den, den ein Wort an­rich­tet. In dem Au­gen­blick, da alle Frau­en ab­wech­selnd auf den Mar­quis und auf sie blick­ten, hät­te Fœ­do­ra ihn in ein Ver­lies der Ba­stil­le stür­zen mö­gen; denn trotz all ih­rer Ver­stel­lungs­kunst, die Ri­va­lin­nen er­rie­ten, wie sie litt. Und schließ­lich wur­de sie ih­res letz­ten Tros­tes be­raubt. Die köst­li­chen Wor­te: »Ich bin die Schöns­te!«, die­ser ewi­ge Satz, der alle Küm­mer­nis­se ih­rer Ei­tel­keit be­sänf­tig­te, fing an zur Lüge zu wer­den. Wäh­rend des Vor­spie­les zum zwei­ten Akt nahm eine Frau in Ra­phaels Nähe Platz, in der Nach­bar­lo­ge, die bis da­hin leer ge­blie­ben war. Aus dem Par­terre drang ein Mur­meln der Be­wun­de­rung. Alle Au­gen und alle Sin­ne in die­sem Meer von mensch­li­chen Ge­sich­tern wa­ren auf die Un­be­kann­te ge­rich­tet. Jung und alt ge­rie­ten in eine so lang an­hal­ten­de Un­ru­he, daß die Mu­si­ker im Or­che­s­ter sich, wäh­rend der Vor­hang hoch­ging, erst ein­mal um­dreh­ten, um Schwei­gen zu ge­bie­ten; aber auch sie bra­chen in bei­fäl­li­ge Rufe aus und ver­mehr­ten so den wir­ren Lärm. Leb­haf­te Un­ter­hal­tung setz­te in je­der Loge ein. Die Frau­en hat­ten sich alle mit ih­ren Opernglä­sern be­waff­net, Grei­se wur­den wie­der jung und putz­ten mit dem Le­der ih­rer Hand­schu­he die Lor­gnet­ten. All­mäh­lich flau­te die Be­geis­te­rung ab; auf der Büh­ne be­gann der Ge­sang; al­les kehr­te zur Ord­nung zu­rück. Die gute Ge­sell­schaft schäm­te sich, ei­ner na­tür­li­chen Re­gung nach­ge­ge­ben zu ha­ben, und nahm wie­der die ari­sto­kra­ti­sche Käl­te ih­rer hö­fi­schen Ma­nie­ren an. Die Rei­chen wol­len über nichts stau­nen, sie wol­len beim ers­ten An­blick ei­nes schö­nen Werks den Feh­ler ent­de­cken, der sie der Be­wun­de­rung – ei­nem nie­de­ren Emp­fin­den – ent­hebt. In­des­sen blie­ben doch ei­ni­ge Män­ner reg­los, ohne die Mu­sik zu hö­ren, in nai­ver Be­wun­de­rung ver­lo­ren und hör­ten nicht auf, Ra­phaels Nach­ba­rin zu be­trach­ten. Va­len­tin be­merk­te in ei­ner Par­ter­re­lo­ge ne­ben Aqui­li­na das ge­mei­ne, blut­un­ter­lau­fe­ne Ge­sicht Tail­le­fers, der ihm wohl­wol­lend zu­grins­te. Dann sah er Émi­le, der in sei­ner Or­che­s­ter­lo­ge stand und ihm zu sa­gen schi­en: »Aber sieh doch das himm­li­sche Ge­schöpf ne­ben dir an!« Schließ­lich ent­deck­te er noch Ras­ti­gnac, der ne­ben Ma­da­me de Nu­cin­gen und ih­rer Toch­ter saß und die Hand­schu­he un­ru­hig in der Hand ball­te, als sei er ver­zwei­felt, an sei­nen Platz ge­bannt zu sein und nicht zu der ent­zücken­den Un­be­kann­ten ei­len zu kön­nen. Ra­phaels Le­ben hing von ei­nem Pakt ab, den er mit sich selbst ge­schlos­sen und bis jetzt noch nicht ver­letzt hat­te: er hat­te sich ge­lobt, nie­mals ein weib­li­ches We­sen auf­merk­sam an­zu­se­hen; und um sich vor je­der Ver­su­chung zu schüt­zen, be­nutz­te er ein Opern­glas, des­sen Glä­ser so kunst­voll ge­schlif­fen wa­ren, daß es die Har­mo­nie der schöns­ten Züge zer­stör­te und ih­nen ein häß­li­ches Aus­se­hen gab. Ra­pha­el stand noch un­ter dem Ein­druck des Ent­set­zens, das ihn heu­te mor­gen er­grif­fen hat­te, als sich der Ta­lis­man auf einen bloß aus Höf­lich­keit ge­äu­ßer­ten Wunsch un­ver­züg­lich zu­sam­men­ge­zo­gen hat­te, und war fest ent­schlos­sen, sich nicht nach sei­ner Nach­ba­rin um­zu­wen­den. Er saß da wie eine Her­zo­gin, mit dem Rücken ge­gen die Ecke sei­ner Loge und nahm der Un­be­kann­ten rück­sicht­los den hal­b­en Aus­blick auf die Büh­ne, ge­ra­de­so, als wäre sie für ihn Luft, als wüß­te er gar nicht, daß eine schö­ne Frau hin­ter ihm saß. Die Nach­ba­rin ahm­te Va­len­tins Stel­lung ge­nau nach. Sie hat­te ih­ren Ell­bo­gen auf die Brüs­tung der Loge ge­stützt und wand­te den Kopf zu drei Vier­teln den Sän­gern zu; es sah aus, als säße sie ei­nem Ma­ler. Die bei­den gli­chen zwei ver­zank­ten Lie­ben­den, die schmol­len, sich den Rücken zu­keh­ren und sich beim ers­ten Lie­bes­wort wie­der um den Hals fal­len. Manch­mal streif­ten die leich­ten Ma­ra­bu­fe­dern oder die Haa­re der Un­be­kann­ten Ra­phaels Kopf und er­reg­ten ein sinn­li­ches Ge­fühl in ihm, ge­gen das er sich tap­fer wehr­te; bald spür­te er die schmei­cheln­de Berüh­rung der Spit­zen­rü­schen, mit de­nen ihr Kleid be­setzt war, ver­nahm das sei­di­ge Ra­scheln der Fal­ten, ein frau­li­ches Geräusch, süß und be­stri­ckend; end­lich teil­ten sich die kaum merk­li­chen Atem­be­we­gun­gen der Brust, des Rückens, der Klei­der der schö­nen Frau, ihr gan­zes hol­des Le­ben Ra­pha­el mit, wie ein elek­tri­scher Fun­ke, der über­springt. Der Tüll und die Spit­zen, die an sei­ner Schul­ter hin­stri­chen, über­tru­gen ihm ge­treu­lich die köst­li­che Wär­me die­ses wei­ßen nack­ten Rückens. War es eine Lau­ne der Na­tur, daß die­se bei­den durch den gu­ten Ton ge­trenn­ten und durch die Ab­grün­de des To­des ge­schie­de­nen We­sen im sel­ben Takt at­me­ten und viel­leicht an­ein­an­der dach­ten? Ein durch­drin­gen­des Alo­epar­füm be­rausch­te Ra­pha­el vollends. Sei­ne Ein­bil­dungs­kraft, durch ein Hin­der­nis ge­reizt und die ihr auf­ge­zwun­ge­nen Fes­seln bis ins Phan­tas­ti­sche ge­stei­gert, ent­warf ge­dan­ken­schnell in feu­ri­gen Li­ni­en das Bild ei­ner Frau. Er wand­te sich rasch um. Die Un­be­kann­te, der es ge­wiß un­an­ge­nehm war, mit ei­nem Frem­den in Berüh­rung zu kom­men, mach­te die glei­che Be­we­gung; ihre Ge­sich­ter, die der­sel­be Ge­dan­ke be­seel­te, ver­harr­ten ein­an­der un­mit­tel­bar ge­gen­über.

»Pau­li­ne!«

»Mon­sieur Ra­pha­el!«

Starr vor Stau­nen, sa­hen sie ein­an­der einen Au­gen­blick lang schwei­gend an. Ra­pha­el sah Pau­li­ne in schlich­ter und ge­schmack­vol­ler Toi­let­te. Durch den Schlei­er, der ih­ren Bu­sen keusch ver­hüll­te, hät­te ein schar­fes Auge die li­li­en­wei­ße Haut se­hen und For­men er­ra­ten kön­nen, die jede Frau be­wun­dern wür­de. Dazu be­stach sie wie einst durch ihre jung­fräu­li­che Be­schei­den­heit, ihre himm­li­sche Un­schuld, ihre an­mu­ti­ge Hal­tung. Der Stoff ih­res Är­mels ver­riet das Zit­tern, wel­ches sich von ih­rem be­ben­den Her­zen auf ih­ren Kör­per über­trug.

»Oh«, sag­te sie, »kom­men Sie mor­gen in das Ho­tel Saint-Quen­tin und ho­len Sie Ihre Pa­pie­re! Ich bin um zwölf Uhr dort. Sei­en Sie pünkt­lich!«

Sie stand rasch auf und ent­fern­te sich. Ra­pha­el woll­te Pau­li­ne fol­gen, fürch­te­te, sie zu kom­pro­mit­tie­ren, blieb, sah Fœ­do­ra an und fand sie häß­lich; da er aber der Mu­sik nicht mehr zu fol­gen ver­moch­te, in dem Saal fast er­stick­te und das Herz ihm über­ström­te, stand er auf und fuhr nach Hau­se zu­rück.

»Jo­na­thas«, sag­te er zu sei­nem al­ten Die­ner, als er im Bett lag, »gib mir ein Tröpf­chen Lau­da­num14 auf ein Stück­chen Zu­cker und we­cke mich mor­gen erst zwan­zig Mi­nu­ten vor zwölf Uhr.«

»Ich will von Pau­li­ne ge­liebt wer­den!« rief er am nächs­ten Tag und blick­te mit un­be­schreib­li­cher Angst auf den Ta­lis­man.

Das Le­der be­weg­te sich nicht um ein Haar­breit, es sah aus, als hät­te es sei­ne Kraft, sich zu­sam­men­zu­zie­hen, ein­ge­büßt. Ohne Fra­ge konn­te es einen Wunsch, der schon er­füllt war, nicht noch ein­mal er­fül­len.

»Ah!« rief Ra­pha­el. Er fühl­te sich wie von ei­nem blei­er­nen Man­tel be­freit, der seit dem Tage, an dem er den Ta­lis­man er­hal­ten hat­te, auf ihm las­te­te.

»Du lügst«, rief er aus, »du ge­horchst mir nicht, der Pakt ist ge­bro­chen! Ich bin frei, ich wer­de le­ben. Al­les war nur ein schlech­ter Scherz.«

Wäh­rend er die­se Wor­te sprach, wag­te er nicht, an sei­ne ei­ge­nen Ge­dan­ken zu glau­ben. Er klei­de­te sich so ein­fach wie frü­her und ging zu Fuß in sei­ne eins­ti­ge Woh­nung. Un­ter­wegs ver­such­te er, sich in jene glück­li­chen Tage zu­rück­zu­ver­set­zen, wo er sich ge­fahr­los sei­nen ra­sen­den Be­gier­den über­las­sen konn­te, wo er noch nicht al­len mensch­li­chen Freu­den ab­ge­schwo­ren hat­te. So ging er sei­nes Wegs, sah Pau­li­ne vor sich, nicht mehr die Pau­li­ne des Ho­tel Saint-Quen­tin, son­dern die des ver­gan­ge­nen Abends, die­se vollen­de­te Ge­lieb­te, die er so oft er­träumt hat­te, ein klu­ges, lie­be­vol­les jun­ges Mäd­chen, das künst­le­ri­sches Ge­fühl be­saß, Dich­ter und Dich­tung ver­stand und im Lu­xus leb­te; mit ei­nem Wort: Fœ­do­ra, nur mit ei­ner schö­nen See­le be­gabt, oder Pau­li­ne als Com­tes­se und zwei­fa­che Mil­lio­nä­rin, wie Fœ­do­ra es war. Als er auf der ab­ge­tre­te­nen Schwel­le stand, auf der zer­bro­che­nen Flie­se an die­ser Tür, wo er so oft mit sei­nen ver­zwei­fel­ten Ge­dan­ken ge­stan­den hat­te, trat eine alte Frau aus dem Vor­saal und frag­te ihn:

»Sind Sie nicht Mon­sieur Ra­pha­el de Va­len­tin?«

»Ja­wohl, gute Frau«, ant­wor­te­te er.

»Sie ken­nen Ihr al­tes Zim­mer«, fuhr sie fort, »Sie wer­den dort er­war­tet.«

»Wird die­ses Haus nicht mehr von Ma­da­me Gau­din ge­führt?« frag­te Ra­pha­el.

»O nein, Mon­sieur, Ma­da­me Gau­din ist jetzt Baro­nin. Sie wohnt in ei­nem schö­nen Haus, das ihr ge­hört, auf der an­de­ren Sei­te des Flus­ses. Ihr Mann ist zu­rück­ge­kehrt. Ja, se­hen Sie, der hat einen schö­nen Bat­zen Geld mit­ge­bracht. Die Leu­te sa­gen, sie könn­te das gan­ze Quar­tier Saint-Jac­ques kau­fen, wenn sie woll­te. Sie hat mir die gan­ze Ein­rich­tung und die rest­li­che Pacht um­sonst über­las­sen. Ja, sie ist eine gute Frau ge­blie­ben. Sie ist heu­te nicht stol­zer, als sie ges­tern war.«

Ra­pha­el stieg lang­sam zu sei­ner Man­sar­de hin­auf. Als er die letz­ten Trep­pen­stu­fen er­reich­te, hör­te er die Klän­ge des Kla­viers. Pau­li­ne war da; sie trug ein ein­fa­ches Kat­tun­kleid; aber der Schnitt des Klei­des, die Hand­schu­he, der Hut, der Schal, nach­läs­sig aufs Bett ge­wor­fen, spra­chen von großem Reich­tum. »Aber da sind Sie ja!« rief Pau­li­ne und wand­te sich um. Sie sprang rasch auf und ver­hehl­te ihre Freu­de nicht. Ra­pha­el setz­te sich ne­ben sie. Er war er­rö­tet, be­schämt, glück­lich. Er be­trach­te­te sie, ohne ein Wort zu sa­gen.

»Wa­rum ha­ben Sie uns denn ver­las­sen?« frag­te sie, schlug die Au­gen nie­der, und pur­pur­ne Röte über­zog ihr Ant­litz. »Wie ist es Ih­nen er­gan­gen?«

»Ach, Pau­li­ne, ich war sehr un­glück­lich und bin es noch!«

»Ach!« rief sie be­wegt; »ich habe Ihr Schick­sal ges­tern abend ge­ahnt. Ich sah, wie fein Sie ge­klei­det wa­ren, wie reich Sie aus­sa­hen, aber in Wirk­lich­keit, nicht wahr, Mon­sieur Ra­pha­el, ist es im­mer noch wie frü­her?«

Va­len­tin konn­te die Trä­nen nicht zu­rück­hal­ten, die aus sei­nen Au­gen roll­ten. »Pau­li­ne! …« rief er. »Ich …«

Er brach ab. Sei­ne Au­gen strahl­ten vor Lie­be, und sein gan­zes Herz lag in sei­nen Bli­cken.

»Oh! Er liebt mich! Er liebt mich!« rief Pau­li­ne.

Ra­pha­el nick­te stumm. Er fühl­te sich au­ßer­stan­de, ein ein­zi­ges Wort her­vor­zu­brin­gen. Bei die­ser Be­we­gung er­griff das jun­ge Mäd­chen sei­ne Hand, drück­te sie und sag­te bald la­chend, bald schluch­zend: »Wir sind reich, reich, glück­lich und reich! Dei­ne Pau­li­ne ist reich! Aber heu­te müß­te ich ei­gent­lich sehr arm sein. Ich habe tau­send­mal ge­sagt, ich woll­te für die­ses Wort: »Er liebt mich!« alle Schät­ze der Erde ge­ben. O mein Ra­pha­el! Ich be­sit­ze Mil­lio­nen. Du liebst den Lu­xus, du sollst zu­frie­den sein; aber du mußt auch mein Herz lie­ben; es lebt so­viel Lie­be für dich dar­in! Du weißt es noch nicht? Mein Va­ter ist zu­rück­ge­kom­men. Ich bin eine rei­che Er­bin. Mei­ne Mut­ter und er über­las­sen es mir, über mein Le­ben frei zu be­stim­men; ich bin frei, ver­stehst du?«

Ra­pha­el war wie im Tau­mel; er hielt Pau­li­nes Hän­de und küß­te sie so glü­hend, so gie­rig un­ge­stüm, ja fast ge­walt­sam. Pau­li­ne mach­te ihre Hän­de frei, leg­te sie auf Ra­phaels Schul­tern und zog ihn an sich; sie um­fin­gen, um­arm­ten und küß­ten sich mit der hei­li­gen, köst­li­chen Glut, die kei­nen an­de­ren Ge­dan­ken kennt und die man in ei­nem ein­zi­gen Kuß emp­fängt, im ers­ten Kuß, wenn zwei See­len Be­sitz von­ein­an­der er­grei­fen.

»Ach!« rief Pau­li­ne und sank in den Stuhl zu­rück. »Ich will dich nie mehr ver­las­sen. Ich weiß nicht, wo­her ich so­viel Kühn­heit neh­me!« setz­te sie er­rö­tend hin­zu.

»Kühn­heit, mei­ne Pau­li­ne? Oh, fürch­te nichts, das ist die Lie­be, die wah­re Lie­be, so tief, so ewig wie die mei­ne. Ist es nicht so?«

»Oh! sprich, sprich!« rief sie; »dein Mund war so lan­ge stumm für mich!«

»Du lieb­test mich also?«

»O Gott! ob ich dich lieb­te! Wie oft habe ich ge­weint, hier, wenn ich dein Zim­mer auf­räum­te, wie oft habe ich dein und mein Elend be­klagt. Ich hät­te mich dem Teu­fel ver­schrie­ben, um dir einen Kum­mer zu er­spa­ren! Heu­te ›mein Ra­phael‹ sa­gen zu dür­fen. Ja, du bist mein; mein die­ser schö­ne Kopf, mein dein Herz! O ja, dein Herz vor al­lem, ein un­er­gründ­li­cher Schatz! Nun, wo hielt ich vor­hin inne?« fuhr sie nach ei­ner kur­z­en Pau­se fort. »Ja, siehst du, wir ha­ben drei, vier, fünf Mil­lio­nen, glau­be ich. Wenn ich arm wäre, wür­de ich mir viel­leicht wün­schen, dei­nen Na­men zu tra­gen, dei­ne Frau ge­nannt zu wer­den; jetzt aber möch­te ich dir die gan­ze Welt op­fern, möch­te ich noch im­mer dei­ne Magd sein und im­mer und ewig blei­ben. Siehst du, Ra­pha­el, wenn ich dir heu­te mein Herz, mei­ne Per­son, mein Ver­mö­gen dar­brin­ge, gebe ich dir nicht mehr als da­mals, als ich hier hin­ein« – sie zeig­te auf die Tischla­de – »ein ge­wis­ses 100-Sous-Stück schob. Oh! wie hat mir da­mals dei­ne Freu­de weh ge­tan!«

»Wa­rum bist du reich?« rief Ra­pha­el. »Wa­rum bist du nicht ei­tel? Ich kann nichts für dich tun!«

Er rang die Hän­de vor Glück, vor Verzweif­lung, vor Lie­be.

»Wenn du die Mar­qui­se de Va­len­tin sein wirst, ich ken­ne dich, himm­li­sches Herz, wer­den die­ser Ti­tel und mein Ver­mö­gen dir nicht so­viel wert sein …«

»Wie ein ein­zi­ges Haar von dir!« rief sie.

»Auch ich habe Mil­lio­nen; aber was ist jetzt für uns der Reich­tum? Ach, ich habe mein Le­ben, das kann ich dir bie­ten, nimm es!«

»Oh, dei­ne Lie­be, Ra­pha­el, dei­ne Lie­be wiegt die Welt auf. Wie, dein Den­ken ge­hört mir? So bin ich die Glück­lichs­te al­ler Glück­li­chen!«

»Man wird uns hö­ren«, sag­te Ra­pha­el.

»Ach, es ist kein Mensch da«, gab sie über­mü­tig zu­rück.

»Dann komm!« rief Va­len­tin und brei­te­te die Arme aus.

Sie sprang auf sei­ne Knie und um­schlang Ra­phaels Hals.

»Küs­sen Sie mich«, sprach sie, »um des Kum­mers wil­len, den ich um Ihret­wil­len er­litt, um die Schmer­zen zu til­gen, die Ihre Freu­den mir zu­ge­fügt ha­ben, um all der Näch­te wil­len, die ich wach saß, um mei­ne Licht­schir­me zu be­ma­len …«

»Dei­ne Schir­me?«

»Da wir reich sind, mein Schatz, kann ich dir al­les sa­gen. Ar­mer Jun­ge! wie leicht ist es doch, geist­vol­le Män­ner zu täu­schen! Konn­test du für drei Fran­cs Wasch­geld im Mo­nat zwei­mal in der Wo­che wei­ße Wes­ten und sau­be­re Hem­den ha­ben? Trankst du nicht dop­pelt so viel Milch, als dir für dein Geld zu­kam? Ich führ­te dich in al­lem an: mit dem Feu­er, dem Öl und auch mit dem Geld! Liebs­ter Ra­pha­el, nimm mich nicht zur Frau, ich bin eine zu raf­fi­nier­te Per­son.« Sie lach­te.

»Aber wie hast du das nur ge­macht?«

»Ich ar­bei­te­te bis zwei Uhr mor­gens und gab mei­ner Mut­ter die Hälf­te des Er­lö­ses für mei­ne Licht­schir­me und dir die an­de­re Hälf­te.«

Sie sa­hen sich an. Bei­de wa­ren vor Glück und Lie­be wie be­täubt.

»Oh!« rief Ra­pha­el, »wir müs­sen si­cher die­ses Glück ein­mal mit ei­nem furcht­ba­ren Schmerz be­zah­len.«

»Bist du ver­hei­ra­tet?« rief Pau­li­ne angst­voll; »oh, ich will dich kei­ner Frau über­las­sen.«

»Ich bin frei, mein Lie­bes.«

»Frei!« wie­der­hol­te sie; »frei und mein!«

Sie sank auf die Knie, fal­te­te die Hän­de und sah Ra­pha­el mit in­brüns­ti­ger Glut an.

»Ich fürch­te toll zu wer­den. Wie schön du bist!« fuhr sie fort und strich mit der Hand über das blon­de Haar ih­res Ge­lieb­ten. »Ist sie dumm, dei­ne Com­tes­se Fœ­do­ra! Wie freu­te ich mich ges­tern abend, als all die­se Men­schen mir hul­dig­ten! Sie ist nie so be­grüßt wor­den, sie nicht! Denk doch, Lie­ber, als mein Rücken ges­tern dei­nen Arm be­rühr­te, hör­te ich eine in­ne­re Stim­me, die mir zu­rief: »Er ist da!« Ich habe mich um­ge­dreht und sah dich. Oh, ich flüch­te­te, denn ich fühl­te das Ver­lan­gen, dir vor al­ler Welt um den Hals zu fal­len.«

»Wie glück­lich du bist, daß du spre­chen kannst!« rief Ra­pha­el. »Mir ist das Herz zu­ge­schnürt. Ich möch­te wei­nen und kann nicht. Zieh dei­ne Hand nicht zu­rück. Mir ist, als ob ich mein Le­ben lang dich nur im­mer an­se­hen müß­te, zu­frie­den und glück­lich.«

»Oh, sag das noch ein­mal, Ge­lieb­ter!«

»Ach, was sind Wor­te!« ver­setz­te Va­len­tin, und sei­ne hei­ßen Trä­nen fie­len auf Pau­li­nes Hän­de. »Spä­ter will ich ver­su­chen, dir von mei­ner Lie­be zu spre­chen; jetzt kann ich sie nur füh­len …«

»Oh!« rief sie, »die­se schö­ne See­le, die­ser große Geist, die­ses Herz, das ich so gut ken­ne, das ge­hört al­les mir, wie ich dir ge­hö­re?«

»Für im­mer, du hol­des Ge­schöpf«, sag­te Ra­pha­el be­wegt; »du wirst mei­ne Frau sein, mein gu­ter En­gel. Dei­ne Ge­gen­wart hat im­mer mei­ne Sor­gen ver­scheucht und mei­ne See­le er­quickt; in die­sem Au­gen­blick hat mich dein himm­li­sches Lä­cheln gleich­sam ge­rei­nigt. Mir ist, als be­gin­ne ich ein neu­es Le­ben. Die grau­sa­me Ver­gan­gen­heit und mei­ne trau­ri­gen Tor­hei­ten schei­nen mir nur noch böse Träu­me zu sein. Ich bin rein, wenn ich bei dir bin. Ich spü­re den Hauch des Glücks. O bleib im­mer bei mir!« Er drück­te sie in­nig an sein schnell po­chen­des Herz.

»Nun mag der Tod kom­men, wann er will«, rief Pau­li­ne ver­zückt, »ich habe ge­lebt!«

Glück­lich, wer ihre Won­nen er­rät, er hat sie emp­fun­den!

»Mein Ra­pha­el«, sag­te Pau­li­ne nach Stun­den des Schwei­gens, »ich woll­te, kein Mensch käme je mehr in un­se­re lie­be Man­sar­de.«

»Da muß die Tür ver­mau­ert und das Dach­fens­ter ver­git­tert wer­den; wir müs­sen das Haus kau­fen«, ver­setz­te der Mar­quis.

»Das ist das Rech­te«, sag­te sie. Ei­nen Au­gen­blick spä­ter fiel ihr ein: »Wir ha­ben ei­gent­lich ver­ges­sen, dei­ne Ma­nu­skrip­te zu su­chen!«

Sie fin­gen in sü­ßer Un­schuld zu la­chen an.

»Bah! ich spot­te al­ler Wis­sen­schaft!« rief Ra­pha­el.

»Ah! Und wo ist der Herr, der nach dem Ruhm be­gehr­te?«

»Du bist mein ein­zi­ger Ruhm.«

»Du warst sehr un­glück­lich, als du die­se klei­nen Krä­hen­fü­ße mal­test«, sag­te sie und blät­ter­te in den Pa­pie­ren.

»Mei­ne Pau­li­ne …«

»O ja, ich bin dei­ne Pau­li­ne. Nun?«

»Wo wohnst du ei­gent­lich?«

»In der Rue Saint-La­za­re. Und du?«

»Rue de Va­ren­nes.«

»Wie weit wir von­ein­an­der sind, bis …« Sie hielt inne und sah ih­ren Ge­lieb­ten ko­kett und schel­misch an.

»Aber«, ver­setz­te Ra­pha­el, »wir wer­den höchs­tens noch vier­zehn Tage ge­trennt sein.«

»Wahr­haf­tig! In vier­zehn Ta­gen sind wir Mann und Frau!« Sie sprang um­her wie ein klei­nes Kind. »Oh!« fuhr sie dann fort, »ich bin ein ent­ar­te­tes Kind, ich den­ke nicht mehr an Va­ter und Mut­ter, noch sonst­was auf der Welt! Du weißt nicht, Liebs­ter, daß mein Va­ter sehr krank ist. Er ist sehr lei­dend aus In­di­en zu­rück­ge­kehrt. In Le Ha­vre, wo wir ihn ab­ge­holt ha­ben, lag er auf den Tod dar­nie­der. Mein Gott«, sie sah auf die Uhr, »es ist schon drei Uhr. Ich muß bei ihm sein, wenn er um vier Uhr auf­wacht. Ich bin Her­rin im Haus: mei­ne Mut­ter tut, was ich will, und mein Va­ter be­tet mich an; aber ich will ihre Güte nicht miß­brau­chen, das wäre nicht recht! Der arme Va­ter, er war es, der mich ges­tern in die Ita­lie­ni­sche Oper ge­schickt hat. Du be­suchst ihn mor­gen, nicht wahr?«

»Wol­len Ma­da­me la Mar­qui­se de Va­len­tin mir die Ehre er­wei­sen, mei­nen Arm zu neh­men?«

»Ach, ich will den Schlüs­sel zu die­ser Kam­mer mit­neh­men«, sag­te sie. »Ist sie nicht ein Palast, die­se hol­de Kam­mer?«

»Pau­li­ne, noch einen Kuß!«

»Tau­send! Mein Gott«, sag­te sie und sah Ra­pha­el ins Auge, »so soll es im­mer blei­ben. Ich glau­be zu träu­men.«

Sie stie­gen lang­sam die Trep­pe hin­ab; dann gin­gen sie ein­träch­tig ne­ben­ein­an­der, in glei­chem Schritt, in glei­cher Glück­se­lig­keit er­be­bend, eng an­ein­an­der­ge­schmiegt wie zwei Tau­ben, bis zur Place de la Sor­bonne, wo Pau­li­nes Wa­gen war­te­te.

»Ich will mit zu dir fah­ren. Ich will dein Zim­mer, dein Ka­bi­nett se­hen und mich an den Tisch set­zen, an dem du ar­bei­test. Dann wird es sein wie frü­her«, setz­te sie er­rö­tend hin­zu. – »Jo­seph«, be­fahl sie ei­nem Die­ner, »ich fah­re in die Rue de Va­ren­nes, ehe ich nach Hau­se zu­rück­keh­re. Es ist Vier­tel vier, und um vier muß ich zu Hau­se sein, Ge­or­ges soll die Pfer­de an­trei­ben.«

In we­ni­gen Au­gen­bli­cken wa­ren die bei­den Lie­ben­den in Va­len­tins Palast.

»Oh, wie gut, daß ich das al­les ge­se­hen habe!« rief Pau­li­ne und knüll­te die Sei­de von Ra­phaels Bett­vor­hän­gen in ih­rer Hand. »Wenn ich ein­schla­fe, wer­de ich in Ge­dan­ken hier sein. Ich wer­de dei­nen lie­ben Kopf auf die­sem Kis­sen vor mir se­hen. Sage mir, Ra­pha­el, es hat dich nie­mand bei der Ein­rich­tung dei­nes Hau­ses be­ra­ten?«

»Nie­mand.«

»Ganz si­cher? Hat ge­wiß kei­ne Frau …«

»Pau­li­ne!«

»Oh, ich bin furcht­bar ei­fer­süch­tig! Du hast einen gu­ten Ge­schmack. Ich will mor­gen eben­so ein Bett ha­ben wie dei­nes.«

Ra­pha­el war trun­ken vor Glück, er um­arm­te Pau­li­ne.

»Oh, mein Va­ter, mein Va­ter!« rief sie.

»Ich will dich nach Hau­se be­glei­ten; ich will so sel­ten wie mög­lich ohne dich sein.«

»Wie du lie­ben kannst! Ich wag­te es dir nicht vor­zu­schla­gen …«

»Bist du denn nicht mein Le­ben?«

Es wäre er­mü­dend, all die­ses ent­zücken­de Lie­bes­ge­plau­der wort­ge­treu auf­zu­zeich­nen, dem der Ton, der Blick, eine un­be­schreib­li­che Ge­bär­de al­lein Wert ver­lei­hen. Va­len­tin be­glei­te­te Pau­li­ne bis zu ih­rem Hau­se und kehr­te dann zu­rück, das Herz vol­ler Freu­de, wie der Mensch hie­nie­den nur emp­fin­den und er­tra­gen kann. Als er in sei­nem Lehn­stuhl am Ka­min saß und an die plötz­li­che und völ­li­ge Er­fül­lung all sei­ner Hoff­nun­gen dach­te, drang ihm ein Ge­dan­ke in die See­le, ei­sig wie der Stahl ei­nes Dol­ches, der die Brust durch­bohrt; er sah nach dem Cha­grin­le­der, es war et­was klei­ner ge­wor­den. Er stieß den großen Lieb­lings­fluch der Fran­zo­sen ohne die je­sui­ti­schen Weglas­sun­gen der Äb­tis­sin15 von An­douil­let­tes aus, ließ den Kopf in den Stuhl zu­rück­sin­ken und blieb reg­los lie­gen; sei­ne Au­gen wa­ren auf eine Ro­set­te ge­rich­tet, aber er sah sie nicht.

»Gro­ßer Gott!« rief er aus. »Alle mei­ne Wün­sche, alle! Arme Pau­li­ne!«

Er nahm einen Zir­kel und maß, wie­viel Le­ben ihm der Vor­mit­tag ge­kos­tet hat­te.

»Mir blei­ben kaum noch zwei Mo­na­te!« stöhn­te er.

Kal­ter Schweiß brach aus sei­nen Po­ren; dann gab er plötz­lich ei­nem un­aus­sprech­li­chen Wu­t­an­fall nach, er­griff das Cha­grin­le­der und rief: »Was bin ich für ein Narr!« Er eil­te hin­aus, lief durch die Gär­ten und warf das Le­der in einen tie­fen Brun­nen. »Und nun kom­me, was mag!« rief er. »Zum Teu­fel mit all die­sem Un­sinn!«

Ra­pha­el über­ließ sich also dem Lie­bes­glück und leb­te Herz an Herz mit Pau­li­ne. Ihre Hoch­zeit, durch Schwie­rig­kei­ten ver­zö­gert, die zu er­zäh­len sich nicht lohnt, soll­te in den ers­ten Ta­gen des März ge­fei­ert wer­den. Sie hat­ten sich ge­prüft, zwei­fel­ten nicht an­ein­an­der, und da das Glück ih­nen die gan­ze Tie­fe ih­rer Nei­gung ent­hüllt hat­te, wa­ren nie zwei Her­zen, zwei Na­tu­ren so völ­lig eins, wie sie es durch ihre Lie­be wa­ren. Je ver­trau­ter sie ein­an­der wur­den, de­sto mehr lieb­ten sie sich, bei­de in glei­cher Rein­heit und glei­cher Zart­heit, glei­cher Wol­lust, der sü­ßes­ten Wol­lust, der Wol­lust der En­gel; kei­ne Wol­ke trüb­te ih­ren Him­mel; die Wün­sche des einen wa­ren das Ge­setz des an­de­ren. Da sie alle bei­de reich wa­ren, gab es für sie kei­ne Lau­nen; die sie nicht be­frie­di­gen konn­ten, und da­her hat­ten sie über­haupt kei­ne Lau­nen. Ein er­le­se­ner Ge­schmack, Ge­fühl für das Schö­ne, wah­re Poe­sie leb­ten in der See­le der Braut; sie ver­ach­te­te den teu­ren Flit­ter­putz der Frau­en, und ein Lä­cheln ih­res Ge­lieb­ten schi­en ihr schö­ner als alle Per­len von Or­muz; Mus­se­lin und Blu­men wa­ren ihr reichs­ter Schmuck. Pau­li­ne und Ra­pha­el flo­hen über­dies die Welt, die Ein­sam­keit war für sie so hold, so freu­den­voll! Die Mü­ßig­gän­ger sa­hen das schö­ne, heim­li­che Paar je­den Abend in der Ita­lie­ni­schen oder der Gro­ßen Oper. Wenn auch an­fangs al­ler­lei üb­ler Klatsch in den Sa­lons ver­brei­tet wur­de, ließ der Strom der Er­eig­nis­se, der Pa­ris durch­flu­te­te, zwei harm­lo­se Lie­bes­leu­te bald in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten; schließ­lich war es für die Prü­den eine Art Ent­schul­di­gung, daß ihre Hoch­zeit an­ge­kün­digt war, und da ihre Die­ner­schaft zu­fäl­lig ver­schwie­gen war, straf­te sie kei­ne zu schar­fe Bos­heit für ihr Glück.

Ge­gen Ende Fe­bru­ar, da schö­ne Tage schon die Freu­den des Früh­lings ver­hie­ßen, früh­stück­ten Pau­li­ne und Ra­pha­el ei­nes Mor­gens zu­sam­men in ei­nem klei­nen Ge­wächs­haus, ei­ner Art Sa­lon vol­ler Blu­men, von dem aus man un­mit­tel­bar in den Gar­ten ge­lang­te. Die mil­de, blas­se Win­ter­son­ne, de­ren Strah­len durch sel­te­ne Sträu­cher bra­chen, er­wärm­te be­reits die Luft. Die Au­gen wur­den durch die kräf­ti­gen Ge­gen­sät­ze des ver­schie­de­nen Laub­werks, durch die Far­ben der blü­hen­den Blu­men­bü­schel und durch die Spie­le von Licht und Schat­ten er­quickt. Wäh­rend sich noch ganz Pa­ris am tris­ten Ka­min­feu­er wärm­te, lach­ten die bei­den jun­gen Lie­ben­den schon ver­gnügt un­ter ei­ner Lau­be von Ka­me­li­en, Flie­der und Eri­ka. Ihre fröh­li­chen Ge­sich­ter tauch­ten aus Nar­zis­sen, Maiglöck­chen und ben­ga­li­schen Ro­sen her­vor. In die­sem üp­pi­gen und rei­chen Ge­wächs­haus schrit­ten die Füße auf ei­ner afri­ka­ni­schen Mat­te, bunt wie ein Tep­pich. Die mit fes­tem grü­nen Stoff be­spann­ten Wän­de lie­ßen kei­ner­lei Feuch­tig­keit durch. Die Mö­bel wa­ren al­lem An­schein nach aus ro­hem Holz ge­fer­tigt, des­sen ge­glät­te­te Rin­de je­doch vor Sau­ber­keit glänz­te. Ein jun­ges Kätz­chen hock­te, vom Duft der Milch an­ge­lockt, auf dem Tisch und ließ sich von Pau­li­ne mit Kaf­fee be­spren­keln; Pau­li­ne neck­te es, zog ihm die Sah­ne weg, an der es ge­ra­de mal schnup­pern durf­te, um es in Ge­duld zu üben und das mut­wil­li­ge Spiel fort­zu­set­zen; sie brach bei je­dem sei­ner pos­sier­li­chen Be­we­gun­gen in La­chen aus und ver­fiel auf tau­sen­der­lei Scher­ze, um Ra­pha­el am Le­sen der Zei­tung zu hin­dern, die ihm wohl schon zehn­mal aus den Hän­den ge­fal­len war. Es lag in die­ser Mor­gen­sze­ne eine Fül­le un­aus­sprech­li­chen Glücks, wie in al­lem, was na­tür­lich und wahr ist. Ra­pha­el tat im­mer so, als läse er sein Blatt, be­ob­ach­te­te in­des ver­stoh­len Pau­li­ne bei ih­ren Ne­cke­rei­en mit der Kat­ze, sei­ne Pau­li­ne, in einen lan­gen Mor­gen­man­tel gehüllt, der sie sei­nen Bli­cken nicht völ­lig ver­barg, sei­ne Pau­li­ne mit ih­rem noch un­ge­ord­ne­ten Haar und dem klei­nen wei­ßen, blau­ge­äder­ten Fuß, der in ei­nem schwar­zen Samt­pan­tof­fel steck­te. In ih­rem Nég­ligé war sie ent­zückend an­zu­se­hen, köst­lich wie die phan­tas­ti­schen Ge­stal­ten von We­stall,16 schi­en sie Mäd­chen und Frau zu­gleich zu sein; mehr Mäd­chen viel­leicht als Frau, ge­noß sie ein un­ge­trüb­tes Glück und kann­te von der Lie­be nur die ers­ten Won­nen. Kaum hat­te Ra­pha­el über sei­ner sü­ßen Träu­me­rei sei­ne Zei­tung ver­ges­sen, als Pau­li­ne nach ihr griff, sie zu­sam­men­knüll­te, eine Ku­gel aus ihr ball­te und sie in den Gar­ten warf; die Kat­ze sprang der Po­li­tik hin­ter­her, die sich wie im­mer um sich selbst dreh­te. Als Ra­pha­el, von die­ser kind­li­chen Sze­ne er­hei­tert, sei­ne Lek­tü­re fort­set­zen und das ent­schwun­de­ne Blatt auf­he­ben woll­te, brach fri­sches, fröh­li­ches La­chen los, das wie der Ge­sang ei­nes Vo­gels sich selbst im­mer von neu­em er­zeugt.

»Ich bin ei­fer­süch­tig auf die Zei­tung«, sag­te sie und trock­ne­te die Trä­nen, die bei ih­rem kind­li­chen Ge­läch­ter her­vor­ge­schos­sen wa­ren. »Ist es nicht ein fre­vel­haf­ter Treu­bruch«, fuhr sie, plötz­lich die Frau her­vor­keh­rend, fort, »daß du in mei­ner Ge­gen­wart rus­si­sche Pro­kla­ma­tio­nen liest und daß du die Pro­sa des Za­ren Ni­ko­laus mei­nen Wor­ten und Bli­cken der Lie­be vor­ziehst?«

»Ich habe nicht ge­le­sen, ge­lieb­ter En­gel, ich habe dich an­ge­se­hen.«

In die­sem Au­gen­blick hör­te man den schwe­ren Schritt des Gärt­ners her­an­kom­men, un­ter des­sen nä­gel­be­schla­ge­nen Stie­feln der Sand der Gar­ten­we­ge knirsch­te:

»Ent­schul­di­gen Sie, Mon­sieur le Mar­quis, wenn ich Sie und Ma­da­me stö­re, aber ich brin­ge ein Ding, das so selt­sam ist, wie ich noch keins ge­se­hen habe. Zieh ich doch eben, mit Re­spekt zu sa­gen, einen Ei­mer Was­ser hoch und brin­ge da die­se ku­rio­se Was­ser­pflan­ze mit her­auf! Hier ist sie! Das Ding muß ganz gut ans Was­ser ge­wöhnt sein, denn es war gar nicht auf­ge­weicht und nicht ein­mal feucht. Tro­cken wie ein Stück Holz und da­bei kein biß­chen Fett dran. Mon­sieur le Mar­quis sind si­cher ge­lehr­ter als ich, und da dach­te ich, ich will es Ih­nen brin­gen, das wird Sie in­ter­es­sie­ren.«

Da­mit zeig­te der Gärt­ner Ra­pha­el das un­er­bitt­li­che Cha­grin­le­der, das kei­ne sechs Zoll im Qua­drat mehr maß.

»Dan­ke, Va­niè­re«, sag­te Ra­pha­el; »das Ding ist sehr merk­wür­dig.«

»Was hast du, mein En­gel? Du wirst blaß!« rief Pau­li­ne.

»Es ist gut. Ge­hen Sie, Va­niè­re!«

»Dei­ne Stim­me ängs­tigt mich«, fing das jun­ge Mäd­chen wie­der an, »sie ist selt­sam ver­än­dert. Was hast du? Wie fühlst du dich? Wo tut es dir weh? Dir ist nicht wohl! – Ein Arzt!« rief sie; »Jo­na­thas, zu Hil­fe!«

»Sei still, lie­be Pau­li­ne!« er­wi­der­te Ra­pha­el, der sich wie­der ge­faßt hat­te; »wir wol­len hin­aus­ge­hen. Hier in der Nähe muß eine Blu­me sein, de­ren Duft mir Übel­keit er­regt. Vi­el­leicht ist es die­ses Ei­sen­kraut?«

Pau­li­ne stürz­te sich auf den un­schul­di­gen Strauch, riß ihn her­aus und warf ihn in den Gar­ten.

»O mein Al­les!« rief sie, um­schlang Ra­pha­el fest und stark wie ihre Lie­be und bot ihm mit be­se­li­gen­der Hin­ga­be ihre glü­hen­den Lip­pen zum Kuß; »als ich dich er­blei­chen sah, wuß­te ich, daß ich dich nicht über­le­ben wür­de: dein Le­ben ist mein Le­ben! Ra­pha­el, mein Ra­pha­el, leg dei­ne Hand auf mei­nen Rücken! Ich spü­re noch den fros­ti­gen Schau­er dort, noch die Käl­te. Dei­ne Lip­pen glü­hen. Und dei­ne Hand? … Sie ist eis­kalt.«

»När­ri­sches Kind!« rief Ra­pha­el.

»Was soll die­se Trä­ne?« frag­te sie. »Laß mich sie trin­ken.«

»O Pau­li­ne, Pau­li­ne, du liebst mich zu sehr!«

»Es geht et­was Au­ßer­or­dent­li­ches mit dir vor, Ra­pha­el. Sag mir die Wahr­heit, ich wer­de dein Ge­heim­nis doch bald er­fah­ren. Gib mir das!« Da­mit griff sie nach dem Cha­grin­le­der.

»Du bist mein Hen­ker!« rief der jun­ge Mann und warf einen grau­en­vol­len Blick auf den Ta­lis­man.

»Wie ver­än­dert dei­ne Stim­me ist!« er­wi­der­te Pau­li­ne und ließ den ver­häng­nis­vol­len Schick­sals­kün­der fal­len.

»Hast du mich lieb?« frag­te er.

»Ob ich dich lie­be, ist das eine Fra­ge?«

»Nun, dann laß mich, geh!«

Das arme Kind ging.

»Wie!« rief Ra­pha­el, als er al­lein war, »in ei­nem Jahr­hun­dert der Auf­klä­rung, da wir ge­lernt ha­ben, daß die Dia­man­ten Kris­tal­le des Koh­len­stoffs sind, in ei­ner Zeit, da al­les eine Er­klä­rung fin­det, da die Po­li­zei einen neu­en Mes­si­as vor Ge­richt stel­len und sei­ne Wun­der von der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten prü­fen las­sen wür­de, in ei­ner Zeit, da wir an nichts mehr glau­ben als an die Un­ter­schrift der No­ta­re, da soll­te aus­ge­rech­net ich! an eine Art Me­ne­te­kel17 glau­ben? Nein, bei Gott! ich will nicht den­ken, daß das höchs­te We­sen Ver­gnü­gen dar­an fin­den kann, ein ehr­li­ches Ge­schöpf zu mar­tern. Ich will die Ge­lehr­ten be­fra­gen.«

So war er denn bald zwi­schen der Wein­hal­le, die­sem un­ge­heu­ren La­ger von Fäs­sern, und der Sal­pêtriê­re,18 die­ser un­ge­heu­ren Pflanz­stät­te der Trunk­sucht, vor ei­nem klei­nen Teich an­ge­kom­men, auf dem sich En­ten tum­mel­ten, die durch die Sel­ten­heit ih­rer Ar­ten be­mer­kens­wert wa­ren und de­ren schil­lern­des Fe­der­kleid bunt wie die Glas­fens­ter ei­nes Doms in der Son­ne fun­kel­te. Es wa­ren da alle En­ten der Welt, und sie quak­ten, schnat­ter­ten, wim­mel­ten durch­ein­an­der und bil­de­ten eine Art wi­der Wil­len ein­be­ru­fe­nes En­ten­par­la­ment, zum Glück aber ohne Char­ta und po­li­ti­sche Prin­zi­pi­en. Sie leb­ten da, ohne sich vor Jä­gern fürch­ten zu müs­sen, un­ter den Au­gen der Na­tur­for­scher, die sie ge­le­gent­lich be­trach­te­ten.

»Da ist Mon­sieur La­vril­le«, sag­te ei­ner der Wär­ter zu Ra­pha­el, der nach die­sem Ho­he­pries­ter der Zoo­lo­gie ge­fragt hat­te.

Der Mar­quis sah ein klei­nes Männ­chen, das beim An­blick zwei­er En­ten tief in wei­se Be­trach­tun­gen ver­sun­ken schi­en. Der Ge­lehr­te stand in mitt­le­ren Jah­ren und hat­te ein sanf­tes Ge­sicht, das durch sei­ne ent­ge­gen­kom­men­de Mie­ne noch ge­wann; aber aus sei­ner gan­zen Er­schei­nung sprach die Zer­streut­heit ei­nes Ge­lehr­ten: sei­ne Perücke, an der er sich un­abläs­sig kratz­te, war aben­teu­er­lich auf den Kopf ge­stülpt, ließ einen Kranz wei­ßer Haa­re se­hen und zeug­te von ei­ner Ent­decker­wut, die uns, wie alle Lei­den­schaf­ten, den Din­gen die­ser Welt so weit ent­rückt, daß wir das Be­wußt­sein des ei­ge­nen Ichs ver­lie­ren. Ra­pha­el be­wun­der­te als Mann der Wis­sen­schaft und der For­schung die­sen Na­tur­for­scher, des­sen Näch­te der Er­wei­te­rung der mensch­li­chen Kennt­nis­se ge­wid­met wa­ren und des­sen Irr­tü­mer so­gar noch Frank­reich zum Ruhm ge­reich­ten; aber ein Mo­de­däm­chen hät­te ohne Zwei­fel über die Lücke ge­lacht, die sich zwi­schen der Hose und der ge­streif­ten Wes­te des Ge­lehr­ten auf­tat, ob­wohl die­ser Zwi­schen­raum recht sitt­sam durch ein Hemd aus­ge­füllt war, das durch das Bücken und Wie­der­auf­rich­ten wäh­rend sei­ner zoo­ge­ne­ti­schen Beo­b­ach­tun­gen einen rei­chen Fal­ten­wurf be­kom­men hat­te.

Nach den ers­ten Höf­lich­keits­flos­keln hielt Ra­pha­el es für nö­tig, Mon­sieur La­vril­le ein Kom­pli­ment über sei­ne En­ten zu ma­chen.

»O ja, an En­ten sind wir reich«, er­wi­der­te der Na­tur­for­scher; »die­se Gat­tung ist üb­ri­gens, wie Ih­nen si­cher be­kannt ist, die frucht­bars­te in der Ord­nung der Schwimm­vö­gel: Sie be­ginnt beim Schwan und en­det bei der Zin­zi­nen­te und um­faßt 137 ver­schie­de­ne Ar­ten, die alle einen ei­ge­nen Na­men, ei­ge­ne Ge­wohn­hei­ten, eine ei­ge­ne Hei­mat und ein ei­ge­nes Aus­se­hen ha­ben und ein­an­der nicht ähn­li­cher sind als ein Wei­ßer und ein Ne­ger. Sie kön­nen ver­si­chert sein, Mon­sieur, daß wir, wenn wir eine Ente es­sen, meis­tens gar nicht ah­nen, wie aus­ge­dehnt …«

Er un­ter­brach sich, als er eine rei­zen­de klei­ne Ente sah, wel­che die Bö­schung des Tei­ches her­auf­wat­schel­te.

»Da ist die Kra­wat­tenen­te, das arme Kind aus Ka­na­da hat so weit her­kom­men müs­sen, um uns sein grau­brau­nes Ge­fie­der und sei­ne klei­ne schwar­ze Kra­wat­te zu zei­gen. Se­hen Sie, wie es sich kratzt. Da ist die be­rühm­te Ei­de­ren­te, auf de­ren Dau­nen un­se­re fei­nen Da­men schla­fen; wie hübsch sie ist! Muß nicht je­der die­sen nied­li­chen röt­lich­wei­ßen Leib, die­sen grü­nen Schna­bel be­wun­dern? Eben ge­ra­de, Mon­sieur, war ich Zeu­ge ei­ner Paa­rung, die ich bis­lang kaum er­hoff­te. Die Hoch­zeit ist recht glück­lich von­stat­ten ge­gan­gen, und ich war­te un­ge­dul­dig auf das Er­geb­nis. Ich schmeich­le mir, eine 138s­te Art zu züch­ten, die viel­leicht mei­nen Na­men er­hal­ten wird. Se­hen Sie, da ha­ben wir die Neu­ver­mähl­ten!« Da­mit deu­te­te er auf zwei En­ten. »Die eine ist eine Lach­gans (anas al­bifrons), die an­de­re die große Pfei­fen­te (anas ruf­fi­na Buf­fon). Ich habe lan­ge zwi­schen der Pfei­fen­te, der Ente mit den wei­ßen Au­gen­li­dern und der Löf­fel­en­te (anas cly­pea­ta) ge­schwankt. Se­hen Sie, da ist die Löf­fel­en­te, der di­cke schwarz­brau­ne Sch­lin­gel mit dem grün­li­chen Hals, der so rei­zend iri­siert. Aber die Pfei­fen­te, Mon­sieur, hat eine präch­ti­ge Hau­be, da wer­den Sie be­grei­fen, daß ich nicht mehr ge­schwankt habe. Es fehlt uns hier nur noch die En­ten­va­rie­tät mit der schwar­zen Kap­pe. Die Her­ren Zoo­lo­gen be­haup­ten ein­stim­mig, die­se Ente sei nur eine Spiel­art der krumm­schna­be­li­gen Knä­k­en­te; aber ich für mein Teil …«

Er mach­te eine be­wun­ders­wer­te Hand­be­we­gung, in der zu­gleich die Be­schei­den­heit und der Stolz des Ge­lehr­ten la­gen; ein ei­gen­sin­ni­ger Stolz und eine dün­kel­haf­te Be­schei­den­heit.

»Ich al­ler­dings glau­be das nicht«, fuhr er fort. »Sie se­hen, Mon­sieur, wir sind nicht zu un­se­rem Ver­gnü­gen hier. Ich be­schäf­ti­ge mich zur Zeit mit der Mo­no­gra­phie der En­ten­gat­tung. Aber wo­mit kann ich Ih­nen die­nen?«

Auf dem Weg zu ei­nem recht hüb­schen Haus in der Rue de Buf­fon19 trug Ra­pha­el Mon­sieur La­vril­le sein An­lie­gen vor, das Cha­grin­le­der zu un­ter­su­chen.

»Ich ken­ne die­ses Pro­dukt«, sag­te der Ge­lehr­te end­lich, nach­dem er den Ta­lis­man mit der Lupe ge­nau be­trach­tet hat­te; »es hat ein­mal ir­gend­wie als Schach­tel­de­ckel ge­dient. Das Cha­grin­le­der ist sehr alt! Heut­zu­ta­ge zie­hen die Fut­te­ral­ma­cher ein Cha­grin vor, der nach sei­nem Er­fin­der Ga­luchat ge­nannt wird. Die­ser wird, wie Sie zwei­fel­los wis­sen, aus der Haut des »raja se­phen« ge­won­nen, ei­nes Fi­sches, der im Ro­ten Meer …«

»Aber das Stück hier, wenn Sie die Güte ha­ben woll­ten …«

»Das«, un­ter­brach ihn der Ge­lehr­te, »ist ganz et­was an­de­res; der Un­ter­schied zwi­schen dem Ga­luchat20 und dem Cha­grin ist so groß wie zwi­schen Ozean und Land, zwi­schen Fisch und Vier­fü­ßer. Die Haut des Fi­sches ist här­ter als die des Land­tie­res. Das«, da­mit deu­te­te er auf den Ta­lis­man, »ist, wie Sie frag­los wis­sen, eins der selt­sams­ten Pro­duk­te der Zoo­lo­gie.«

»Wirk­lich?« rief Ra­pha­el.

»Ja«, er­wi­der­te der Ge­lehr­te und ließ sich in sei­nen Lehn­stuhl sin­ken, »es ist eine Esels­haut.«

»Das weiß ich«, er­wi­der­te der jun­ge Mann.

»Es gibt in Per­si­en«, fuhr der Na­tur­for­scher fort, »einen über­aus sel­te­nen Esel, den Ona­ger der Al­ten, equus asi­nus, den Ku­lan der Ta­ta­ren. Pal­las ist hin­ge­reist, hat ihn be­ob­ach­tet und der Wis­sen­schaft wie­der­ge­ge­ben. Die­ses Tier hat tat­säch­lich lan­ge als Fa­bel­tier ge­gol­ten. Es ist, wie Sie wis­sen, durch die Hei­li­ge Schrift be­kannt; Mo­ses hat­te ver­bo­ten, es mit an­de­ren Ar­ten sei­ner Gat­tung zu kreu­zen. Aber der Ona­ger ist noch be­rühm­ter durch die Ab­göt­te­rei, die mit ihm ge­trie­ben wur­de, von der die Pro­phe­ten oft spre­chen. Pal­las er­klärt, wie Sie ohne Zwei­fel wis­sen, in sei­nen Act. Pe­trop. Band II, daß die­se ab­nor­men Aus­schwei­fun­gen noch bei den Per­sern und den no­ga­i­schen Ta­ta­ren zu den re­li­gi­ösen Ge­bräu­chen ge­hö­ren; sie gel­ten als un­über­treff­li­ches Heil­mit­tel ge­gen Nie­ren­krank­hei­ten und Hüft­weh. Von sol­chen Din­gen ha­ben wir ar­men Pa­ri­ser gar kei­ne Ah­nung! Das Mu­se­um be­sitzt kei­nen Ona­ger. Ein wun­der­ba­res Tier! Es steckt vol­ler Ge­heim­nis­se; sein Auge ist von ei­ner re­flek­tie­ren­den Haut über­zo­gen, der die Ori­en­ta­len eine ban­nen­de Kraft zu­schrei­ben; sein Fell ist ge­schmei­di­ger und glat­ter als das un­se­rer schöns­ten Pfer­de, mit mehr oder we­ni­ger hel­len fal­ben Strei­fen und gleicht dem des Ze­bras. Das Haar hat et­was Mol­li­ges, Wel­li­ges und fühlt sich fet­tig an. Sein Blick gleicht an Ge­nau­ig­keit und Schär­fe dem des Men­schen. Er ist et­was grö­ßer als un­se­re schöns­ten Hau­se­sel und hat einen au­ßer­ge­wöhn­li­chen Mut. Wenn er zu­fäl­lig an­ge­fal­len wird, wehrt er sich ge­gen die ge­fähr­lichs­ten Raub­tie­re mit er­staun­li­cher Über­le­gen­heit. Die Schnel­lig­keit sei­nes Ga­lopps kann nur mit dem Flug der Vö­gel ver­gli­chen wer­den. Ein Ona­ger, Mon­sieur, wür­de die bes­ten ara­bi­schen und per­si­schen Pfer­de hin­ter sich las­sen. Den Be­schrei­bun­gen zu­fol­ge, die der Va­ter des ge­wis­sen­haf­ten Dr. Nie­buhr ….21 ver­öf­fent­licht hat, des­sen Ver­lust wir, wie Sie wis­sen, seit kur­z­em be­kla­gen müs­sen, be­trägt die durch­schnitt­li­che Ge­schwin­dig­keit die­ser präch­ti­gen Tie­re 7000 Feld­mes­ser­schrit­te22 in der Stun­de. Un­se­re de­ge­ne­rier­ten Esel kön­nen uns von die­sem un­ab­hän­gi­gen, stol­zen Esel gar kei­ne Vor­stel­lung ge­ben. Er hat eine an­mu­ti­ge, le­ben­di­ge Hal­tung, einen klu­gen und ver­stän­di­gen Blick, eine ge­fäl­li­ge Er­schei­nung und über­aus zier­li­che Be­we­gun­gen. Er ist der Kö­nig des Tier­reichs im Ori­ent. Die aber­gläu­bi­schen Vor­stel­lun­gen der Tür­ken und Per­ser schrei­ben ihm so­gar eine ge­heim­nis­vol­le Ab­stam­mung zu, und der Name Sa­lo­mos kommt in den Be­rich­ten vor, wel­che in Ti­bet und der Ta­ta­rei von den Hel­den­ta­ten die­ser ed­len Tie­re er­zäh­len. Ein ge­zähm­ter Ona­ger kos­tet enor­me Sum­men; es ist fast un­mög­lich, ihn in den Ber­gen zu fan­gen, wo er wie ein Reh da­v­on­setzt und wie ein Vo­gel zu flie­gen scheint. Die Sage von den ge­flü­gel­ten Pfer­den, von un­se­rem Pe­ga­sus, hat ih­ren Ur­sprung ohne Zwei­fel in den Län­dern, wo Hir­ten oft einen Wil­de­sel im Sprung von ei­nem Fel­sen zum an­de­ren be­ob­ach­ten konn­ten. Die Rei­t­esel, die man in Per­si­en aus der Paa­rung ei­ner Ese­lin mit ei­nem ge­zähm­ten Ona­ger er­langt, wer­den nach ei­ner ur­al­ten Tra­di­ti­on rot be­malt. Die­ser Brauch hat viel­leicht zu un­se­rer Re­de­wen­dung: ›Stör­risch wie ein ro­ter Esel‹ Ver­an­las­sung ge­ge­ben. In ei­ner Zeit, wo die Na­tur­ge­schich­te in Frank­reich sehr im ar­gen lag, wird, so den­ke ich mir, ein Rei­sen­der eins die­ser selt­sa­men Tie­re, wel­che die Skla­ve­rei nur wi­der­wil­lig er­tra­gen, in un­ser Land ge­bracht ha­ben. Da­her die­se Re­dens­art. Die Haut, die Sie mir hier zei­gen, ist die Haut ei­nes Ona­ger. Über den Ur­sprung des Na­mens ge­hen un­se­re Mei­nun­gen aus­ein­an­der. Die einen be­haup­ten, ›Cha­gri‹ sei ein tür­ki­sches Wort, an­de­re ge­ben an, ›Cha­gri‹ sei die Stadt, in der die­se Tier­haut ei­ner che­mi­schen Pro­ze­dur un­ter­wor­fen wer­de, die Pal­las23 recht gut be­schrie­ben hat und die ihm jene ei­gen­ar­tig ge­narb­te Ober­flä­che ver­leiht, die wir so schät­zen; Mon­sieur Mar­tel­lens hat mir ge­schrie­ben, Châa­gri sei ein Bach.«

»Ich dan­ke Ih­nen sehr, daß Sie mir Auf­schlüs­se ge­ge­ben ha­ben, die ei­nem Dom Cal­met24 Stoff zu ei­ner treff­li­chen An­mer­kung ge­ben könn­ten, wenn die Be­ne­dik­ti­ner noch exis­tier­ten; aber ich hat­te mir mit­zu­tei­len er­laubt, daß die­ses Stück ur­sprüng­lich so groß war … wie die­se Land­kar­te«, sag­te Ra­pha­el und wies auf einen auf­ge­schla­gen da­lie­gen­den At­las, »seit drei Mo­na­ten aber hat es sich un­ver­kenn­bar zu­sam­men­ge­zo­gen …«

»Schön«, er­wi­der­te der Ge­lehr­te, »ich ver­ste­he. Mon­sieur, jede ab­ge­zo­ge­ne Haut, die von ei­nem Le­be­we­sen stammt, ist, wie leicht zu be­grei­fen, ei­nem na­tür­li­chen Ver­fall aus­ge­setzt, des­sen Fort­schrei­ten von at­mo­sphä­ri­schen Ein­flüs­sen ab­hängt. Selbst die Me­tal­le deh­nen sich aus und zie­hen sich zu­sam­men, und zwar sehr merk­lich; die In­ge­nieu­re zum Bei­spiel ha­ben ziem­lich be­trächt­li­che Lücken zwi­schen Stein­blö­cken fest­ge­stellt, die ur­sprüng­lich von Ei­sen­klam­mern zu­sam­men­ge­hal­ten wur­den. Die Wis­sen­schaft ist lang, und un­ser Le­ben ist kurz. So kön­nen wir nicht den An­spruch er­he­ben, alle Er­schei­nun­gen der Na­tur zu ken­nen.«

»Mon­sieur«, sag­te Ra­pha­el in ei­ni­ger Ver­wir­rung, »ge­stat­ten Sie, daß ich noch eine son­der­ba­re Fra­ge stel­le. Sind Sie ganz si­cher, daß die­ses Stück Le­der den all­ge­mei­nen Ge­set­zen der Na­tur un­ter­wor­fen ist; daß es sich aus­deh­nen läßt?«

»Oh, kein Zwei­fel! Don­ner­wet­ter!« rief Mon­sieur La­vril­le bei sei­nem Ver­such, den Ta­lis­man zu stre­cken: »Nun Mon­sieur, viel­leicht su­chen Sie ein­mal Plan­chet­te auf, den be­rühm­ten Pro­fes­sor der Mecha­nik, er wird si­cher ein Mit­tel fin­den, auf die­ses Le­der zu wir­ken, es ge­schmei­dig zu ma­chen und zu deh­nen.«

»Ich dan­ke Ih­nen, Mon­sieur, Sie ret­ten mir das Le­ben!«

Ra­pha­el ver­ab­schie­de­te sich von dem ge­lehr­ten Na­tur­for­scher, eil­te zu Plan­chet­te und ließ den gu­ten La­vril­le in sei­nem Ar­beits­ka­bi­nett zu­rück, in­mit­ten all der Glas­fla­schen und ge­trock­ne­ten Pflan­zen. Ohne es zu wis­sen, hat­te er bei sei­nem Be­such die gan­ze mensch­li­che Wis­sen­schaft mit auf den Weg be­kom­men: ein Na­men­ver­zeich­nis! Der wa­cke­re La­vril­le äh­nel­te San­cho Pan­sa, wie er Don Qui­jo­te die Ge­schich­te der Zie­gen er­zähl­te; er fand Ver­gnü­gen dar­an, Tie­re zu zäh­len und zu nu­me­rie­ren. Er stand nun am Ran­de des Gra­bes und kann­te kaum einen klei­nen Teil aus der un­er­meß­li­chen Zahl der großen Her­de, die Gott, wir wis­sen nicht wozu, über den Ozean der Wel­ten ver­teilt hat. Ra­pha­el war zu­frie­den. »Ich wer­de mei­nen Esel im Zau­me hal­ten!« rief er. Ster­ne hat­te vor ihm ge­sagt: »Wer alt wer­den will, muß sei­nen Esel scho­nen«. Aber das Vieh ist so stör­risch.

Plan­chet­te war groß und ha­ger, ein rich­ti­ger Dich­ter, der im­mer in Be­trach­tung ei­nes un­er­meß­li­chen Ab­grun­des, der Be­we­gung näm­lich, ver­sun­ken war. Ge­wöhn­li­che Men­schen hal­ten die­se er­ha­be­nen Geis­ter, die­se Un­ver­stan­de­nen, die be­wun­derns­wert un­be­küm­mert um Lu­xus und welt­li­ches Trei­ben le­ben, die gan­ze Tage lang an ei­nem aus­ge­gan­ge­nen Zi­gar­ren­stum­mel kau­en und einen Sa­lon be­tre­ten, ohne die Knöp­fe ih­res An­zugs in die ge­zie­men­de Ver­bin­dung mit den Knopflö­chern ge­bracht zu ha­ben, für eine Art Ver­rück­te. Ei­nes Ta­ges ha­ben sie, nach­dem sie lan­ge die Lee­re ge­mes­sen oder Rei­hen von X un­ter Aa-gG ge­setzt ha­ben, ir­gend­ein Na­tur­ge­setz ana­ly­siert und ein simp­les Prin­zip zer­legt; auf ein­mal staunt die Men­ge über eine neue Ma­schi­ne oder ir­gend­ei­nen Kar­ren, des­sen ein­fa­che Kon­struk­ti­on uns er­staunt und ver­blüfft. Der be­schei­de­ne Ge­lehr­te lä­chelt und sagt zu sei­nen Be­wun­de­rern: »Was habe ich denn Neu­es her­vor­ge­bracht? Nichts. Der Mensch kann kei­ne Kraft er­fin­den, er lenkt sie, und die Wis­sen­schaft be­steht dar­in, die Na­tur nach­zuah­men.«

Ra­pha­el fand den Mecha­ni­ker so starr und steif da­ste­hend, daß er ei­nem Ge­henk­ten glich, der ge­ra­de­wegs vom Gal­gen ge­fal­len ist. Plan­chet­te be­ob­ach­te­te eine Ach­at­mur­mel, die auf ei­ner Son­nen­uhr roll­te und war­te­te dar­auf, daß sie ste­hen­blie­be. Der Ärms­te hat­te we­der einen Or­den noch ein Ehren­ge­halt; er ver­stand es nicht, sei­ne Be­rech­nun­gen ef­fekt­voll pu­blik zu ma­chen. Er war glück­lich zu le­ben, ei­ner Ent­de­ckung auf der Spur zu sein, und dach­te da­bei we­der an den Ruhm noch an die Welt, noch an sich selbst. Er leb­te in der Wis­sen­schaft und für die Wis­sen­schaft.

»Das ist un­er­klär­lich!« rief er. »Ah, Mon­sieur«, un­ter­brach er sich, als er Ra­pha­el be­merk­te, »Ihr er­ge­be­ner Die­ner. Wie geht’s der Mama? Tre­ten Sie nur bei mei­ner Frau ein.«

»So hät­te ich auch le­ben kön­nen!« dach­te Ra­pha­el. Er ent­riß den Ge­lehr­ten sei­nen Träu­men, in­dem er ihm den Ta­lis­man zeig­te und ihm die Fra­ge vor­leg­te, wie man auf ihn ein­wir­ken könn­te. »Sie mö­gen über mei­ne Leicht­gläu­big­keit la­chen, Mon­sieur«, sprach der Mar­quis ab­schlie­ßend, »ich will Ih­nen nichts ver­heh­len. Die­ses Stück Le­der scheint mir eine Wi­der­stands­kraft zu be­sit­zen, die nichts zu zwin­gen ver­mag.«

»Ver­ehr­ter«, ant­wor­te­te nun Plan­chet­te, »die Men­schen der Ge­sell­schaft pfle­gen die Wis­sen­schaft ge­mein­hin recht von oben­her­ab zu be­han­deln, und un­ge­fähr sa­gen sie uns alle das, was ein Stut­zer, der nach der Son­nen­fins­ter­nis mit ein paar Da­men zu La­lan­de25 kam, zu ihm sag­te: »Wol­len Sie so freund­lich sein, die Sa­che zu wie­der­ho­len.« Wel­che Wir­kung wol­len Sie er­zie­len? Die Mecha­nik hat die Auf­ga­be, die Ge­set­ze der Be­we­gung ent­we­der an­zu­wen­den oder sie un­wirk­sam zu ma­chen. Was die Be­we­gung an sich an­geht, so er­klä­re ich Ih­nen in al­ler Be­schei­den­heit, daß wir nicht im­stan­de sind, sie zu de­fi­nie­ren. Das da­hin­ge­stellt, ha­ben wir ei­ni­ge gleich­blei­ben­de Er­schei­nun­gen be­ob­ach­tet, wel­che die Be­we­gung der fes­ten und flüs­si­gen Kör­per fort­set­zen, ih­nen eine An­triebs­kraft im Ver­hält­nis zu ei­ner be­stimm­ten Ge­schwin­dig­keit ver­lei­hen, sie fort­schleu­dern, sie ein­fach oder ins Unend­li­che tei­len, da­durch daß wir sie zer­bre­chen oder pul­ve­ri­sie­ren; wir kön­nen sie fer­ner dre­hen, sie ro­tie­ren las­sen, sie ver­än­dern, zu­sam­mendrücken, deh­nen, stre­cken. Die­se gan­ze Wis­sen­schaft be­ruht auf ei­ner ein­zi­gen Tat­sa­che. Sie se­hen die­se Ku­gel. Sie be­fin­det sich auf die­sem Stein. Jetzt ist sie hier. Wie nen­nen wir die­sen Akt, der phy­sisch so na­tür­lich und geis­tig so au­ßer­ge­wöhn­lich ist? Be­we­gung, Orts­wech­sel, Orts­ver­än­de­rung? Welch un­ge­heu­rer Dün­kel steckt in den Wor­ten! Ist ein Name denn eine Lö­sung? Und trotz­dem be­ruht dar­auf die gan­ze Wis­sen­schaft. Un­se­re Ma­schi­nen wen­den die­sen Vor­gang, die­se Tat­sa­che an oder neu­tra­li­sie­ren sie. Wird die­ses un­schein­ba­re Phä­no­men auf große Mas­sen über­tra­gen, kann ganz Pa­ris in die Luft flie­gen. Wir kön­nen die Ge­schwin­dig­keit auf Kos­ten der Kraft oder die Kraft auf Kos­ten der Ge­schwin­dig­keit ver­meh­ren. Was ist Kraft, und was ist Ge­schwin­dig­keit? Un­se­re Wis­sen­schaft ist un­fä­hig, das zu sa­gen, so wie sie un­fä­hig ist, eine Be­we­gung her­vor­zu­brin­gen. Eine Be­we­gung, wie sie auch be­schaf­fen sein mag, ist eine un­ge­heu­re Kraft, und der Mensch er­fin­det kei­ne Kraft. Die Kraft ist ein Gan­zes wie die Be­we­gung; sie ist das We­sen der Kraft. Al­les ist Be­we­gung. Der Tod ist eine Be­we­gung, de­ren Gren­zen uns we­nig be­kannt sind. Wenn Gott ewig ist, dann ist er, das dür­fen Sie glau­ben, im­mer in Be­we­gung. Vi­el­leicht ist Gott die Be­we­gung. Da­rum ist die Be­we­gung wie er un­er­klär­lich, wie er un­er­gründ­lich, gren­zen­los, un­faß­bar und un­greif­bar. Wer hat je die Be­we­gung be­rührt, er­faßt, ge­mes­sen? Wir spü­ren ihre Wir­kung, ohne sie zu se­hen. Wir kön­nen sie so­gar leug­nen, wie wir Gott leug­nen. Wo ist sie? Wo ist sie nicht? Wo be­ginnt sie? Wo ist ihr Ur­sprung? Wo ist ihr Ende? Sie um­gibt uns, drängt uns und ent­weicht uns. Sie ist klar wie eine Tat­sa­che, dun­kel wie eine Abstrak­ti­on, ist Ur­sa­che und Wir­kung in ei­nem. Sie braucht wie wir den Raum, und was ist der Raum? Die Be­we­gung al­lein er­klärt ihn uns; ohne die Be­we­gung ist er nichts mehr als ein lee­res Wort ohne Sinn. Die Be­we­gung ist wie der lee­re Raum, wie die Schöp­fung, wie das Unend­li­che ein un­lös­ba­res Pro­blem, sie ver­wirrt das mensch­li­che Den­ken, und al­les, was der Mensch zu be­grei­fen ver­mag, ist, daß er sie nie­mals be­grei­fen wird. Zwi­schen je­dem der Punk­te, die die­se Ku­gel nach­ein­an­der im Raum ein­nimmt, klafft für die mensch­li­che Ver­nunft ein Ab­grund, der Ab­grund, in den Pas­cal ge­stürzt ist. Um nun auf den un­be­kann­ten Stoff, den Sie ei­ner un­be­kann­ten Kraft un­ter­wer­fen wol­len, ein­zu­wir­ken, müs­sen wir zu­erst die­sen Stoff un­ter­su­chen; nach sei­ner Na­tur wird er ent­we­der un­ter ei­nem Stoß zer­bre­chen oder wird ihm wi­der­ste­hen; wenn er in Stücke bricht und es nicht in Ih­rer Ab­sicht liegt, ihn zu tei­len, so kön­nen wir das ge­setz­te Ziel nicht er­rei­chen. Wol­len Sie ihn kom­pri­mie­ren, so muß auf alle Tei­le des Stof­fes eine glei­che Be­we­gung der­art über­tra­gen wer­den, daß der Raum zwi­schen den Tei­len gleich­mä­ßig ver­min­dert wird. Wol­len Sie ihn aus­deh­nen, so müs­sen wir ver­su­chen, auf je­des Mo­le­kül eine glei­che ex­zen­tri­sche Kraft aus­zuü­ben; denn ohne ge­naue An­wen­dung die­ses Ge­set­zes wür­den wir den Zu­sam­men­hang des Stof­fes ver­nich­ten. Sie müs­sen be­den­ken, die Be­we­gung kennt un­end­li­che Mo­da­li­tä­ten, zahl­lo­se Kom­bi­na­tio­nen. Zu wel­cher Wir­kung wol­len Sie sich ent­schlie­ßen?«

»Mon­sieur«, ver­setz­te Ra­pha­el un­ge­dul­dig, »ich wün­sche ir­gend­ei­nen Druck, der stark ge­nug ist, um die­ses Le­der be­lie­big zu deh­nen …«

»Da die Sub­stanz nicht be­lie­big groß, son­dern be­grenzt ist«, er­wi­der­te der Ma­the­ma­ti­ker, »kann sie nicht be­lie­big oder un­be­grenzt ge­dehnt wer­den; der Druck wird mit Not­wen­dig­keit den Um­fang auf Kos­ten der Di­cke ver­grö­ßern; die Sub­stanz wird dün­ner wer­den, bis es an Ma­te­rie zu feh­len be­ginnt …«

»Wenn Sie die­ses Re­sul­tat er­rei­chen«, rief Ra­pha­el, »so ha­ben Sie Mil­lio­nen ver­dient!«

»Ich wür­de Ih­nen Ihr Geld steh­len«, er­wi­der­te der Pro­fes­sor mit dem Phleg­ma ei­nes Hol­län­ders. »Ich will Ih­nen mit zwei Wor­ten eine Ma­schi­ne be­schrei­ben, un­ter der so­gar Gott sel­ber wie eine Flie­ge zer­quetscht wür­de. Sie ist im­stan­de, einen Men­schen samt Stie­feln, Spo­ren, Kra­wat­te, Hut, Geld, Schmuck, kurz, mit al­lem in ein Blatt Lösch­pa­pier zu ver­wan­deln …«

»Was für eine furcht­ba­re Ma­schi­ne!«

»An­statt ihre Kin­der ins Was­ser zu wer­fen, soll­ten die Chi­ne­sen sie sich lie­ber auf die­se Wei­se nutz­bar ma­chen«, fuhr der Ge­lehr­te fort, ohne dar­an zu den­ken, daß ein Mensch sei­nen Nach­kom­men eine ge­wis­se Ach­tung zol­len soll­te.

Plan­chet­te war ganz von sei­ner Idee er­füllt, nahm einen lee­ren Blu­men­topf, der ein Loch im Bo­den hat­te, und stell­te ihn auf die Schei­be der Son­nen­uhr; dann hol­te er aus ei­nem Win­kel des Gar­tens et­was Ton. Ra­pha­el stand ge­spannt da wie ein Kind, dem sei­ne Amme ein Mär­chen er­zählt. Plan­chet­te leg­te sei­nen Ton auf die Schei­be, zog dann ein Gar­ten­mes­ser aus der Ta­sche, schnitt zwei Ho­lun­derzwei­ge ab und be­gann, das Mark her­aus­zu­drücken, da­bei pfiff er vor sich hin, als ob Ra­pha­el gar nicht da wäre.

»Da ha­ben wir die ein­zel­nen Be­stand­tei­le der Ma­schi­ne«, sag­te er.

Mit Hil­fe ei­nes aus dem Ton ge­form­ten Knies be­fes­tig­te er eine der Holz­röh­ren am Bo­den des Top­fes, so daß die Öff­nung des Ho­lun­ders mit dem Loch des Top­fes ver­bun­den war. Es sah wie eine un­för­mi­ge Pfei­fe aus. Auf der Schei­be brei­te­te er eine Schicht des Tons aus, daß die Form ei­ner Schau­fel ent­stand, setz­te den Blu­men­topf auf den brei­tes­ten Teil und drück­te den Ho­lun­derzweig auf dem Teil, der den Griff vor­stell­te, fest. Schließ­lich kleb­te er et­was Ton um das äu­ße­re Ende des Ho­lun­der­rohrs, steck­te den zwei­ten hoh­len Zweig auf­recht hin­ein, form­te den Ton zu ei­nem zwei­ten Knie­stück, das ihn mit dem ho­ri­zon­ta­len Zweig ver­band, so daß die Luft oder eine be­lie­bi­ge Flüs­sig­keit in die­ser im­pro­vi­sier­ten Ma­schi­ne von der Mün­dung des ver­ti­ka­len Roh­res durch den Ver­bin­dungs­ka­nal bis zu dem lee­ren Blu­men­topf flie­ßen konn­te.

»Die­ser Ap­pa­rat, Mon­sieur«, sag­te er nun zu Ra­pha­el mit dem Ernst ei­nes Aka­de­mi­kers, der sei­ne An­tritts­vor­le­sung hält, »ist eine der wun­der­bars­ten Er­fin­dun­gen des großen Pas­cal.«

»Ich ver­ste­he nicht.«

Der Ge­lehr­te lä­chel­te. Er nahm von ei­nem Obst­baum ein Fläsch­chen, in der sein Apo­the­ker ihm eine Flüs­sig­keit zum Fan­gen der Amei­sen ge­schickt hat­te; er schlug den Bo­den ab, so daß ein Trich­ter ent­stand, hielt ihn sorg­fäl­tig auf die Öff­nung des hoh­len Zwei­ges, den er ver­ti­kal ge­gen­über dem großen Re­ser­voir, das der Blu­men­topf bil­de­te, in den Ton ge­steckt hat­te; dann goß er aus ei­ner Gieß­kan­ne so viel Was­ser in den Trich­ter, daß es in dem großen Topf und in dem klei­nen kreis­run­den Mund­stück des Ho­lun­derzwei­ges gleich hoch stand. Ra­pha­el dach­te an sein Cha­grin­le­der.

»Das Was­ser«, do­zier­te der Mecha­ni­ker, »gilt heu­te noch als ein Kör­per, der nicht kom­pri­miert wer­den kann; be­ach­ten Sie die­ses fun­da­men­ta­le Prin­zip; es kann al­ler­dings kom­pri­miert wer­den, aber nur so ge­ring, daß wir sei­ne Kon­trak­ti­ons­fä­hig­keit gleich Null set­zen dür­fen. Se­hen Sie die Ober­flä­che des Was­sers, das in den Blu­men­topf ge­langt ist?«

»Ja, Mon­sieur«.

»Nun neh­men Sie an, die­se Ober­flä­che wäre tau­send­mal grö­ßer als das Mund­stück des Ho­lun­der­rohrs, durch das ich die Flüs­sig­keit ein­ge­gos­sen habe. Se­hen Sie, ich neh­me den Trich­ter weg.«

»Ganz recht.«

»Wenn ich nun ir­gend­wie das Vo­lu­men die­ser Mas­se ver­grö­ße­re, in­dem ich durch das Mund­stück des klei­nen Rohrs noch Was­ser ein­füh­re, so wird die Flüs­sig­keit dar­in hin­un­ter­ge­trie­ben und in dem Re­ser­voir, das der Blu­men­topf bil­det, stei­gen, bis die Flüs­sig­keit in bei­den gleich hoch steht …«

»Das ist ein­leuch­tend!« rief Ra­pha­el.

»Aber der Un­ter­schied ist der«, fuhr der Ge­lehr­te fort, »daß, wenn die dün­ne Was­ser­säu­le, die in das klei­ne Ver­ti­kal­rohr ein­ge­führt wird, dort eine Kraft dar­stellt, die bei­spiels­wei­se etwa dem Ge­wicht ei­nes Pfun­des ent­spricht, daß sich dann in dem Blu­men­topf, da die Leis­tung des Was­sers sich ge­treu auf die flüs­si­ge Mas­se über­trägt und auf alle Punk­te der Was­sero­ber­flä­che im Blu­men­topf ein­wirkt, tau­send Was­ser­säu­len be­fin­den, die alle die Ten­denz ha­ben, zu stei­gen, als wä­ren sie von ei­ner Kraft ge­trie­ben, die der­je­ni­gen gleich ist, wel­che die Flüs­sig­keit in dem ver­ti­ka­len Ho­lun­derzweig her­ab­treibt, und also mit Not­wen­dig­keit hier« – er deu­te­te auf die Öff­nung des Blu­men­top­fes – »eine Leis­tung her­vor­brin­gen, die tau­send­mal be­trächt­li­cher ist als die Leis­tung, die da ein­ge­führt wird.« Der Ge­lehr­te wies da­bei mit dem Fin­ger auf die Holz­röh­re, die senk­recht in dem Ton be­fes­tigt war.

»Das ist ganz ein­fach«, mein­te Ra­pha­el.

Plan­chet­te lä­chel­te.

»Mit an­de­ren Wor­ten«, fuhr er mit der hart­nä­cki­gen Lo­gik, die den Ma­the­ma­ti­kern ei­gen ist, fort, »müß­te man, wenn man dem An­prall des Was­sers Wi­der­stand leis­ten woll­te, auf je­den Teil der großen Ober­flä­che eine Kraft wir­ken las­sen, die der in der ver­ti­ka­len Röh­re gleich ist; nur von dem Un­ter­schied ab­ge­se­hen, daß, wenn die flüs­si­ge Säu­le hier einen Fuß hoch ist, die tau­send klei­nen Säu­len der großen Ober­flä­che nur um ein Ge­rin­ges an­stei­gen wer­den. Jetzt aber« – da­mit stieß Plan­chet­te sei­ne Ho­lun­der­stöck­chen ver­ächt­lich zur Sei­te – »den­ken wir uns die­sen ko­mi­schen klei­nen Ap­pa­rat durch Me­tall­roh­re von ge­nü­gen­der Stär­ke und Län­ge er­setzt. Be­de­cken wir nun die flüs­si­ge Ober­flä­che des großen Re­ser­voirs mit ei­ner star­ken be­weg­li­chen Plat­te, set­zen wir ihr eine an­de­re, de­ren Wi­der­stands­kraft und Fes­tig­keit er­probt ist, ent­ge­gen, ver­schaf­fen wir uns fer­ner die Mög­lich­keit, der flüs­si­gen Mas­se durch das klei­ne Ver­ti­kal­rohr fort­ge­setzt Was­ser hin­zu­zu­fü­gen, so muß der Ge­gen­stand zwi­schen den bei­den fes­ten Plat­ten not­wen­di­ger­wei­se dem un­ge­heu­ren Druck, der un­auf­hör­lich auf ihn aus­ge­übt wird, nach­ge­ben. Das Mit­tel, durch das klei­ne Rohr fort­wäh­rend Was­ser zu­zu­füh­ren, ist für die Mecha­nik ein Kin­der­spiel, eben­so das Ver­fah­ren, den Druck der flüs­si­gen Mas­se auf eine Plat­te zu über­tra­gen. Zwei Kol­ben und ein paar Ven­ti­le ge­nü­gen. Ver­ste­hen Sie nun, Ver­ehr­tes­ter« – da­mit faß­te er Va­len­tin am Arm –, »daß es kaum einen Stoff ge­ben kann, der, wenn man ihn zwi­schen die­se bei­den un­auf­hör­li­chen Wi­der­stän­de bringt, sich nicht zwangs­läu­fig aus­deh­nen müß­te.« – »Wie, der Ver­fas­ser der ›Lett­res pro­vin­cia­les‹ hat das er­fun­den?« rief Ra­pha­el.

»Er al­lein, Mon­sieur. Die Mecha­nik kennt nichts Ein­fa­che­res und nichts Schö­ne­res. Das ent­ge­gen­ge­setz­te Prin­zip, die Ex­pan­si­ons­kraft des Was­sers, hat die Dampf­ma­schi­ne her­vor­ge­bracht. Aber die Ex­pan­si­ons­kraft des Was­sers geht nur bis zu ei­nem ge­wis­sen Gra­de, wäh­rend sei­ne Nicht­kom­pri­mier­bar­keit, die eine ge­wis­ser­ma­ßen ne­ga­ti­ve Kraft ist, not­wen­di­ger­wei­se un­end­lich ist.«

»Wenn die­ses Le­der sich dehnt«, sag­te Ra­pha­el, »ver­spre­che ich Ih­nen, Blai­se Pas­cal26 eine Ko­los­sal­sta­tue zu er­rich­ten, einen Preis von 100 000 Fran­cs für das bes­te Pro­blem zu stif­ten, des­sen Lö­sung der Mecha­nik in je­dem Jahr­zehnt ge­lingt, Ihre Nich­ten und Groß­nich­ten aus­zu­stat­ten und schließ­lich ein Ho­spi­tal für ver­rück­te oder ver­arm­te Ma­the­ma­ti­ker zu grün­den.«

»Das wäre sehr nütz­lich«, er­wi­der­te Plan­chet­te und fuhr dann mit der Ruhe ei­nes Man­nes, der nur in der Sphä­re des Ver­stan­des lebt, fort: »Ge­hen wir also mor­gen zu Spieg­hal­ter. Die­ser treff­li­che Mecha­ni­ker hat nach mei­nen An­ga­ben un­längst eine ver­voll­komm­ne­te Ma­schi­ne ge­baut, mit der ein Kind tau­send Bund Heu in sei­nen Hut bräch­te.«

»Auf mor­gen, Mon­sieur.«

»Auf mor­gen.«

»Da sage mir noch ei­ner was von der Mecha­nik!« rief Ra­pha­el. »Ist sie nicht die schöns­te al­ler Wis­sen­schaf­ten? Der an­de­re mit sei­nen Ona­gern, sei­nen Klas­sen, sei­nen En­ten, sei­nen Gat­tun­gen und sei­nen Glas­ge­fäßen vol­ler Scheuß­lich­kei­ten taug­te zu wei­ter nichts, als in ei­nem Café die Bil­lard­stö­ße zu mar­kie­ren.«

Am an­de­ren Tag such­te Ra­pha­el ganz ver­gnügt Plan­chet­te auf, und sie fuh­ren zu­sam­men in die Rue de la Santé,27 ein Name, der von gu­ter Vor­be­deu­tung schi­en. Spieg­hal­ter hat­te einen rie­si­gen Be­trieb; der jun­ge Mann sah über­all rote und don­nern­de Ei­sen­häm­mer. Es war ein Feu­er­re­gen, eine Sint­flut von Nä­geln und Ha­ken, ein Ozean von Kol­ben, Schrau­ben, He­beln, Stan­gen, Qu­er­stücken, Fei­len, Mut­tern, ein Meer von Guß­ei­sen, Holz, Ven­ti­len und Ei­sen­stan­gen. Die Feil­spä­ne mach­ten das At­men schwer. In der Luft lag Ei­sen, die Män­ner wa­ren mit Ei­sen be­deckt, al­les stank nach Ei­sen, das Ei­sen hat­te Le­ben, hat­te Or­ga­ne, es ver­flüs­sig­te sich, be­weg­te sich, dach­te, in­dem es alle For­men an­nahm, al­len Lau­nen ge­horch­te. Durch das Ge­heul der Bla­se­bäl­ge, das Cre­scen­do der Häm­mer, das Pfei­fen der Wal­zen, un­ter de­nen das Ei­sen ächz­te, ge­lang­te Ra­pha­el in einen großen sau­be­ren und gut durch­lüf­te­ten Raum, in dem er die un­ge­heu­re Pres­se, von der ihm Plan­chet­te ge­spro­chen hat­te, in Muße be­trach­ten konn­te. Er be­wun­der­te eine Art guß­ei­ser­ne Boh­len und Preß­wan­gen aus Ei­sen, die durch einen un­zer­stör­ba­ren Kern ver­bun­den wa­ren.

»Wenn Sie sie­ben­mal hin­ter­ein­an­der schnell die­se Kur­bel dre­hen wür­den«, sag­te Spieg­hal­ter und wies auf eine Art Pum­pen­schwen­gel aus blan­kem Ei­sen, »dann wür­den Sie eine Stahl­plat­te in tau­send Sp­lit­ter zer­spren­gen, die Ih­nen wie Na­deln ins Fleisch drin­gen wür­den.«

»Don­ner­wet­ter!« rief Ra­pha­el.

Plan­chet­te leg­te ei­gen­hän­dig das Cha­grin­le­der zwi­schen die bei­den Plat­ten der mäch­ti­gen Pres­se und be­dien­te, voll der von wis­sen­schaft­li­chen Über­zeu­gun­gen ge­tra­ge­nen Si­cher­heit leb­haft den Schwen­gel.

»Auf den Bo­den, oder wir sind alle des To­des!« schrie Spieg­hal­ter mit don­nern­der Stim­me und warf sich selbst flach hin.

Ein schreck­li­ches Pfei­fen er­füll­te die Wer­kräu­me. Das Was­ser in der Ma­schi­ne spreng­te das Ei­sen, schoß in ei­nem Strahl von furcht­ba­rer Ge­walt her­vor, der sich zum Glück ge­gen einen al­ten Schmie­de­herd lenk­te, den er um­warf, zer­schmet­ter­te und her­um­schleu­der­te, wie eine Wind­ho­se ein Haus er­faßt und mit sich fort­reißt.

»Oh«, sag­te Plan­chet­te in al­ler Ruhe, »das Cha­grin­le­der ist heil wie mein Auge! Meis­ter Spieg­hal­ter, es war ein Sprung in Ihrem Guß oder eine un­dich­te Stel­le im großen Rohr.«

»Nein, nein, ich ken­ne mei­nen Guß. Mon­sieur soll nur sein Zeug wie­der mit­neh­men, der Teu­fel sitzt drin.«

Der Deut­sche nahm einen Schmie­de­ham­mer zur Hand, leg­te das Stück Le­der auf einen Am­boß und ließ mit der gan­zen Kraft, die der Zorn ver­leiht, einen so furcht­ba­ren Schlag auf den Ta­lis­man nie­der­sau­sen, wie er in sei­nen Werk­stät­ten noch nie er­dröhnt war.

»Er zeigt sich bloß nicht!« rief Plan­chet­te und strich über das wi­der­spens­ti­ge Le­der.

Die Ar­bei­ter lie­fen her­bei. Der Werk­meis­ter nahm das Le­der und steck­te es in die glü­hen­de Stein­koh­le sei­nes Schmie­de­feu­ers. Alle stan­den im Halb­kreis um das Feu­er und be­ob­ach­te­ten un­ge­dul­dig das Auf­lo­dern der von ei­nem un­ge­heu­ren Bla­se­balg an­ge­fach­ten Flam­men. Ra­pha­el, Spieg­hal­ter und Pro­fes­sor Plan­chet­te stan­den in der Mit­te die­ser schwar­zen lau­ern­den Men­ge. Als Ra­pha­el all die­se wei­ßen Au­gen, die­se mit Ei­sen­staub ge­pu­der­ten Köp­fe, die­se ru­ßig glän­zen­den Ar­beits­klei­der, die­se be­haar­ten Brüs­te sah, glaub­te er sich in die nächt­li­che, phan­tas­ti­sche Welt der deut­schen Bal­la­den ver­setzt. Der Werk­meis­ter er­griff schließ­lich das Le­der mit ei­ner Zan­ge, nach­dem er es zehn Mi­nu­ten lang im Feu­er ge­las­sen hat­te.

»Ge­ben Sie es mir«, sag­te Ra­pha­el.

Der Werk­meis­ter streck­te es Ra­pha­el wie zum Spaß hin. Der Mar­quis nahm es ein­fach in die Hand: es war kalt und ge­schmei­dig. Die Ar­bei­ter schri­en vor Ent­set­zen auf und flo­hen. Va­len­tin blieb mit Plan­chet­te al­lein in der lee­ren Werk­statt.

»Kein Zwei­fel, es sitzt et­was Teuf­li­sches dar­in!« rief Ra­pha­el ver­zwei­felt; »kei­ne Macht der Erde kann mir also einen Tag Le­ben da­zu­ge­ben?«

»Ich habe un­recht ge­habt«, ver­setz­te der Ma­the­ma­ti­ker mit zer­knirsch­ter Mie­ne, »wir hät­ten die­se ab­son­der­li­che Haut der Ein­wir­kung ei­nes Walz­werks aus­set­zen müs­sen. Wo hat­te ich mei­ne Au­gen, als ich Ih­nen eine hy­drau­li­sche Pres­se vor­schlug!«

»Ich sel­ber hat­te es ge­for­dert«, er­wi­der­te Ra­pha­el.

Der Ge­lehr­te at­me­te auf wie ein Schul­di­ger, der von zwölf Ge­schwo­re­nen frei­ge­spro­chen wird. Das selt­sa­me Pro­blem, das die­ses Stück Le­der ihm auf­gab, be­schäf­tig­te ihn den­noch, er dach­te eine Wei­le nach und sag­te schließ­lich:

»Man muß die­sen un­be­kann­ten Stoff mit Rea­gen­zi­en be­han­deln. Wir wol­len Ja­phet auf­su­chen, viel­leicht hat die Che­mie mehr Glück als die Mecha­nik.«

Va­len­tin trieb sein Pferd schnell an, da­mit sie den be­rühm­ten Che­mi­ker Ja­phet noch in sei­nem La­bo­ra­to­ri­um an­trä­fen.

»Nun, al­ter Freund«, sag­te Plan­chet­te, als er Ja­phet be­grüß­te, der in ei­nem Lehn­stuhl saß und einen Nie­der­schlag be­trach­te­te, »wie geht’s der Che­mie?«

»Sie schläft ein; nichts Neu­es. Die Aka­de­mie hat al­ler­dings die Exis­tenz des Sa­li­zin an­er­kannt, aber Sa­li­zin, Aspa­ra­gin, Vau­que­lin, Di­gi­ta­lin, das sind al­les kei­ne Ent­de­ckun­gen.«

»Es scheint«, sag­te Ra­pha­el, »daß Sie, da sich Sub­stan­zen nicht er­fin­den las­sen, dar­auf an­ge­wie­sen sind, Na­men zu er­fin­den.«

»Das ist bei Gott wahr, jun­ger Mann!«

»Hier«, sag­te Pro­fes­sor Plan­chet­te zu dem Che­mi­ker, »ver­su­che doch mal, die­se Sub­stanz zu zer­le­gen; wenn du ir­gend­ein neu­es Ele­ment dar­aus ge­winnst, nen­ne ich es von vorn­her­ein Dia­bo­lin, denn als wir sie eben kom­pri­mie­ren woll­ten, ha­ben wir eine hy­drau­li­sche Pres­se zu­schan­den ge­macht.«

»Schau, schau!« rief der Che­mi­ker ver­gnügt, »das gibt viel­leicht ein neu­es Ele­ment.«

»Mon­sieur«, sag­te Ra­pha­el, »es ist wei­ter nichts als ein Stück Esels­haut.«

»Mon­sieur«, woll­te der Che­mi­ker ernst er­wi­dern, aber der Mar­quis gab ihm das Cha­grin­le­der mit der Be­mer­kung: »Ich ma­che kei­nen Spaß.«

Baron Ja­phet prüf­te das Le­der zu­nächst mit den Pa­pil­len sei­ner Zun­ge, die dar­in ge­übt war, Sal­ze, Säu­ren, Al­ka­li­en und Gase her­aus­zu­schme­cken, und mein­te nach ei­ni­gen Ver­su­chen: »Ge­schmack hat es kei­nen. Nun wol­len wir ihm ein­mal ein biß­chen Fluß­säu­re zu trin­ken ge­ben.«

Das Le­der wur­de mit die­sem Stoff be­han­delt, das tie­ri­sche Ge­we­be so­fort zer­setzt, wies aber kei­ner­lei Ver­än­de­run­gen auf.

»Das ist kein Cha­grin!« rief der Che­mi­ker. »Nun wol­len wir die­ses ge­heim­nis­vol­le Un­be­kann­te wie ein Mi­ne­ral be­han­deln und ihm or­dent­lich ein­hei­zen. Tun wir es also in einen Schmelz­tie­gel, in dem ich ge­ra­de rote Pot­ta­sche habe.«

Ja­phet ging hin­aus und kam bald zu­rück.

»Bit­te Mon­sieur«, sag­te er zu Ra­pha­el, »las­sen Sie mich ein Stück­chen von die­ser ku­rio­sen Sub­stanz ab­neh­men, sie ist so selt­sam, daß …«

»Ein Stück­chen?« rief Ra­pha­el; »nicht ein Haar­breit geht da­von ab. Üb­ri­gens«, füg­te er dann mit ei­nem Aus­druck hin­zu, der zu­gleich düs­ter und spöt­tisch war, »ver­su­chen Sie es!«

Der Ge­lehr­te zer­brach bei dem Ver­such, et­was von dem Le­der ab­zu­schnei­den, ein Ra­sier­mes­ser; er ver­such­te es mit Hil­fe ei­ner star­ken elek­tri­schen La­dung zu zer­tei­len; dann un­ter­warf er es der Wir­kung der Vol­tai­schen Säu­le; kurz, alle Blit­ze sei­ner Wis­sen­schaft wur­den an dem schreck­li­chen Ta­lis­man zu­nich­te. Es war sie­ben Uhr abends. Plan­chet­te, Ja­phet und Ra­pha­el merk­ten nicht, wie die Zeit ent­schwand; sie war­te­ten auf das Er­geb­nis ei­nes letz­ten Ver­su­ches. Je­doch das Cha­grin­le­der ging aus ei­nem furcht­ba­ren An­griff mit ei­ner ge­hö­ri­gen Do­sis Chlor­stick­stoff sieg­reich her­vor.

»Ich bin ver­lo­ren!« rief Ra­pha­el. »Gott will es. Ich muß ster­ben.« Er ließ die bei­den Ge­lehr­ten be­stürzt zu­rück.

»Wir wol­len uns hü­ten, die­ses Aben­teu­er der Aka­de­mie zu er­zäh­len, un­se­re Kol­le­gen wür­den sich über uns lus­tig ma­chen«, sag­te Plan­chet­te zu dem Che­mi­ker nach ei­ner lan­gen Pau­se, in der sie ein­an­der an­ge­se­hen hat­ten, ohne daß sie aus­zu­spre­chen wag­ten, was sie dach­ten.

Die bei­den Ge­lehr­ten ka­men sich wie Chris­ten vor, die aus ih­ren Grä­bern auf­er­stan­den sind und kei­nen Gott im Him­mel ge­fun­den ha­ben. Die Wis­sen­schaft? Ohn­mäch­tig! Die Säu­ren? Kla­res Was­ser! Die rote Pot­ta­sche? Bla­miert! Die Vol­tai­sche Säu­le und der elek­tri­sche Fun­ke? Zwei Gau­kel­männ­chen!

»Eine hy­drau­li­sche Pres­se zer­bro­chen wie ein Stück Brot!« rief Plan­chet­te.

Es trat wie­der Schwei­gen ein, dann mur­mel­te der Baron Ja­phet: »Ich glau­be an den Teu­fel!«

»Und ich an Gott!« ant­wor­te­te Plan­chet­te.

Sie blie­ben bei­de ih­rer Rol­le treu. Für einen Mecha­ni­ker ist das Uni­ver­sum eine Ma­schi­ne, die einen Ar­bei­ter ver­langt; für die Che­mie, die­ses Werk ei­nes Dä­mons, der al­les zer­setzt, ist die Welt ein Gas, das sich ver­än­dern kann.

»Wir kön­nen die Tat­sa­che nicht leug­nen«, ver­setz­te der Che­mi­ker.

»Bah! trös­ten wir uns mit dem ver­schwom­me­nen Grund­satz, den die Dok­tri­näre in die Welt ge­setzt ha­ben: Dumm wie eine Tat­sa­che.«

»Dein Grund­satz«, ver­setz­te der Che­mi­ker, »scheint mir aber erst recht dumm zu sein.«

Sie bra­chen in La­chen aus und speis­ten zu Abend wie Män­ner, die in ei­nem Wun­der nur noch ein Phä­no­men der Wis­sen­schaft er­blick­ten.

*

Va­len­tin war zu Hau­se an­ge­langt. Eine kal­te Wut hat­te ihn be­fal­len; er glaub­te an nichts mehr; sei­ne Ge­dan­ken strit­ten in sei­nem Hirn, dreh­ten sich und schwank­ten, wie es ei­nem Men­schen geht, der ei­ner un­mög­li­chen Tat­sa­che ins Auge sieht. Er hät­te gern an einen ver­bor­ge­nen Feh­ler in der Ma­schi­ne Spieg­hal­ters ge­glaubt; auch die Ohn­macht der Wis­sen­schaft und des Feu­ers hat­te ihn nicht ge­wun­dert; aber die Ge­schmei­dig­keit des Le­ders, als er es in die Hand nahm, und sei­ne Wi­der­stands­fä­hig­keit, als alle dem Men­schen zur Ver­fü­gung ste­hen­den Zer­stö­rungs­mit­tel ge­gen es ge­rich­tet wur­den, flö­ßten ihm Grau­en ein. Die­se un­be­streit­ba­re Tat­sa­che er­reg­te ihm Schwin­del.

»Ich bin wahn­sin­nig«, sag­te er sich. »Ich habe seit heu­te mor­gen nichts ge­ges­sen und ver­spü­re trotz­dem we­der Hun­ger noch Durst, und da­bei füh­le ich in der Brust eine bren­nen­de Glut.«

Er schob das Cha­grin­le­der wie­der in den Rah­men, in dem es bis vor kur­z­em ge­we­sen war, und nach­dem er mit ro­ter Tin­te die au­gen­blick­li­chen Kon­tu­ren des Ta­lis­mans nach­ge­zo­gen hat­te, setz­te er sich in sei­nen Lehn­stuhl.

»Schon acht Uhr!« rief er. »Die­ser Tag ist wie ein Traum ver­gan­gen.«

Er leg­te die Arme auf die Ses­sel­leh­ne, stütz­te den Kopf auf die lin­ke Hand und blieb in düs­te­re Be­trach­tun­gen, in jene ver­zeh­ren­den Ge­dan­ken ver­sun­ken, de­ren Ge­heim­nis die zum Tode Ver­ur­teil­ten mit sich neh­men.

»Ach, Pau­li­ne!« rief er. »Ar­mes Kind! Es gibt Ab­grün­de, die selbst die Lie­be nicht zu über­win­den ver­mag, trotz der Kraft ih­rer Flü­gel.« In die­sem Au­gen­blick hör­te er ganz deut­lich einen un­ter­drück­ten Seuf­zer. Er horch­te auf, und in­fol­ge ei­ner der rüh­rends­ten Vor­zü­ge der Lie­be er­kann­te er den Atem sei­ner Pau­li­ne. »Oh«, sag­te er sich, »das ist mein To­des­ur­teil. Wenn sie da wäre, woll­te ich in ih­ren Ar­men ster­ben!«

Ein un­be­schwer­tes, fröh­li­ches La­chen er­klang. Er wand­te den Kopf nach sei­nem Bett und sah durch die durch­schei­nen­den Vor­hän­ge Pau­li­nes Ge­sicht. Sie strahl­te, glück­lich wie ein Kind, das sich über einen ge­lun­ge­nen Streich freut; ihr schö­nes Haar fiel ihr in tau­send Lo­cken über die Schul­tern; sie glich ei­ner ben­ga­li­schen Rose in ei­nem Blü­ten­meer wei­ßer Ro­sen.

»Ich habe Jo­na­thas ver­lei­tet«, sag­te sie; »ge­hört die­ses Bett nicht mir, bin ich nicht dei­ne Frau? Schilt nicht, Ge­lieb­ter, ich woll­te nur in dei­ner Nähe schla­fen, woll­te dich über­ra­schen. Ver­zeih mir die Tor­heit!« Sie sprang wie eine Kat­ze aus dem Bett, stand strah­lend schön in ih­rem Mus­se­lin vor Ra­pha­el und setz­te sich ihm auf den Schoß. »Von wel­chem Ab­grund sprachst du denn, Liebs­ter?« frag­te sie, und ihre Stirn zeig­te ihre Be­sorg­nis.

»Vom Tode.«

»Du tust mir weh«, ant­wor­te­te sie; »es gibt Vor­stel­lun­gen, die wir ar­men Frau­en nicht er­tra­gen kön­nen; sie tö­ten uns. Kommt es von un­se­rer star­ken Lie­be oder vom Man­gel an Mut? Ich weiß es nicht. Der Tod schreckt mich nicht.« Da­bei lach­te sie schon wie­der. »Mit dir mor­gen früh in ei­nem letz­ten Kuß zu ster­ben wäre eine Won­ne. Mir ist, als hät­te ich schon mehr als 100 Jah­re ge­lebt. Was liegt an der Zahl der Tage, wenn wir in ei­ner Nacht, in ei­ner Stun­de ein gan­zes Le­ben vol­ler Frie­den und Glück aus­ge­schöpft ha­ben?«

»Du hast recht. Aus dei­nem hol­den Mund spricht der Him­mel. Laßt ihn mich küs­sen, und dann wol­len wir ster­ben.«

»Ster­ben wir also!« gab sie la­chend zur Ant­wort.

Ge­gen neun Uhr mor­gens schi­en der Tag durch die Spal­ten der Ja­lou­si­en; die Mus­selin­vor­hän­ge dämpf­ten das Licht, aber schon konn­te man die kräf­tigs­ten Far­ben des Tep­pichs und die sei­denglän­zen­den Mö­bel des Zim­mers er­ken­nen, in dem die bei­den Lie­ben­den ruh­ten. Ve­rein­zelt schim­mer­ten Ver­gol­dun­gen auf. Ein Strahl erstarb auf dem wei­chen Dau­nen­kis­sen, das im Lie­bes­s­piel zu Bo­den ge­fal­len war. Pau­li­nes Kleid, das an ei­nem ho­hen Spie­gel auf­ge­hängt war, sah wie eine Geis­ter­ge­stalt aus. Die zier­li­chen Schu­he wa­ren weit vom Bett ent­fernt lie­gen­ge­las­sen wor­den. Eine Nach­ti­gall hat­te sich aufs Fens­ter­brett ge­setzt; ihr hel­les Sin­gen, ihr ra­scher Flü­gel­schlag, als sie plötz­lich da­von­flog, weck­ten Ra­pha­el auf.

»Wenn ich ster­ben soll«, sag­te er sich und vollen­de­te da­mit einen Ge­dan­ken sei­nes Trau­mes, »muß mein Or­ga­nis­mus, die­ser Ap­pa­rat von Fleisch und Kno­chen, der von mei­nem Wil­len be­seelt ist und aus mir ein mensch­li­ches In­di­vi­du­um macht, eine be­trächt­li­che Schä­di­gung auf­wei­sen. Die Ärz­te müs­sen die Sym­pto­me der an­ge­grif­fe­nen Le­bens­kraft er­ken­nen und mir sa­gen kön­nen, ob ich ge­sund oder krank bin.«

Er be­trach­te­te sei­ne schla­fen­de Frau, die sei­nen Kopf um­schlun­gen hielt und ihn auch im Schlum­mer mit der zärt­li­chen Für­sor­ge der Lie­be um­gab. Zier­lich aus­ge­streckt wie ein Kind, das Ge­sicht ihm zu­ge­wandt, schi­en Pau­li­ne ihn noch im­mer an­zu­se­hen, ihm den hüb­schen halb­ge­öff­ne­ten Mund dar­zu­bie­ten, aus dem ihr re­gel­mä­ßi­ger, rei­ner Atem drang. Ihre klei­nen schim­mern­den Zäh­ne ho­ben das Rot ih­rer fri­schen Lip­pen her­vor, um die ein Lä­cheln schweb­te; die ro­si­ge Fär­bung ih­res Ant­lit­zes war in die­sem Au­gen­blick leb­haf­ter, sein Weiß ge­wis­ser­ma­ßen noch wei­ßer als in den ver­lieb­tes­ten Stun­den des Ta­ges. Ihre an­mu­ti­ge Hin­ge­ge­ben­heit, aus der so rei­nes Ver­trau­en sprach, füg­te dem Zau­ber der Lie­be noch den wun­der­vol­len Reiz schlum­mern­der Kind­heit hin­zu. Selbst die na­tür­lichs­ten Frau­en ge­hor­chen wäh­rend des Ta­ges ge­wis­sen ge­sell­schaft­li­chen Kon­ven­tio­nen, die nai­ve Ge­fühls­äu­ße­run­gen hem­men, der Schlaf je­doch scheint ih­nen jene un­be­fan­ge­ne Na­tür­lich­keit wie­der­zu­ge­ben, die die ers­ten Le­bens­jah­re so köst­lich schmückt: Pau­li­ne er­rö­te­te über nichts, sie war eins der hol­den himm­li­schen Ge­schöp­fe, de­nen die Ver­nunft noch kei­ne Ge­dan­ken in die Be­we­gun­gen, kei­ne Ge­heim­nis­se in die Bli­cke ge­mischt hat. Ihr Pro­fil hob sich klar von dem fei­nen Ba­tist der Kopf­kis­sen ab; die brei­ten Spit­zen­rü­schen, die sich in ihr ge­lös­tes Haar misch­ten, ga­ben ihr ein leicht schel­mi­sches Aus­se­hen; aber sie war auch in Won­ne ein­ge­schla­fen. Ihre lan­gen Wim­pern ruh­ten auf ih­ren Wan­gen, wie um die Au­gen vor grel­lem Licht zu schüt­zen oder die See­le, wenn sie eine voll­kom­me­ne, aber flüch­ti­ge Lust fest­zu­hal­ten sucht, in ih­rer Samm­lung zu un­ter­stüt­zen; ihr zier­li­ches, ro­si­ges Ohr, das, von Haa­ren um­lockt, aus Me­chel­ner Spit­zen her­vor­schau­te, hät­te einen Künst­ler, einen Ma­ler, einen Greis vor Lie­be den Ver­stand ver­lie­ren oder gar einen Wahn­sin­ni­gen wie­der zu Ver­stand kom­men las­sen. Sei­ne schla­fen­de Ge­lieb­te zu se­hen, wie sie un­ter dem Schut­ze des ge­lieb­ten Man­nes fried­lich lä­chelnd schlum­mert, wie sie ihn noch im Traum, wo das Le­ben ge­schwun­den zu sein scheint, liebt und ihm schwei­gend die Lip­pen dar­bie­tet, die noch im Schla­fe vom letz­ten Kus­se er­zäh­len; eine Frau zu se­hen, die arg­los, halb­nackt, aber in ihre Lie­be wie in einen Man­tel gehüllt und in­mit­ten der Auf­lö­sung keusch da­liegt, ihre da und dort ver­streu­ten Klei­dungs­stücke zu be­wun­dern, die­sen Sei­den­strumpf, der am Abend vor­her dem Liebs­ten zu Ge­fal­len rasch ab­ge­streift wur­de, den ge­lös­ten Gür­tel, aus dem gren­zen­lo­ses Ver­trau­en spricht – ist das nicht na­men­lo­se Freu­de? Die­ser Gür­tel ist ein gan­zes Ge­dicht; die Frau, die er schütz­te, exis­tiert nicht mehr; sie ge­hört dem Ge­lieb­ten, ist eins ge­wor­den mit ihm; ver­rät er sie von nun an, ver­wun­det er sich selbst. Ra­pha­el sah sich ge­rührt in die­sem Zim­mer um, das vol­ler Lie­be, vol­ler Erin­ne­run­gen war, das der Tag in wol­lüs­ti­ges Licht tauch­te, und wand­te dann sei­nen Blick wie­der der Frau mit ih­ren rei­nen, jun­gen For­men zu, die noch in der Lie­be weil­te, de­ren Ge­füh­le mehr als al­les an­de­re ihm un­ge­teilt ge­hör­ten. Er wünsch­te, ewig zu le­ben. Als sein Blick auf Pau­li­ne fiel, schlug sie mit ei­nem Mal die Au­gen auf, als hät­te ein Son­nen­strahl sie ge­trof­fen.

»Gu­ten Mor­gen, mein Freund«, be­grüß­te sie ihn lä­chelnd. »Wie schön du bist, Bö­ser.«

Ihre bei­den Köp­fe, ganz von der An­mut ver­klärt, wel­che die Lie­be, die Ju­gend, die Däm­me­rung und das Schwei­gen ver­lie­hen, zeig­ten ei­nes je­ner gött­li­chen Bil­der, de­ren flüch­ti­ger Zau­ber nur den ers­ten Ta­gen der Lei­den­schaft ge­hört, wie Nai­vi­tät und Un­schuld die At­tri­bu­te der Kind­heit sind. Ach, die­se Lenz­freu­den der Lie­be müs­sen ent­schwin­den wie das La­chen un­se­rer Kin­der­ta­ge und le­ben nur in un­se­rer Erin­ne­rung fort, um uns je nach den Lau­nen der ge­hei­men Vor­gän­ge un­se­res In­ne­ren ent­we­der trost­los zu ma­chen oder uns flüch­ti­ge Trös­tung zu ge­wäh­ren.

»Wa­rum bist du er­wacht?« sag­te Ra­pha­el; »ich war so glück­lich, dich schla­fend zu se­hen, daß ich wein­te.«

»Auch ich habe heu­te nacht ge­weint«, er­wi­der­te sie, »als ich dei­nen Schlum­mer be­wach­te, aber nicht vor Freu­de. Höre, mein Ra­pha­el, höre mich an! Wenn du schläfst, ist dein Atem nicht frei, es ist et­was Ras­seln­des in dei­ner Brust, das mir Angst ge­macht hat. Wäh­rend du schläfst, hast du so einen kur­z­en, tro­ckenen Hus­ten, der aufs Haar dem mei­nes Va­ters gleicht, der an der Schwind­sucht da­hin­siecht. An dem Geräusch dei­ner Lun­gen habe ich ei­ni­ge Sym­pto­me die­ser Krank­heit er­kannt. Und du hat­test Fie­ber, ich weiß es ge­wiß, dei­ne Hand war feucht und glü­hend. Ge­lieb­ter, du bist jung«, füg­te sie hin­zu und schau­er­te zu­sam­men, »du könn­test noch ge­heilt wer­den, wenn zum Un­glück … Aber nein«, rief sie froh, »es ist kein Un­glück, die Krank­heit ist an­ste­ckend, sag­ten die Ärz­te.« Sie um­schlang Ra­pha­el mit bei­den Ar­men und sog sei­nen Atem mit ei­nem Kuß ein, in den die gan­ze See­le ström­te. »Ich will kei­ne alte Frau wer­den. Wir wol­len zu­sam­men jung ster­ben und mit Blu­men in den Hän­den gen Him­mel pil­gern.«

»Sol­che Plä­ne macht man leicht, wenn man ge­sund ist«, er­wi­der­te Ra­pha­el und strich mit bei­den Hän­den durch Pau­li­nes Haar.

Aber plötz­lich be­kam er einen furcht­ba­ren Hus­ten­an­fall. Es war ein schwe­rer, hoh­ler Hus­ten, der aus ei­ner Gruft zu schal­len scheint, der Bläs­se auf die Stirn des Kran­ken treibt, ihn am gan­zen Lei­be zit­ternd und in Schweiß ge­ba­det zu­rück­läßt, sei­ne Ner­ven auf­wühlt, den Brust­korb er­schüt­tert, sein Rücken­mark über­an­strengt und blei­er­ne Schwe­re in sei­nen Adern ver­brei­tet hat. Nie­der­ge­schla­gen und bleich ließ sich Ra­pha­el auf sein Bett sin­ken, er war er­schöpft wie ein Mensch, der sei­ne gan­ze Kraft in ei­ner letz­ten An­stren­gung ver­braucht hat. Pau­li­ne sah ihn mit star­ren, angst­voll ge­wei­te­ten Au­gen an. Sie blieb re­gungs­los, blaß und stumm.

»Wir dür­fen kei­ne Tor­hei­ten mehr an­stel­len, Liebs­ter«, sag­te sie schließ­lich, um Ra­pha­el die furcht­ba­ren Vorah­nun­gen, die sie be­fie­len, zu ver­ber­gen.

Sie schlug die Hän­de vors Ge­sicht. Das gräß­li­che Ge­rip­pe des To­des stand vor ihr. Ra­phaels Ant­litz war fahl und hohl wie ein Schä­del, der für die Stu­di­en ei­nes Ge­lehr­ten dem Sch­lund des Kirch­hofs ent­ris­sen wor­den ist. Pau­li­ne fiel Va­len­tins Aus­ruf vom Vora­bend ein, und sie sprach zu sich selbst: »Ja, es gibt Ab­grün­de, die die Lie­be nicht über­win­den kann, aber sie muß in ih­nen ver­sin­ken.«

Ein paar Tage nach die­ser trost­lo­sen Sze­ne saß Ra­pha­el an ei­nem März­mor­gen in sei­nem Lehn­stuhl. Vier Ärz­te stan­den um ihn her­um, die ihn ans Fens­ter sei­nes Schlaf­zim­mers hat­ten rücken las­sen, wo es hell war, und ihm nach­ein­an­der den Puls be­fühl­ten, ihn ab­klopf­ten und mit schein­ba­rem In­ter­es­se be­frag­ten. Der Kran­ke such­te aus ih­ren Ges­ten und den kleins­ten Fal­ten auf ih­rer Stirn ihre Ge­dan­ken zu er­ra­ten. Die­se Kon­sul­ta­ti­on war sei­ne letz­te Hoff­nung. Die­se höchs­ten Rich­ter soll­ten sein Ur­teil spre­chen: Le­ben oder Tod. Um der mensch­li­chen Wis­sen­schaft das letz­te Wort zu ent­rei­ßen, hat­te Va­len­tin die Ora­kel der mo­der­nen Me­di­zin be­ru­fen. Dank sei­nem Ver­mö­gen und sei­nem Na­men be­fan­den sich die drei Sys­te­me, zwi­schen de­nen sich das mensch­li­che Wis­sen be­wegt, hier vor ihm. Drei von die­sen Dok­to­ren tru­gen die gan­ze ärzt­li­che Phi­lo­so­phie mit sich her­um und re­prä­sen­tier­ten den Kampf, den der Spi­ri­tua­lis­mus, die Ana­ly­se und ein ge­wis­ser spöt­ti­scher Ek­lek­ti­zis­mus un­ter­ein­an­der füh­ren. Der vier­te Arzt war Horace Bian­chon, ein Mann der Zu­kunft und rei­cher Kennt­nis­se, viel­leicht der aus­ge­zeich­nets­te un­ter den neu­en Ärz­ten, der klu­ge und be­schei­de­ne Ver­tre­ter der for­schen­den Ju­gend, die sich an­schickt, die Erb­schaft der seit 50 Jah­ren von der Éco­le de Pa­ris an­ge­häuf­ten Schät­ze an­zu­tre­ten, und die viel­leicht das Mo­nu­ment er­rich­ten wird, zu dem die frü­he­ren Jahr­hun­der­te so­viel ver­schie­de­nes Ma­te­ri­al zu­sam­men­ge­tra­gen ha­ben. Er war ein Freund des Mar­quis und Ras­ti­gnac und hat­te vor meh­re­ren Ta­gen sei­ne Be­hand­lung über­nom­men. Jetzt half er ihm, die Fra­gen der drei Pro­fes­so­ren zu be­ant­wor­ten, die er zu­wei­len mit ei­ni­ger Dring­lich­keit auf die Sym­pto­me hin­wies, die ihm eine Lun­gen­schwind­sucht an­zu­zei­gen schie­nen.

»Sie ha­ben ohne Zwei­fel sehr aus­schwei­fend ge­lebt, ha­ben, wie man so sagt, ein tol­les Le­ben ge­führt und ha­ben sich auch großen geis­ti­gen An­stren­gun­gen ge­wid­met?« frag­te ei­ner der drei be­rühm­ten Dok­to­ren, des­sen ecki­ger Kopf, wuch­ti­ge Ge­stalt und ener­gi­sches Auf­tre­ten auf eine geis­ti­ge Über­le­gen­heit über sei­ne bei­den Geg­ner schlie­ßen ließ.

»Ich woll­te mich durch Aus­schwei­fung zu­grun­de rich­ten, nach­dem ich drei Jah­re lang an ei­nem großen Werk ge­ar­bei­tet habe, mit dem Sie sich viel­leicht ein­mal be­schäf­ti­gen wer­den«, ant­wor­te­te ihm Ra­pha­el.

Der große Arzt nick­te mit dem Kopf als Zei­chen sei­ner Zufrie­den­heit, als hät­te er sich selbst ge­sagt: »Ich wuß­te es!«

Die­ser Arzt war der er­lauch­te Bris­set, das Haupt der Or­ga­ni­zis­ten,28 der Nach­fol­ger der Ca­ba­nis29 und Bichats, ein Ver­tre­ter der po­si­ti­vis­ti­schen und ma­te­ria­lis­ti­schen Schu­le, die im Men­schen ein end­li­ches We­sen sieht, das le­dig­lich den Ge­set­zen sei­ner ei­ge­nen Or­ga­ni­sa­ti­on un­ter­wor­fen ist und des­sen nor­ma­ler Zu­stand oder schäd­li­che Anoma­li­en sich aus un­ver­kenn­ba­ren Ur­sa­chen er­klä­ren las­sen.

Nach die­ser Ant­wort sah Bris­set schwei­gend auf einen un­ter­setz­ten Mann, des­sen hoch­ro­tes Ge­sicht und glü­hen­des Auge ei­nem al­ten Sa­tyr zu ge­hö­ren schie­nen. Er lehn­te mit dem Rücken an der Ecke der Fens­ter­ni­sche und be­trach­te­te Ra­pha­el auf­merk­sam, ohne ein Wort zu sa­gen. Dok­tor Caméris­tus war ein schwär­me­ri­scher und gläu­bi­ger Mann, Füh­rer der Vi­ta­lis­ten30 und poe­ti­scher Ver­tei­di­ger der ab­strak­ten Dok­tri­nen van Hel­monts; er sah im mensch­li­chen Le­ben ein ge­heim­nis­vol­les hö­he­res Prin­zip, eine un­er­klär­li­che Er­schei­nung, der man mit dem Skal­pell nicht bei­kom­men kann, die der Chir­ur­gie spot­tet, den Arz­nei­en der Phar­ma­zeu­tik, den X der Al­ge­bra, den De­mons­tra­tio­nen der Ana­to­mie ent­schlüpft und all un­ser Mü­hen ver­lacht: eine Art un­faß­ba­re, un­sicht­ba­re, ir­gend­ei­nem gött­li­chen Ge­setz un­ter­wor­fe­ne Flam­me, die oft­mals in ei­nem Kör­per wei­ter­brennt, über den wir längst das To­des­ur­teil ge­spro­chen ha­ben, wie sie zu­wei­len auch die le­bens­kräf­tigs­ten Na­tu­ren ver­läßt.

Ein sar­do­ni­sches Lä­cheln glitt über die Lip­pen des drit­ten, des Dok­tor Mau­gre­die. Er war ein aus­ge­zeich­ne­ter Kopf, aber ein Skep­ti­ker und Spöt­ter, der an nichts als ans Skal­pell glaub­te, Bris­set den Tod ei­nes Men­schen zu­ge­stand, dem es aus­ge­zeich­net ging, und wie­der­um mit Ca­me­ris­tus an­er­kann­te, daß ein Mensch noch nach sei­nem Tode wei­ter­le­ben kön­ne. Er fand in al­len Theo­ri­en et­was Gu­tes, schloß sich kei­ner an, be­haup­te­te, das bes­te Sys­tem in der Me­di­zin sei, keins zu ha­ben und sich an die Tat­sa­chen zu hal­ten. Die­ser Panurg, die­ser Kö­nig der Beo­b­ach­tung, der große Dia­gno­s­ti­ker und große Spöt­ter, der Mann der ver­zwei­fel­ten Ver­su­che, mach­te sich jetzt mit dem Cha­grin­le­der zu schaf­fen.

»Ich möch­te mich gern von dem Zu­sam­men­hang zwi­schen Ihren Wün­schen und sei­ner Ver­klei­ne­rung mit ei­ge­nen Au­gen über­zeu­gen«, sag­te er zu dem Mar­quis.

»Wozu denn?« rief Bris­set.

»Wozu denn?« wie­der­hol­te Caméris­tus.

»Ah! Sie sind sich ei­nig«, mein­te Mau­gre­die.

»An die­ser Zu­sam­men­zie­hung ist wei­ter nichts Be­son­de­res«, mein­te Bris­set.

»Sie ist über­na­tür­lich«, sag­te Caméris­tus.

»Ja, in der Tat«, ver­setz­te Mau­gre­die und nahm eine erns­te Mie­ne an, wäh­rend er Ra­pha­el sein Cha­grin­le­der zu­rück­gab; »so ist zum Bei­spiel die horn­ar­ti­ge Ver­här­tung der Haut eine un­er­klär­li­che und den­noch na­tür­li­che Tat­sa­che, die seit der Er­schaf­fung der Welt die Me­di­zin und die hüb­schen Frau­en zur Verzweif­lung treibt.«

Wie ge­nau Va­len­tin sei­ne drei Ärz­te auch be­ob­ach­te­te, er ent­deck­te bei ih­nen kei­ner­lei Mit­ge­fühl für sei­ne Lei­den. Alle drei blie­ben nach je­der Ant­wort stumm, ma­ßen ihn mit gleich­gül­ti­gen Bli­cken und frag­ten ihn aus, ohne ihn zu be­dau­ern. Hin­ter ih­rer Höf­lich­keit war küh­le Teil­nahms­lo­sig­keit zu spü­ren. Sei es, daß sie ih­rer Sa­che si­cher, sei es, daß sie in tie­fes Nach­den­ken ver­sun­ken wa­ren, ihre Wor­te flos­sen so spär­lich, so trä­ge, daß Ra­pha­el manch­mal glaub­te, sie wä­ren mit ih­ren Ge­dan­ken wo­an­ders. Von Zeit zu Zeit ant­wor­te­te le­dig­lich Bris­set: »Gut! Schön!« auf alle hoff­nungs­lo­sen Sym­pto­me, die Bian­chon auf­zeig­te. Caméris­tus ver­harr­te in ei­ner tie­fen Träu­me­rei; Mau­gre­die er­in­ner­te an einen Lust­spiel­dich­ter, der zwei Ori­gi­na­le stu­diert, um sie treu auf die Büh­ne zu brin­gen. Das Ge­sicht Bian­chons ver­riet große Sor­ge und trau­ri­ge Er­grif­fen­heit. Er war erst zu kur­ze Zeit Arzt, um vor dem Schmerz stumpf, vor dem Bett ei­nes Ster­ben­den un­er­schüt­tert blei­ben zu kön­nen; er ver­moch­te die Freun­de­strä­nen nicht zu un­ter­drücken, die einen Men­schen hin­dern, klar zu se­hen und wie ein Be­fehls­ha­ber den für den Sieg güns­ti­gen Au­gen­blick zu pa­cken, ohne auf die Schreie der Ster­ben­den zu hö­ren. Nach­dem die Au­to­ri­tä­ten un­ge­fähr eine hal­be Stun­de dar­auf ver­wen­det hat­ten, der Krank­heit und dem Kran­ken so­zu­sa­gen Maß zu neh­men, wie ein Schnei­der ei­nem jun­gen Mann für sei­nen Hoch­zeits­an­zug Maß nimmt, brach­ten sie ein paar Ge­mein­plät­ze vor, un­ter­hiel­ten sich so­gar über Po­li­tik; dann woll­ten sie sich in Ra­phaels Ar­beits­zim­mer zu­rück­zie­hen, um ihre Mei­nun­gen aus­zut­au­schen und das Ur­teil zu fäl­len.

»Mes­sieurs«, frag­te Ra­pha­el, »kann ich der De­bat­te nicht bei­woh­nen?«

Ge­gen die­ses An­sin­nen er­ho­ben Bris­set und Mau­gre­die leb­haf­ten Ein­spruch und lehn­ten es trotz der dring­li­chen Bit­ten des Kran­ken ab, in sei­ner An­we­sen­heit zu be­ra­ten. Ra­pha­el füg­te sich dem Brauch; er ge­dach­te aber, sich in einen klei­nen Gang zu schlei­chen, von dem aus er die me­di­zi­ni­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen, die zwi­schen den drei Pro­fes­so­ren ent­bren­nen wür­den, leicht ver­fol­gen konn­te.

»Mes­sieurs«, sag­te Bris­set, als sie ein­ge­tre­ten wa­ren, »ge­stat­ten Sie mir, Ih­nen so­fort mei­ne Mei­nung dar­zu­le­gen. Ich will sie Ih­nen we­der auf­drän­gen noch sie be­strit­ten se­hen; ers­tens ist sie be­stimmt und si­cher; sie re­sul­tiert aus ei­ner völ­li­gen Ähn­lich­keit zwi­schen ei­nem mei­ner Kran­ken und dem Pa­ti­en­ten, zu des­sen Un­ter­su­chung wir hier­her ge­ru­fen wor­den sind; zwei­tens er­war­tet man mich in mei­ner Kli­nik. Der Fall, der mei­ne An­we­sen­heit dort er­for­der­lich macht, ist so wich­tig, daß Sie ent­schul­di­gen, wenn ich als ers­ter das Wort er­grei­fe. Das ›Sub­jek­t‹, mit dem wir es zu tun ha­ben, ist in glei­cher Wei­se von geis­ti­gen Ar­bei­ten er­schöpft … Was hat er denn ge­schrie­ben, Horace?« Da­mit wand­te er sich an den jun­gen Arzt.

»Eine Theo­rie des Wil­lens!«

»Don­ner­wet­ter! das ist frei­lich ein weit­rei­chen­des The­ma! Er ist, sage ich, durch über­mä­ßi­ge Geis­tes­ar­beit, durch eine un­ver­nünf­ti­ge Le­bens­wei­se, durch die wie­der­hol­te An­wen­dung zu star­ker Sti­mu­lan­ti­en er­schöpft. Die stän­di­ge Auf­peit­schung des Kör­pers wie des Ge­hirns hat die Tä­tig­keit des gan­zen Or­ga­nis­mus durch­ein­an­der­ge­bracht. Mes­sieurs, es ist leicht, in den Sym­pto­men des Ge­sichts­aus­drucks und des Kör­pers eine star­ke Rei­zung des Ma­gens, die Neu­ro­se des großen Sym­pa­thi­kus, die leb­haf­te Emp­find­lich­keit des Epi­ga­stri­ums und die Ve­ren­gung des Hy­po­chon­dri­ums zu er­ken­nen. Sie ha­ben die An­schwel­lung und das Her­vor­tre­ten der Le­ber be­merkt. Schließ­lich hat Mon­sieur Bian­chon die Ver­dau­ung sei­nes Pa­ti­en­ten stän­dig be­ob­ach­tet und uns mit­ge­teilt, daß sie schwer und müh­sam ist. Gen­au­ge­sagt ist kein Ma­gen mehr da; der ei­gent­li­che Mensch ist ver­schwun­den. Der In­tel­lekt ist ge­schwächt, weil der Mann nicht mehr ver­daut. Die fort­schrei­ten­de Ver­än­de­rung des Epi­ga­stri­ums, des Zen­trums des Le­bens, hat das gan­ze Sys­tem ge­stört. Von dort wer­den die dau­ern­den und un­be­streit­ba­ren Stö­run­gen aus­ge­strahlt; sie ha­ben durch das Ner­ven­ge­flecht auf das Hirn über­ge­grif­fen, da­her die au­ßer­or­dent­li­che Reiz­bar­keit die­ses Or­gans. Es liegt eine Mo­no­ma­nie vor. Der Kran­ke wird von ei­ner fi­xen Idee ver­folgt. Für ihn wird die­ses Stück Cha­grin­le­der wirk­lich klei­ner, viel­leicht ist es aber im­mer so groß ge­we­sen, wie wir es ge­se­hen ha­ben; aber ob es sich zu­sam­men­zieht oder nicht, die­ses Cha­grin­le­der ist für ihn die Mücke auf der Nase des Groß­we­sirs. Set­zen Sie un­ver­züg­lich Blut­egel an das Epi­ga­stri­um, be­ru­hi­gen Sie die Rei­zung die­ses Or­gans, in dem das mensch­li­che Le­ben sei­nen Sitz hat, sor­gen Sie für eine stren­ge Diät, und die Mo­no­ma­nie wird wei­chen. Ich brau­che Dok­tor Bian­chon nichts wei­ter zu sa­gen; er muß die Be­hand­lung vor­neh­men, im Gan­zen wie in den Ein­zel­hei­ten. Vi­el­leicht liegt ein Zu­sam­men­wir­ken von Krank­hei­ten vor, viel­leicht sind die Atem­we­ge gleich­falls in Mit­lei­den­schaft ge­zo­gen; aber ich hal­te die Be­hand­lung des Ver­dau­ungs­ap­pa­ra­tes für weitaus wich­ti­ger, not­wen­di­ger, dring­li­cher als die der Lun­gen. Die an­ge­spann­te Be­schäf­ti­gung des Geis­tes mit ab­strak­ten Ge­gen­stän­den und hef­ti­ge Lei­den­schaf­ten ha­ben in die­sem le­bens­not­wen­di­gen Mecha­nis­mus erns­te Stö­run­gen her­vor­ge­ru­fen; aber es ist noch nicht zu spät, des­sen Trieb­kräf­te wie­der­her­zu­stel­len; es ist noch nichts zu ein­grei­fend ver­än­dert. Sie kön­nen also Ihren Freund mü­he­los ret­ten«, wand­te er sich ab­schlie­ßend an Bian­chon.

»Un­ser ge­lehr­ter Kol­le­ge nimmt die Wir­kung für die Ur­sa­che«, ant­wor­te­te Caméris­tus. »O ja, die Ver­än­de­run­gen, die er so treff­lich fest­ge­stellt hat, sind bei dem Pa­ti­en­ten vor­han­den; aber der Ma­gen hat nicht die stu­fen­wei­sen Auss­trah­lun­gen in den Or­ga­nis­mus und das Hirn her­vor­ge­bracht, wie ein Loch in ei­ner Fens­ter­schei­be strah­len­för­mig Sprün­ge um sich zieht. Es war ein Stoß nö­tig, um die Schei­be zu zer­spren­gen. Wer hat die­sen Stoß ge­führt? Wis­sen wir es? Ha­ben wir den Pa­ti­en­ten ge­nü­gend be­ob­ach­tet? Ken­nen wir alle Vor­fäl­le sei­nes Le­bens? Mes­sieurs, das Le­ben­s­prin­zip, der ›Ar­cheus‹ des van Hel­mont,31 ist bei ihm an­ge­grif­fen; die Le­bens­kraft selbst ist an ih­rer Wur­zel ver­letzt; der gött­li­che Fun­ke, die tran­si­to­ri­sche In­tel­li­genz, die der Ma­schi­ne als Zu­sam­men­halt dient und den Wil­len er­zeugt, das Be­wußt­sein des Le­bens hat auf­ge­hört, die täg­li­chen Er­schei­nun­gen des Mecha­nis­mus und die Funk­tio­nen je­des Or­gans zu re­geln; das ver­ur­sacht die Stö­run­gen, die mein ge­lehr­ter Kol­le­ge ganz rich­tig kon­sta­tiert hat. Die Be­we­gung ging nicht vom Epi­ga­stri­um zum Hirn, son­dern vom Hirn zum Epi­ga­stri­um. Nein!« rief er und schlug sich da­bei hef­tig auf die Brust, »nein, ich bin kein mensch­ge­wor­de­ner Ma­gen! Nein, da sitzt nicht al­les. Ich habe nicht den Mut, zu be­haup­ten, daß, wenn mei­ne Ver­dau­ung klappt, al­les üb­ri­ge Ne­ben­sa­che sei. Wir kön­nen«, fuhr er dann ru­hi­ger fort, »die schwe­ren Stö­run­gen, die bei ver­schie­de­nen Men­schen mehr oder we­ni­ger hef­tig auf­tre­ten, nicht auf die näm­li­che phy­si­sche Ur­sa­che zu­rück­füh­ren und dür­fen sie nicht ein­för­mig be­han­deln. Kein Mensch ist dem an­de­ren gleich. Wir ha­ben alle be­son­de­re Or­ga­ne, die ver­schie­de­ne Wir­kun­gen her­vor­brin­gen, ver­schie­de­ne Le­bens­grund­la­gen brau­chen, die ver­schie­de­ne Auf­ga­ben er­fül­len und ei­ner Be­stim­mung fol­gen, wel­che zur Vollen­dung ei­ner uns noch un­be­kann­ten Ord­nung der Din­ge er­for­der­lich ist. Der Teil des großen Gan­zen, der ge­mäß ei­nem hö­he­ren Wil­len in uns das Phä­no­men des Le­bens be­wirkt und un­ter­hält, hat in je­dem Men­schen sei­ne ei­ge­ne Aus­drucks­form und macht aus ihm ein We­sen, das an­schei­nend end­lich ist, das aber in ei­nem Punkt mit ei­ner un­end­li­chen Ur­sa­che ver­bun­den ist. Dem­zu­fol­ge müs­sen wir je­des Sub­jekt ge­son­dert stu­die­ren, es durch­drin­gen, er­ken­nen, worin sein Le­ben be­steht, wel­che be­son­de­re Kraft ihm ei­gen ist. Von der Weich­heit ei­nes nas­sen Schwam­mes bis zur Här­te ei­nes Bims­steins gibt es un­end­li­che Ab­stu­fun­gen. So ist es auch mit dem Men­schen. Zwi­schen der schwam­mi­gen Or­ga­ni­sa­ti­on lym­pha­ti­scher Men­schen und der me­tal­li­schen Mus­kel­här­te der­je­ni­gen, die zu ei­nem lan­gen Le­ben be­stimmt sind, was für Irr­tü­mer be­geht da nicht das ein­zi­ge, un­ab­än­der­li­che Sys­tem der Hei­lung durch Schwä­chung, durch völ­li­ge Er­schöp­fung der mensch­li­chen Kräf­te, die Sie stets für ge­reizt hal­ten! Im vor­lie­gen­den Fall also wür­de ich eine rein see­li­sche Be­hand­lung vor­schla­gen, eine tief­ge­hen­de Prü­fung des in­ne­ren We­sens. Su­chen wir den Sitz des Übels in den Ein­ge­wei­den der See­le statt in den Ein­ge­wei­den des Kör­pers! Ein Arzt ist ein er­leuch­te­tes We­sen, das mit ei­ner be­son­de­ren Gabe be­gna­det ist: Gott hat ihm die Macht ver­lie­hen, in der Le­bens­kraft zu le­sen, wie er den Pro­phe­ten Au­gen gibt, die Zu­kunft zu schau­en, dem Dich­ter das Ta­lent, die Na­tur zu be­schwö­ren, dem Mu­si­ker die Kunst, die Töne in ei­ner har­mo­ni­schen Ord­nung an­ein­an­der­zu­rei­hen, de­ren Vor­bild viel­leicht dort dro­ben ist! …«

»Im­mer sei­ne ab­so­lu­tis­ti­sche, mon­ar­chis­ti­sche und re­li­gi­öse Me­di­zin«, mur­mel­te Bris­set.

»Mes­sieurs«, mel­de­te sich Mau­gre­die rasch zu Wort, so daß Bris­sets Ein­wand nicht wei­ter be­ach­tet wur­de, »wir dür­fen den Kran­ken nicht aus dem Auge ver­lie­ren …«

»So steht es also mit der Wis­sen­schaft!« rief Ra­pha­el ver­zwei­felt in sei­nem Ver­steck. »Der eine bringt mir einen Kranz von Blut­egeln und der an­de­re einen Ro­sen­kranz zur Hei­lung; ich habe die Wahl zwi­schen dem Mes­ser Du­puy­trens32 und dem Ge­bet des Prin­zen von Ho­hen­lo­he!33 Und auf der Li­nie, die die Tat­sa­che vom Wort, die Ma­te­rie vom Geis­te trennt, steht Mau­gre­die und zwei­felt. Das Ja und Nein der Men­schen ver­folgt mich im­mer! Über­all das ›Ca­ry­ma­ry, Ca­ry­ma­ra‹ des Ra­be­lais: ich bin geis­tig krank, Ca­ry­ma­ry! Oder kör­per­lich krank, Ca­ry­ma­ra! Ob ich am Le­ben blei­be? Sie wis­sen es nicht. Da war doch Plan­chet­te ehr­li­cher, als er mir sag­te: Ich weiß nicht.«

In die­sem Au­gen­blick ver­nahm Va­len­tin die Stim­me des Dok­tor Mau­gre­die: »Der Kran­ke ist ein Mo­no­ma­ne, schön, ein­ver­stan­den!« rief er; »aber er hat zwei­mal 100 000 Li­vres jähr­lich. Mo­no­ma­nen der Art sind sel­ten, und wir schul­den ih­nen min­des­tens einen Rat. Was die Fra­ge an­geht, ob sein Epi­ga­stri­um auf das Hirn ge­wirkt hat oder das Hirn auf sein Epi­ga­stri­um, so kön­nen wir sie viel­leicht nach sei­nem Tode be­ant­wor­ten. Ma­chen wir es also kurz. Daß er krank ist, ist nicht zu be­strei­ten. Ir­gend­wie muß er also be­han­delt wer­den. Las­sen wir die Lehr­mei­nun­gen bei­sei­te. Set­zen wir ihm Blut­egel an, um die in­ne­re Rei­zung und die Neu­ro­se, über de­ren Vor­han­den­sein wir uns ei­nig sind, zu be­sei­ti­gen, und dann schi­cken wir ihn in ein Bad; auf die­se Wei­se wen­den wir bei­de Sys­te­me zu­gleich an! Ist er schwind­süch­tig, dann kön­nen wir ihn so­wie­so kaum ret­ten; also …«

Ra­pha­el ver­ließ schnell sein Ver­steck und be­gab sich wie­der in sei­nen Lehn­stuhl. Bald ka­men die vier Ärz­te aus dem Ar­beits­zim­mer. Horace führ­te das Wort und sag­te zu ihm: »Die Her­ren ha­ben ein­stim­mig die Not­wen­dig­keit ei­ner so­for­ti­gen Be­hand­lung mit Blut­egeln in der Ma­gen­ge­gend an­er­kannt. Fer­ner ist es nö­tig, Ihr Lei­den zu­gleich phy­sisch und psy­chisch zu be­han­deln. Zu­nächst eine pas­sen­de Diät, um die Rei­zung Ihres Or­ga­nis­mus zu be­ru­hi­gen …«

Hier mach­te Bris­set ein Zei­chen der Zu­stim­mung.

»Dann eine hy­gie­ni­sche Le­bens­wei­se, um auf Ihre geis­ti­ge Ver­fas­sung ein­zu­wir­ken. Wir ra­ten Ih­nen also ein­stim­mig, nach Aix in Sa­voy­en zu rei­sen oder ein Bad am Mont-Dore in der Au­ver­gne auf­zu­su­chen; die Luft und die Lage von Sa­voy­en sind an­ge­neh­mer als die des Can­tal,34 aber wir über­las­sen das Ihrem Gut­dün­ken.«

Hier war ein Kopf­ni­cken des Dok­tor Caméris­tus zu ver­zeich­nen.

»Die­se Her­ren«, fuhr Bian­chon fort, »ha­ben in Ihrem At­mungs­ap­pa­rat leich­te Ver­än­de­run­gen be­merkt und ha­ben ein­hel­lig mei­nen bis­he­ri­gen Vor­schrif­ten zu­ge­stimmt. Sie sind der Mei­nung, daß Ihre Hei­lung nicht schwer sein wird und von ei­nem klu­gen Wech­sel in der An­wen­dung die­ser ver­schie­de­nen Mit­tel we­sent­lich ab­hängt … Und …«

»Und nun sind wir so klug wie vor­her!« sag­te Ra­pha­el lä­chelnd, wäh­rend er Horace in sein Ar­beits­zim­mer führ­te, um ihm das Ho­no­rar für die über­flüs­si­ge Kon­sul­ta­ti­on aus­zu­hän­di­gen.

»Sie sind lo­gisch«, ant­wor­te­te ihm der jun­ge Me­di­zi­ner; »Caméris­tus emp­fin­det, Bris­set un­ter­sucht, Mau­gre­die zwei­felt. Hat nicht der Mensch eine See­le, einen Kör­per und einen Ver­stand? Eine die­ser drei Grund­ur­sa­chen wirkt in uns im­mer mehr oder we­ni­ger stark, und die mensch­li­che Wis­sen­schaft wird eben im­mer eine mensch­li­che sein. Glaub mir, Ra­pha­el, wir hei­len nicht, wir hel­fen der Hei­lung! Zwi­schen der Heil­kunst Bris­sets und der von Caméris­tus gibt es noch die ab­war­ten­de Metho­de,35 aber um die mit Er­folg an­zu­wen­den, müß­te man sei­nen Pa­ti­en­ten seit zehn Jah­ren ken­nen. Die Me­di­zin ba­siert auf Ne­ga­ti­on, wie alle Wis­sen­schaf­ten. Ver­such also, ver­nünf­tig zu le­ben, mach eine Rei­se nach Sa­voy­en! Es ist das bes­te und wird es im­mer blei­ben, sich der Na­tur an­zu­ver­trau­en.«

Ei­nen Mo­nat spä­ter wa­ren an ei­nem schö­nen Som­mer­abend ei­ni­ge Ba­de­gäs­te von Aix nach der Rück­kehr von der Pro­me­na­de in den Sa­lons des Kur­hau­ses ver­sam­melt. Ra­pha­el saß an ei­nem Fens­ter und wand­te der Ge­sell­schaft den Rücken. So saß er lan­ge al­lein; er war in ein stump­fes Brü­ten ver­sun­ken, in dem un­se­re Ge­dan­ken kom­men, sich ver­schlin­gen und ver­lö­schen, ohne rech­te Ge­stalt an­zu­neh­men, und wie leich­te kaum ge­färb­te Wol­ken in uns ver­flie­gen. Die Trau­er ist in die­sem Zu­stand sanft, die Freu­de sche­men­haft, und die See­le schlum­mert. So über­ließ sich Va­len­tin die­sem Le­ben der Sin­ne, er­quick­te sich an der lau­en At­mo­sphä­re des Abends und sog die rei­ne, wür­zi­ge Ber­g­luft ein. Er war glück­lich, kei­nen Schmerz zu füh­len und sein dro­hen­des Cha­grin­le­der end­lich zur Ruhe ge­bracht zu ha­ben. Die ro­ten Töne der Abend­däm­merung er­lo­schen auf den Gip­feln, es wur­de küh­ler. Er ver­ließ sei­nen Platz und schloß das Fens­ter.

»Ha­ben Sie die Güte, Mon­sieur«, sag­te eine alte Dame zu ihm, »das Fens­ter nicht zu schlie­ßen! Wir er­sti­cken.«

Die­ser Satz klang Ra­pha­el selt­sam schrill und wi­der­wär­tig im Ohr; er war wie das Wort, das ei­nem Freund, auf den wir bau­ten, un­vor­sich­tig ent­schlüpft und das den sü­ßen Wahn der Freund­schaft zer­reißt und uns in einen Ab­grund des Ego­is­mus bli­cken läßt. Der Mar­quis warf der al­ten Dame den küh­len Blick ei­nes un­zu­gäng­li­chen Di­plo­ma­ten zu, rief dann einen Die­ner und be­fahl die­sem tro­cken: »Öff­nen Sie das Fens­ter!«

Bei die­sen Wor­ten brei­te­te sich auf al­len Ge­sich­tern leb­haf­tes Be­frem­den aus. In der Ge­sell­schaft ent­stand ein Ge­flüs­ter, und man blick­te den Kran­ken mit mehr oder we­ni­ger be­red­ter Mie­ne an, als hät­te er sich sehr un­ziem­lich be­nom­men. Ra­pha­el, der sei­ne frü­he­re Jüng­lings­schüch­tern­heit noch nicht ab­ge­legt hat­te, spür­te eine Re­gung von Scham; aber er schüt­tel­te sei­ne Er­star­rung ab, ge­wann sei­ne Ener­gie zu­rück und frag­te sich, was die­se selt­sa­me Sze­ne wohl be­deu­te. Blitz­ar­tig kam Le­ben in sei­ne Ge­dan­ken, die Ver­gan­gen­heit er­schi­en ihm in ei­ner deut­li­chen Vi­si­on: die Ur­sa­chen der Ge­füh­le, die er her­vor­rief, spran­gen scharf her­vor wie die Adern ei­nes Leich­nams, an dem die Prä­pa­ra­to­ren durch eine zweck­dien­li­che Ein­sprit­zung die ge­rings­ten Ver­äs­te­lun­gen ge­färbt ha­ben; er sah sich selbst in die­sem flüch­ti­gen Bil­de, ver­folg­te sein Le­ben, Tag für Tag, Ge­dan­ken für Ge­dan­ken; er sah sich, nicht ohne Über­ra­schung, düs­ter und zer­streut in­mit­ten die­ser la­chen­den Welt; er ge­wahr­te sich, wie er im­mer über sein Schick­sal nach­grü­bel­te, mit sei­nem Lei­den be­schäf­tigt war, das harm­lo­ses­te Ge­spräch an­schei­nend ver­schmäh­te, wie er die flüch­ti­gen Ver­trau­lich­kei­ten scheu­te, die sich zwi­schen Rei­sen­den schnell ein­stel­len, weil sie zwei­fel­los da­mit rech­nen, ein­an­der nie wie­der zu be­geg­nen; er war kaum um die an­de­ren be­küm­mert und glich letzt­end­lich je­nen Fel­sen, die ge­gen das Ko­sen wie ge­gen das Wü­ten der Wo­gen un­er­schüt­tert blei­ben. Jetzt las er mit ei­ner sel­te­nen Gabe der In­tui­ti­on in al­len See­len: im Schein ei­nes Leuch­ters ent­deck­te er den gel­ben Schä­del und das hä­mi­sche Pro­fil ei­nes Grei­ses und er­in­ner­te sich, daß er ihm sein Geld ab­ge­won­nen hat­te, ohne ihm Re­van­che ein­zuräu­men; ein Stück wei­ter saß eine hüb­sche Frau, ge­gen de­ren ko­ket­te Win­ke er kalt ge­blie­ben war; je­des Ge­sicht warf ihm ein an­schei­nend un­er­klär­li­ches Un­recht vor, sein Ver­bre­chen be­stand in­des im­mer in ei­ner un­sicht­ba­ren Ver­let­zung der Ei­gen­lie­be. Un­ge­wollt hat­te er all die klei­nen Ei­tel­kei­ten, die um ihn kreis­ten, be­lei­digt. Die Teil­neh­mer an sei­nen Fes­ten oder die­je­ni­gen, de­nen er sei­ne Pfer­de an­ge­bo­ten hat­te, hat­ten sich über sei­nen Lu­xus ge­är­gert; von ih­rer Un­dank­bar­keit über­rascht, hat­te er ih­nen die­se Art De­mü­ti­gung er­spart; von da an hiel­ten sie sich für ver­ach­tet und war­fen ihm Dün­kel vor. Wäh­rend er so auf dem Grund der Her­zen las, konn­te er ihre ge­heims­ten Re­gun­gen ent­zif­fern; die Ge­sell­schaft, ihre Höf­lich­keit, ihr Fir­nis wa­ren ihm wi­der­wär­tig. Weil er reich und geis­tig über­le­gen war, wur­de er be­nei­det und ge­haßt; sei­ne Schweig­sam­keit ent­täusch­te die Neu­gier; sei­ne Be­schei­den­heit schi­en die­sen klein­li­chen, ober­fläch­li­chen Leu­ten Hoch­mut. Er kann­te jetzt das ver­bor­ge­ne, das nicht wie­der­gutz­u­ma­chen­de Ver­bre­chen, das er ge­gen sie be­gan­gen hat­te: er ent­zog sich dem Ur­teilss­pruch ih­rer Mit­tel­mä­ßig­keit. Er lehn­te sich ge­gen ih­ren zu­dring­li­chen Des­po­tis­mus auf, er brauch­te sie nicht; um sich für die­ses heim­li­che Kö­nig­tum zu rä­chen, hat­ten sich alle in­stink­tiv ver­bün­det, um ihn ihre Macht spü­ren zu las­sen, ihn ei­ner Art Scher­ben­ge­richt zu un­ter­wer­fen und ihm zu zei­gen, daß sie ihn gleich­falls nicht brauch­ten. Zu­erst war er bei die­sem An­blick der Welt vol­ler Mit­leid; aber bald schau­der­te ihn, wenn er an die selt­sa­me Gabe dach­te, die ihm so den kör­per­li­chen Schlei­er, un­ter dem die in­ne­re Na­tur ge­bor­gen ist, lüf­te­te. Plötz­lich senk­te sich ein schwar­zer Vor­hang über die­ses düs­te­re Bild der Wahr­heit, und er fand sich al­lein in der furcht­ba­ren Ein­sam­keit, die das Los der Gro­ßen und Mäch­ti­gen ist. In die­sem Au­gen­blick über­fiel ihn ein hef­ti­ger Hus­ten­an­fall. An­statt ein ein­zi­ges der gleich­gül­ti­gen und ba­na­len Wor­te zu ver­neh­men, mit de­nen die zu­fäl­lig zu­sam­men­ge­führ­ten Mit­glie­der der gu­ten Ge­sell­schaft we­nigs­tens eine Art höf­li­ches Mit­leid heu­cheln, hör­te er feind­se­li­ge Rufe und lei­se ge­mur­mel­te Be­schwer­den. Die Ge­sell­schaft gab sich nicht ein­mal mehr die Mühe, sich für ihn zu ver­stel­len, viel­leicht weil er sie doch durch­schaut hät­te.

»Sei­ne Krank­heit ist an­ste­ckend.« – »Die Di­rek­ti­on müß­te ihm ver­bie­ten, ins Kur­haus zu kom­men.« – »Es ist ja wahr­haf­tig po­li­zei­wid­rig, so zu hus­ten!« – »Je­mand, der so krank ist, soll nicht ins Bad rei­sen.« – »Er wird mir den Auf­ent­halt ver­lei­den.«

Ra­pha­el stand auf, um sich der all­ge­mei­nen Ver­wün­schung zu ent­zie­hen, und ging im Saal auf und ab. Er woll­te einen Schutz fin­den und nä­her­te sich ei­ner jun­gen Dame, die ge­lang­weilt da­saß; er dach­te, ihr ei­ni­ge Schmei­che­lei­en zu sa­gen, aber als er her­an­trat, wand­te sie ihm den Rücken und tat so, als sähe sie den Tän­zern zu. Ra­pha­el fürch­te­te, an die­sem Abend sei­nen Ta­lis­man schon ge­braucht zu ha­ben; er fühl­te we­der den Wil­len noch den Mut, ein Ge­spräch zu be­gin­nen, so ver­ließ er den Sa­lon und zog sich in das Bil­lard­zim­mer zu­rück. Da sprach nie­mand mit ihm, kei­ner grüß­te ihn oder warf ihm auch nur den kür­zes­ten wohl­wol­len­den Blick zu. Sein von Na­tur aus nach­denk­li­cher Geist ent­hüll­te ihm wie in ei­ner Ein­ge­bung die all­ge­mei­ne und ver­ständ­li­che Ur­sa­che der Ab­nei­gung, die er her­vor­ge­ru­fen hat­te. Die­se klei­ne Welt ge­horch­te, viel­leicht un­be­wußt, dem großen Ge­setz, das die vor­neh­me Ge­sell­schaft re­giert, de­ren un­ver­söhn­li­che Moral sich vor Ra­phaels Au­gen völ­lig ent­hüll­te. Er sah in die Ver­gan­gen­heit zu­rück und er­kann­te das vollen­de­te Ur­bild die­ser Ge­sell­schaft in Fœ­do­ra. Er konn­te bei die­ser Ge­sell­schaft nicht mehr Mit­ge­fühl für sei­ne Lei­den fin­den als bei Fœ­do­ra für die Qua­len sei­nes Her­zens. Die fei­ne Ge­sell­schaft ver­bannt die Un­glück­li­chen aus ih­rer Mit­te, wie ein Ge­sun­der einen Krank­heits­trä­ger aus sei­nem Kör­per ab­stößt. Die Welt ver­ab­scheut Schmer­zen und Un­glück; sie fürch­tet sie wie eine an­ste­cken­de Krank­heit, und nie schwankt sie zwi­schen ih­nen und den Las­tern; das Las­ter ist ein Lu­xus. Wie er­ha­ben ein Un­glück auch sein mag, die Ge­sell­schaft weiß es her­ab­zu­wür­di­gen, es durch ein Witz­wort lä­cher­lich zu ma­chen; sie zeich­net Ka­ri­ka­tu­ren, um den ent­thron­ten Kö­ni­gen den Schimpf an den Kopf zu wer­fen, den sie von ih­nen er­lit­ten zu ha­ben glaubt; sie gleicht den jun­gen Rö­me­rin­nen im Zir­kus und be­gna­digt den ge­fal­le­nen Gla­dia­tor nie; sie lebt von Gold und Bos­haf­tig­keit. »Tod den Schwa­chen!« ist die Lo­sung die­ser Art Rit­ter­or­den, die es bei al­len Völ­kern der Erde gibt; denn über­all gibt es Rei­che, und die­ser Leit­spruch ist tief in die Her­zen ein­ge­gra­ben, die vom Reich­tum ver­här­tet oder von ari­sto­kra­ti­schem Dün­kel ge­schwol­len sind. Man den­ke an die Kin­der in ei­ner Lehr­an­stalt: das ist ein Bild der Ge­sell­schaft im klei­nen, aber ein Bild, das um so tref­fen­der ist, als es nai­ver und ehr­li­cher ist; stets gibt es da klei­ne He­lo­ten, Men­schen­kin­der, die zum Lei­den und Dul­den ge­schaf­fen sind und im­mer zwi­schen Ver­ach­tung und Mit­leid ste­hen: ih­rer ist das Him­mel­reich, sagt das Evan­ge­li­um. Man stei­ge auf der Stu­fen­lei­ter der or­ga­ni­schen We­sen noch et­was tiefer. Wenn un­ter dem Ge­flü­gel ei­nes Hüh­ner­hofs eins ver­letzt ist, dann ha­cken die an­de­ren mit den Schnä­beln auf es ein, rei­ßen ihm die Fe­dern aus und tö­ten es. Die­sem Grund­ge­dan­ken des Ego­is­mus treu, geht die Welt ge­gen ein Un­glück, das keck ge­nug ist, ihre Fes­te zu stö­ren, ihre Freu­den zu trü­ben, mit gren­zen­lo­ser Stren­ge vor. Wer am Kör­per oder an der See­le lei­det, wem es an Geld oder an Macht fehlt, ist ein Pa­ria. Er blei­be in sei­ner Ver­las­sen­heit! Über­schrei­tet er ihre Gren­zen, so fin­det er über­all Käl­te: fros­ti­ge Bli­cke, fros­ti­ges Be­neh­men, küh­le Wor­te, kal­te Her­zen. Er kann glück­lich sein, wenn er da, wo er Trös­tung such­te, nicht Schimpf und Schan­de ern­tet! Ster­ben­de, bleibt in eu­ren ein­sa­men Bet­ten! Grei­se, bleibt al­lein an eu­rem er­lo­sche­nen Herd! Arme Mäd­chen ohne Mit­gift, friert und brennt in eu­ren lee­ren Dach­stu­ben! Dul­det die Welt ein­mal ein Un­glück, dann nur, um es für ih­ren Ge­brauch zu­rechtzu­ma­chen, dar­aus Ge­winn zu schla­gen, ihm einen Pack­sat­tel über­zu­schnal­len, es an die Kan­da­re zu neh­men, ihm eine Scha­bra­cke auf­zu­le­gen, es zu be­stei­gen und ih­ren Spaß mit ihm zu trei­ben. Be­trüb­te Ge­sell­schafts­da­men, schafft euch ver­gnüg­te Ge­sich­ter an; er­tragt die Lau­nen eu­rer an­geb­li­chen Wohl­tä­te­rin; tragt ihre Hun­de spa­zie­ren; seid selbst ihre Af­fen­pin­scher, amü­siert sie, er­ra­tet ihre Wün­sche und seid im üb­ri­gen still! Und du, Kö­nig der La­kai­en ohne Li­vree, gie­ri­ger Pa­ra­sit, laß dei­nen Cha­rak­ter zu Hau­se; ver­daue ge­nau so wie dein Gast­ge­ber, wei­ne sei­ne Trä­nen, la­che sein La­chen, sei ent­zückt über sei­ne Wit­ze; willst du dich über ihn lus­tig ma­chen, war­te, bis er in Staub ge­sun­ken ist. So ehrt die Welt das Un­glück! Sie tö­tet es oder ver­jagt es, er­nied­rigt es oder ka­striert es.

Die­se Be­trach­tun­gen ent­spran­gen Ra­phaels In­ne­rem mit der Ge­schwin­dig­keit ei­ner poe­ti­schen Ein­ge­bung; er blick­te um­her und fühl­te die un­heim­li­che Käl­te, wel­che die Ge­sell­schaft um sich ver­brei­te­te, um das Elend zu ent­fer­nen, und die noch ei­si­ger durch die See­le fährt als der Nord­wind im De­zem­ber durch die Glie­der. Er kreuz­te die Arme über der Brust, lehn­te sich an die Wand und ver­sank in tie­fe Schwer­mut. Er dach­te, wie we­nig Glück die­se gräß­li­che so­zia­le Ord­nung der Welt ver­schaff­te. Was denn schon? Ver­gnü­gen ohne Freu­de, Lus­tig­keit ohne Lust, Fes­te ohne Hei­ter­keit, Ra­se­rei ohne Rausch, kurz, das Holz oder die Asche ei­nes Her­des, aber ohne den Fun­ken, der die Flam­me ent­zün­de­te. Als er den Kopf hob, sah er, daß er al­lein war, die Spie­ler wa­ren ent­flo­hen. »Ich brauch­te ih­nen nur mei­ne Macht zu ent­hül­len, und sie wür­den mei­nen Hus­ten an­be­ten!« sag­te er bei sich. Mit die­sen Wor­ten warf er sei­ne Ver­ach­tung wie einen Man­tel zwi­schen sich und die Welt.

Am nächs­ten Tag be­such­te ihn der Ba­de­arzt mit be­sorg­tem Ge­sicht und er­kun­dig­te sich nach sei­nem Be­fin­den. Ra­pha­el ver­spür­te eine Re­gung der Freu­de, als er die teil­nahms­vol­len Wor­te hör­te, die an ihn ge­rich­tet wa­ren. Er fand die Mie­nen des Arz­tes sanft und gü­tig, aus den Lo­cken sei­ner blon­den Perücke weh­te Men­schen­freund­lich­keit, der Schnitt sei­nes ka­rier­ten Rockes, die Fal­ten sei­ner Hose, sei­ne brei­ten Quä­kers­tie­fel, al­les, so­gar der Pu­der, der aus sei­nem klei­nen Zopf kreis­för­mig auf den leicht­ge­beug­ten Rücken ge­fal­len war, sprach von ei­nem apo­sto­li­schen Cha­rak­ter, drück­te die christ­li­che Nächs­ten­lie­be und die Hin­ga­be ei­nes Man­nes aus, der sich aus Ei­fer für sei­ne Pa­ti­en­ten an­ge­wöhnt hat­te, so gut Whist und36 Trick­track37 zu spie­len, daß er ih­nen im­mer ihr Geld ab­nahm.

»Mon­sieur le Mar­quis«, sag­te er, nach­dem er lan­ge mit Ra­pha­el ge­plau­dert hat­te, »ich hof­fe, Ihre düs­te­re Stim­mung ver­scheu­chen zu kön­nen. Ich ken­ne jetzt Ihre Kon­sti­tu­ti­on gut ge­nug, um sa­gen zu dür­fen: die Ärz­te von Pa­ris, de­ren großes Kön­nen mir be­kannt ist, ha­ben sich in der Na­tur Ih­rer Krank­heit ge­täuscht. Wenn nichts da­zwi­schen­kommt, Mon­sieur le Mar­quis, kön­nen Sie so alt wer­den wie Methu­sa­lem. Ihre Lun­gen sind so kräf­tig wie die Bla­se­bäl­ge in ei­ner Schmie­de, und Ihr Ma­gen könn­te es mit ei­nem Strau­ßen­ma­gen auf­neh­men; aber wenn Sie in ei­nem Kli­ma mit dün­ner Luft blei­ben, lau­fen Sie Ge­fahr, schnell und si­cher in ge­weih­te Erde zu kom­men. Mon­sieur le Mar­quis wer­den mich in zwei Wo­chen ver­ste­hen. Die Che­mie hat be­wie­sen, daß die At­mung des Men­schen ein rich­ti­ger Ver­bren­nungs­pro­zeß ist, des­sen grö­ße­re oder ge­rin­ge­re Stär­ke von über­mä­ßig oder spär­lich vor­han­de­nen Brenn­stof­fen ab­hängt, wel­che in dem be­son­de­ren Or­ga­nis­mus je­des In­di­vi­du­ums an­ge­sam­melt wer­den. Bei Ih­nen ist Brenn­stoff im Über­fluß da; Sie sind, wenn ich mich so aus­drücken darf, in­fol­ge des feu­ri­gen Na­tu­rells der zu großen Lei­den­schaf­ten fä­hi­gen Men­schen über­reich mit Sau­er­stoff ver­se­hen. Wenn Sie die star­ke und rei­ne Luft at­men, die bei den Men­schen mit schlaf­fen Fi­bern das Le­ben be­schleu­nigt, dann be­schleu­ni­gen Sie den Ver­bren­nungs­pro­zeß, der oh­ne­hin schon zu rasch ist. Zu Ihren Exis­tenz­be­din­gun­gen ge­hört also die di­cke Luft der Stäl­le und Tä­ler. Ja­wohl, die Le­bens­luft für einen vom Ge­nie ver­zehr­ten Mann fin­det man auf den fet­ten Wei­den Deutsch­lands, in Ba­den-Ba­den oder Te­p­litz. Wenn Ih­nen Eng­land nicht zu un­an­ge­nehm ist, so könn­te sein Ne­bel­kli­ma Ihre Sie­deglut lö­schen; aber un­ser Bad, das tau­send Fuß über dem Spie­gel des Mit­tel­meers liegt, ist un­heil­voll für Sie. Das ist mei­ne An­sicht«, schloß er mit ei­ner be­schei­de­nen Hand­be­we­gung, »ich ver­tre­te sie ge­gen un­se­re In­ter­es­sen; denn wenn Sie die­se be­fol­gen, ha­ben wir das Un­glück, Sie zu ver­lie­ren.«

Ohne die­se letz­ten Wor­te wäre Ra­pha­el durch die falsche Gut­mü­tig­keit des ho­nig­sü­ßen Arz­tes ge­täuscht wor­den; aber er war ein zu gu­ter Beo­b­ach­ter, um nicht aus dem Ton, der Hand­be­we­gung, dem Blick und dem lei­sen Spott, mit de­nen die­ser Satz ge­spro­chen wur­de, die Mis­si­on zu er­ra­ten, die dem klei­nen Mann ohne Fra­ge von der Ge­sell­schaft sei­ner ver­gnüg­ten Pa­ti­en­ten auf­ge­bür­det wor­den war. Die­se Mü­ßig­gän­ger mit dem blü­hen­den Aus­se­hen, die­se ge­lang­weil­ten al­ten Wei­ber, die­se va­ga­bun­die­ren­den Eng­län­der, die­se Bür­ger­weib­chen, die ih­ren Ehe­män­nern ent­wischt und von ih­rem Ge­lieb­ten ins Bad ent­führt wor­den wa­ren, un­ter­nah­men es also, einen ar­men, schwa­chen, hin­fäl­li­gen Kran­ken, der dem Tode ge­weiht war und un­fä­hig schi­en, sich ge­gen täg­li­che Ver­fol­gung zu weh­ren, aus dem Bad zu ver­trei­ben! Ra­pha­el nahm den Kampf auf. Die­se Int­ri­ge mach­te ihm Ver­gnü­gen.

»Da Sie über mei­ne Abrei­se so un­glück­lich wä­ren«, ant­wor­te­te er dem Arzt, »will ich ver­su­chen, mir Ihren gu­ten Rat zu­nut­ze zu ma­chen und doch hier­zu­blei­ben. Ich wer­de mir ein Haus bau­en las­sen, in dem wir die Luft Ih­rer Ver­ord­nung ent­spre­chend mo­di­fi­zie­ren, und wer­de gleich mor­gen dar­an­ge­hen.«

Der Dok­tor ver­stand das Lä­cheln bit­te­ren Spot­tes, das um Ra­phaels Lip­pen schweb­te, und emp­fahl sich, ohne ein Wort der Er­wi­de­rung zu fin­den.

Der See von Bour­get ist ein wei­tes, zer­klüf­te­tes Ge­birgs­be­cken, 700-800 Fuß über dem Mit­tel­meer, ein Was­ser­trop­fen von ei­nem so leuch­ten­den Blau wie kein zwei­ter in der Welt. Sieht man von der Höhe des Dent-du-Chat auf den See hin­un­ter, so liegt er wie ein ver­lo­re­ner Tür­kis da. Die­ser rei­zen­de Was­ser­trop­fen hat neun Mei­len Um­fang und ist an man­chen Stel­len bei­na­he 500 Fuß tief. Wenn man un­ter ei­nem strah­len­den Him­mel in ei­nem Boot auf die­ser Was­ser­flä­che da­hin­fährt, nichts hört als das Klat­schen der Ru­der, am Ho­ri­zont nichts sieht als um­wölk­te Ber­ge, wenn man sich des glit­zern­den Schnees der fran­zö­si­schen Mau­ri­enne38 er­freut, bald an Gra­nit­blö­cken vor­über­glei­tet, die Farn­kraut oder Zwerg­ge­sträuch in ein grü­nes Samt­kleid hüllt, bald an la­chen­den Hän­gen, auf der einen Sei­te Öde, auf der an­de­ren üp­pi­ge Na­tur, ein Ar­mer beim Gast­mahl ei­nes Rei­chen, bil­den die­se Har­mo­ni­en und Dis­so­nan­zen ein Schau­spiel, in dem al­les groß, in dem al­les klein ist. Der An­blick der Ber­ge än­dert die Be­din­gun­gen der Op­tik und Per­spek­ti­ve: eine Tan­ne, die 100 Fuß hoch ist, sieht wie ein Schilf­rohr aus, wei­te Tä­ler eng wie schma­le Pfa­de. Die­ser See ist der ein­zi­ge, auf dem man trau­lich von Herz zu Herz spre­chen kann. Hier kann man sin­nen und lie­ben. Nir­gends trifft man ein schö­ne­res Ein­ver­neh­men zwi­schen Was­ser, Him­mel, Ber­gen und Erde. Auf ihm fin­det man Bal­sam für je­den Kum­mer des Le­bens. Die­ser Ort be­wahrt das Ge­heim­nis des Lei­des, er trös­tet und ver­rin­gert es, der Lie­be ver­leiht er et­was Erns­tes, An­däch­ti­ges, das die Glut tiefer und rei­ner macht. Ein Kuß stei­gert sich dort zur Se­lig­keit. Aber vor al­lem ist er der See der Erin­ne­run­gen; er ist ih­nen hold, gibt ih­nen die Far­be sei­ner Wel­len, ist ih­nen ein Spie­gel, in dem al­les er­scheint. Ra­pha­el er­trug sei­ne Bür­de nur in die­ser schö­nen Land­schaft. Hier konn­te er un­be­küm­mert, träu­me­risch und wunsch­los sein. Nach dem Be­such des Arz­tes ging er spa­zie­ren und ließ sich nach der ein­sa­men Spit­ze ei­nes hüb­schen Hü­gels über­set­zen, auf des­sen Höhe das Dorf Saint-In­no­cent liegt. Von die­ser Art Vor­ge­bir­ge aus um­fängt der Blick die Ber­ge von Bu­gey, an de­ren Fuß die Rhô­ne fließt, und das Ende des Sees; von hier aus be­trach­te­te Ra­pha­el gern die me­lan­cho­lisch an­mu­ten­de Ab­tei Hau­te-Com­be auf dem ge­gen­über­lie­gen­den Ufer, die Be­gräb­nis­stät­te der Kö­ni­ge von Sar­di­ni­en, die zu Fü­ßen der Ber­ge ruh­ten wie Pil­ger, die am Ziel ih­rer Rei­se an­ge­langt sind. Ein gleich­mä­ßi­ger, rhyth­mi­scher Ru­der­schlag stör­te den Frie­den der Land­schaft und lieh ihr eine mo­no­to­ne Stim­me, die an die Li­ta­nei­en der Mön­che er­in­ner­te. Der Mar­quis war er­staunt, in die­sem Teil des Sees, der für ge­wöhn­lich ein­sam war, Ge­sell­schaft an­zu­tref­fen, und wand­te, ohne sein Träu­men auf­zu­ge­ben, sei­ne Auf­merk­sam­keit den Per­so­nen zu, die in dem Boot sa­ßen. Er er­kann­te auf der hin­te­ren Bank die alte Dame, die ihn am Abend zu­vor so hart an­ge­las­sen hat­te. Als der Kahn an Ra­pha­el vor­über­fuhr, wur­de er nur von der Ge­sell­schaf­te­rin die­ser Dame ge­grüßt, ei­ner ar­men Ad­li­gen, die er zum ers­ten­mal zu se­hen glaub­te. Nach ein paar Au­gen­bli­cken schon hat­te er die Ge­sell­schaft ver­ges­sen, die schnell hin­ter dem Vor­ge­bir­ge ver­schwun­den war, als er in sei­ner Nähe das Ra­scheln ei­nes Klei­des und leich­te Trit­te hör­te. Er wand­te sich um und er­blick­te die Ge­sell­schaf­te­rin; an ih­rer ver­le­ge­nen Mie­ne merk­te er, daß sie ihn spre­chen woll­te, und nä­her­te sich ihr. Sie war sechs­und­drei­ßig Jah­re alt, groß und dürr, ver­trock­net und kühl, und wie alle al­ten Jung­fern recht be­klom­men von sei­nem Blick, der mit ei­nem un­si­che­ren, zö­gern­den Gang ohne Elas­ti­zi­tät nicht mehr über­ein­stim­men woll­te. We­der alt noch jung, gab sie durch eine ge­wis­se wür­de­vol­le Hal­tung zu er­ken­nen, welch ho­hen Wert sie auf ihre Tu­gen­den und Ei­gen­schaf­ten leg­te. Sie hat­te üb­ri­gens die stil­len und klös­ter­li­chen Be­we­gun­gen der Frau­en, die nur mit sich selbst zärt­lich um­zu­ge­hen pfle­gen, ge­wiß um der Lie­be, die ihre Be­stim­mung ist, nicht zu er­lie­gen.

»Mon­sieur le Mar­quis, Ihr Le­ben ist in Ge­fahr, kom­men Sie nicht mehr ins Kur­haus!« sag­te sie zu Ra­pha­el und wich da­bei ein paar Schrit­te zu­rück, als wäre ihre Tu­gend schon in Ge­fahr.

»Aber bit­te, Ma­de­moi­sel­le«, er­wi­der­te Va­len­tin lä­chelnd, »wol­len Sie sich nicht deut­li­cher er­klä­ren, wenn Sie schon die Freund­lich­keit hat­ten, hier­her­zu­kom­men?«

»Oh!« gab sie zu­rück, »wäre es nicht eine so wich­ti­ge Sa­che, hät­te ich nie ge­wagt, die Un­gna­de von Ma­da­me la Com­tes­se auf mich zu len­ken, denn wenn sie je­mals er­füh­re, daß ich Sie ge­warnt habe …«

»Und wer soll­te es ihr sa­gen?« rief Ra­pha­el.

»Das ist wahr«, ver­setz­te das alte Fräu­lein und warf ihm einen scheu­en Blick zu, wie ein Käuz­chen, das der Son­ne aus­ge­setzt wird.

»Aber den­ken Sie an sich«, füg­te sie hin­zu; »meh­re­re jun­ge Leu­te, die Sie aus dem Bade ver­trei­ben wol­len, ha­ben ab­ge­spro­chen, Sie zu pro­vo­zie­ren und Sie zu zwin­gen, sich zu du­el­lie­ren.«

Aus der Fer­ne hör­te man die Stim­me der al­ten Dame.

»Ma­de­moi­sel­le«, sag­te der Mar­quis, »mei­nen Dank …«

Sei­ne Gön­ne­rin war be­reits ge­flüch­tet, als sie die Stim­me ih­rer Her­rin hör­te, die aber­mals aus den Fel­sen gell­te.

»Ar­mes Mäd­chen! Die Un­glück­li­chen ver­ste­hen und hel­fen ein­an­der im­mer«, dach­te Ra­pha­el, wäh­rend er sich un­ter einen Baum setz­te.

Der Schlüs­sel zu al­len Wis­sen­schaf­ten ist un­be­strit­ten das Fra­ge­zei­chen; wir ver­dan­ken die meis­ten großen Ent­de­ckun­gen dem Wie, und die Le­bens­weis­heit be­steht viel­leicht dar­in, sich bei je­der Ge­le­gen­heit zu fra­gen: Wa­rum. Aber das künst­li­che Vor­her­wis­sen zer­stört auch un­se­re Il­lu­sio­nen. So hat­te Va­len­tin, ohne lan­ge phi­lo­so­phi­sche Er­wä­gung, die gute Tat der al­ten Jung­fer zum Ge­gen­stand sei­ner un­s­te­ten Ge­dan­ken ge­macht und fand lau­ter Gal­le dar­in.

»Daß ich von ei­ner Ge­sell­schafts­da­me ge­liebt wer­de«, dach­te er sich, »ist kein Wun­der; ich bin sie­ben­und­zwan­zig Jah­re alt, bin Mar­quis und habe zwei­mal 100 000 Li­vres im Jahr! Aber daß ihre Her­rin, die den Kat­zen die Pal­me der Was­ser­scheu strei­tig macht, sie im Boot in mei­ne Nähe ge­führt hat, ist das nicht selt­sam, fast wun­der­bar? Die­se bei­den Frau­en­zim­mer, die nach Sa­voy­en ge­kom­men sind, um hier wie Mur­mel­tie­re zu schla­fen, die des Mit­tags fra­gen, ob schon Tag ist, soll­ten heu­te vor acht Uhr auf­ge­stan­den sein, um die­ses Wag­stück, mich auf­zu­spü­ren, zu un­ter­neh­men!«

Bald war die­se alte Jung­fer und ihre vier­zig­jäh­ri­ge Un­schuld in sei­nen Au­gen eine neue Ver­wand­lung die­ser künst­li­chen und tücki­schen Welt, eine elen­de List, ein täp­pi­sches Kom­plott, eine bos­haf­te Spitz­fin­dig­keit, die ein Pries­ter oder eine Frau er­son­nen hat­te. War das Duell ein Mär­chen, oder woll­te man ihm nur Angst ein­ja­gen? Die­se dürf­ti­gen See­len, die frech und auf­dring­lich wie Flie­gen wa­ren, durf­ten sich rüh­men, sei­ne Ei­tel­keit er­regt, sei­nen Stolz ge­weckt, sei­ne Neu­gier ge­kit­zelt zu ha­ben. Er woll­te we­der ihr Narr sein noch als Feig­ling gel­ten, und da ihn die­se Pos­se zu amü­sie­ren an­fing, ging er noch am näm­li­chen Abend ins Kur­haus. Er stütz­te sich auf den Mar­mor des Ka­mins und blieb ru­hig in der Mit­te des großen Sa­lons ste­hen, sorg­sam be­dacht, sich kei­ne Blö­ße zu ge­ben; aber er prüf­te die Mie­nen und bot viel­leicht ge­ra­de durch die­se Um­sicht der Ge­sell­schaft die Stirn. Wie eine Dog­ge, die ih­rer Kraft si­cher ist, war­te­te er den Kampf ru­hig ab, ohne un­nütz zu bel­len. Ge­gen Ende des Abends schlen­der­te er durch den Spiel­sa­lon bis zur Tür des Bil­lard­zim­mers, von wo aus er von Zeit zu Zeit einen Blick auf die jun­gen Leu­te warf, die dort eine Par­tie spiel­ten. Nach kur­z­er Zeit hör­te er sei­nen Na­men nen­nen. Ob­wohl sie lei­se spra­chen, er­riet Ra­pha­el doch so­fort, daß sich der Dis­put um ihn dreh­te, und schließ­lich hör­te er ei­ni­ge Sät­ze, die laut ge­spro­chen wur­den: »Du?« – »Ja, ich!« – »Ich trau dirs nicht zu!« »Wol­len wir wet­ten?« – »Oh! Es gilt!« Als Va­len­tin, der neu­gie­rig war zu hö­ren, worum sich die­se Wet­te dreh­te, ste­hen­blieb, um das Ge­spräch bes­ser zu hö­ren, trat ein großer, kräf­ti­ger jun­ger Mann von gut­mü­ti­gem Aus­se­hen, aber mit dem fes­ten, un­ver­schäm­ten Blick der Leu­te, die sich auf ir­gend­ei­ne ma­te­ri­el­le Macht stüt­zen, vom Bil­lard her auf ihn zu.

»Mon­sieur«, sag­te er ru­hi­gen To­nes zu Ra­pha­el, »ich habe es auf mich ge­nom­men, Ih­nen et­was bei­zu­brin­gen, was Sie nicht zu wis­sen schei­nen: Ihr Ge­sicht und Ihre Per­son miß­fal­len hier je­der­mann und mir im be­son­de­ren. Sie sind zu gut er­zo­gen, um sich nicht dem all­ge­mei­nen Wohl zu op­fern; ich er­su­che Sie da­her, sich nicht mehr im Kur­haus zu zei­gen.«

»Die­ser Scherz, Mon­sieur«, er­wi­der­te Ra­pha­el kalt, »mach­te schon zur Zeit des Kai­sers in meh­re­ren Gar­ni­so­n­en die Run­de. Heut­zu­ta­ge zeugt er von ei­nem äu­ßerst schlech­ten Be­neh­men.«

»Ich scher­ze nicht«, er­wi­der­te der jun­ge Mann; »ich wie­der­ho­le Ih­nen: wenn Sie hier­her­kom­men, lei­det Ihre Ge­sund­heit; die Hit­ze, die Lich­ter, die schlech­te Luft im Saal, die Ge­sell­schaft, all das muß bei Ihrem Lei­den schäd­lich sein.«

»Wo ha­ben Sie Me­di­zin stu­diert?«

»Ich habe den Bak­ka­lau­reus im Schie­ßen bei Le­pa­ge in Pa­ris ge­macht und den Dok­tor bei Gri­sier, dem Kö­nig des Flo­retts.«

»Der letz­te Grad fehlt Ih­nen noch, stu­die­ren Sie das Ge­setz­buch des gu­ten Tons, und Sie wer­den ein voll­kom­me­ner Edel­mann.«

Jetzt ver­lie­ßen die jun­gen Leu­te, teils la­chend, teils schwei­gend, das Bil­lard. Die an­de­ren Spie­ler wur­den auf­merk­sam und lie­ßen ihre Kar­ten im Stich, um Zeu­gen ei­nes Streits zu sein, der sie an­ge­nehm kit­zel­te. Ra­pha­el stand in­mit­ten die­ser Ver­samm­lung von Fein­den al­lein da; er gab sich Mühe, kal­tes Blut zu be­wah­ren und nicht die ge­rings­te Un­be­son­nen­heit zu be­ge­hen; aber als sein Geg­ner sich eine sar­kas­ti­sche Be­mer­kung er­laub­te, die in ei­ner äu­ßerst schnei­den­den und wit­zi­gen Form eine gro­be Be­lei­di­gung ver­barg, ant­wor­te­te er ihm ernst: »Mon­sieur, es ist heut­zu­ta­ge nicht mehr ge­stat­tet, je­man­dem eine Ohr­fei­ge zu ge­ben, aber ich fin­de kein Wort, um ein so er­bärm­li­ches Be­neh­men wie das Ihre zu brand­mar­ken.«

»Ge­nug! ge­nug! Sie kön­nen sich mor­gen er­klä­ren!« rie­fen ei­ni­ge jun­ge Leu­te und trenn­ten die Strei­ten­den.

Ra­pha­el galt als Be­lei­di­ger. Als er den Sa­lon ver­ließ, war ver­ein­bart, daß man sich in der Nähe des Schlos­ses Bor­deau, auf ei­ner klei­nen Berg­wie­se, tref­fen woll­te, die un­weit ei­ner neu­en Stra­ße ge­le­gen war, auf wel­cher der Sie­ger Lyon er­rei­chen konn­te. Es blieb Ra­pha­el nichts üb­rig, als ent­we­der das Bett zu hü­ten oder die Bä­der von Aix zu ver­las­sen. Die Ge­sell­schaft tri­um­phier­te. Am nächs­ten Mor­gen ge­gen acht Uhr traf Ra­phaels Geg­ner in Beglei­tung von zwei Zeu­gen und ei­nem Wund­arzt zu­erst an Ort und Stel­le ein.

»Der Platz ist gut; das Wet­ter ist fa­mos, um sich zu schla­gen!« rief er fröh­lich. Er blick­te auf das blaue Him­mels­ge­wöl­be, das Was­ser des Sees und die Fel­sen, ohne einen Hauch von Zwei­fel oder Be­sorg­nis. »Wenn ich ihn an der Schul­ter tref­fe«, fuhr er fort, »schi­cke ich ihn dann wohl für einen Mo­nat ins Bett, nicht wahr, Dok­tor?«

»Min­des­tens«, er­wi­der­te der Wund­arzt. »Aber las­sen Sie die klei­ne Wei­de da in Ruhe; sonst er­mü­den Sie Ihre Hand und ha­ben Ihren Schuß nicht in der Ge­walt. Sie könn­ten Ihren Geg­ner tö­ten, statt ihn zu ver­wun­den.«

Man hör­te das Ras­selns ei­nes Wa­gens.

»Da ist er!« sag­ten die Zeu­gen. Bald sah man auf der Stra­ße einen vier­spän­ni­gen Rei­se­wa­gen, der von zwei Po­stil­lio­nen ge­lenkt wur­de.

»Son­der­ba­re Art!« rief Va­len­tins Geg­ner. »Er will sich auf der Rei­se tö­ten las­sen.«

Bei ei­nem Duell wie beim Spiel ha­ben auch die ge­rings­ten Ne­ben­säch­lich­kei­ten auf die Phan­ta­sie der Teil­neh­mer, die am Er­folg ih­rer Sa­che stark in­ter­es­siert sind, großen Ein­fluß; der jun­ge Mann er­war­te­te da­her mit ei­ner ge­wis­sen Un­ge­duld die An­kunft die­ses Wa­gens, der auf der Stra­ße hielt. Zu­erst stieg der alte Jo­na­thas schwer­fäl­lig aus, um Ra­pha­el beim Aus­s­tei­gen zu hel­fen; er stütz­te ihn mit sei­nen schwa­chen Ar­men und ent­fal­te­te da­bei die pein­li­che Sorg­falt ei­nes Lie­ben­den für sei­ne Liebs­te. Die bei­den ver­lo­ren sich dann auf den Fuß­we­gen, die die Land­stra­ße von dem Kampf­platz trenn­ten, und ka­men erst lan­ge nach­her wie­der zum Vor­schein: sie gin­gen lang­sam. Die vier Zuschau­er die­ser selt­sa­men Sze­ne wa­ren tief­be­wegt, als sie Va­len­tin, auf den Arm sei­nes Die­ners ge­stützt, her­auf­kom­men sa­hen; bleich und er­schöpft kam er müh­sam nä­her, hielt den Kopf ge­senkt und sprach kein Wort. Man konn­te die bei­den für zwei Grei­se hal­ten, die in glei­chem Maße zer­rüt­tet wa­ren: der eine durch die Zeit, der an­de­re durch den Geist; dem einen stand sein Al­ter auf sei­ne wei­ßen Haa­re ge­schrie­ben, der jün­ge­re hat­te kein Al­ter mehr.

»Mon­sieur, ich habe nicht ge­schla­fen!« sag­te Ra­pha­el zu sei­nem Geg­ner.

Die­se ei­si­gen Wor­te und der fürch­ter­li­che Blick, der sie be­glei­te­te, lie­ßen den wirk­li­chen Her­aus­for­de­rer er­zit­tern; sein Un­recht wur­de ihm be­wußt, und er schäm­te sich ins­ge­heim sei­nes Be­neh­mens. Es lag in der Hal­tung, dem Klang der Stim­me und den Be­we­gun­gen Ra­phaels et­was Selt­sa­mes. Der Mar­quis schwieg eine Wei­le, und je­der folg­te sei­nem Schwei­gen. Un­ru­he und Span­nung hat­ten ih­ren Hö­he­punkt er­reicht.

»Es ist Zeit«, fuhr Ra­pha­el dann fort, »mir eine leich­te Sa­tis­fak­ti­on zu ge­ben; ge­wäh­ren Sie sie mir; sonst wer­den Sie ster­ben. Sie zäh­len in die­sem Au­gen­blick noch auf Ihre Ge­schick­lich­keit und schre­cken nicht vor ei­nem Kampf zu­rück, der Ih­nen je­den Vor­teil zu bie­ten scheint. Nun, Mon­sieur, ich bin groß­zü­gig, ich war­ne Sie vor mei­ner Über­le­gen­heit. Ich be­sit­ze eine schreck­li­che Macht. Um Ihre Ge­schick­lich­keit zu­nich­te zu ma­chen, Ihre Bli­cke zu ver­schlei­ern, Ihre Hand zum Zit­tern zu brin­gen und Ihr Herz ver­zagt zu ma­chen, ja selbst um Sie zu tö­ten, brau­che ich es nur zu wün­schen. Ich will nicht ge­nö­tigt sein, mei­ne Macht zu ge­brau­chen, es kos­tet mich zu­viel, sie aus­zuü­ben. Sie wer­den nicht der ein­zi­ge sein, der ster­ben muß. Wenn Sie es also ab­leh­nen, sich bei mir zu ent­schul­di­gen, wird Ihre Ku­gel trotz all Ih­rer Übung im Mor­den in die­sen Was­ser­fall flie­gen, mei­ne in­des­sen, ohne daß ich zie­le, mit­ten in Ihr Herz.«

Bei die­sen Wor­ten wur­de Ra­pha­el von Stim­men­ge­wirr un­ter­bro­chen. Der Mar­quis hat­te, wäh­rend er die­se Wor­te sprach, auf sei­nen Geg­ner be­stän­dig die un­er­träg­li­che Klar­heit sei­nes star­ren Blickes ge­rich­tet, er stand auf­ge­r­eckt mit un­durch­dring­li­chem Ge­sicht und sah aus wie ein zu al­lem ent­schlos­se­ner Wahn­sin­ni­ger.

»Bring ihn zum Schwei­gen«, hat­te der jun­ge Mann zu ei­nem sei­ner Se­kun­dan­ten ge­sagt, »sei­ne Stim­me geht mir durch Mark und Bein!«

»Hö­ren Sie auf, Mon­sieur. Ihre Re­den sind un­nütz!« rie­fen die Zeu­gen und der Wund­arzt Ra­pha­el zu.

»Mes­sieurs, ich er­fül­le eine Pf­licht. Hat der jun­ge Mann noch Ver­fü­gun­gen zu tref­fen?«

»Ge­nug! Ge­nug!«

Der Mar­quis blieb un­be­weg­lich ste­hen, ohne sei­nen Geg­ner einen Au­gen­blick aus den Au­gen zu las­sen, der, von ei­ner fast ma­gi­schen Ge­walt be­zwun­gen, da­stand wie ein Vo­gel vor ei­ner Schlan­ge: ge­zwun­gen, die­sen mör­de­ri­schen Blick zu er­tra­gen, er floh ihn und wand­te sich ihm doch im­mer wie­der zu.

»Gib mir Was­ser, ich habe Durst«, sag­te er zu sei­nem Zeu­gen.

»Hast du Angst?«

»Ja«, ant­wor­te­te er; »das Auge die­ses Men­schen ist bren­nend und macht mich ver­rückt.«

»Willst du dich bei ihm ent­schul­di­gen?«

»Es ist zu spät.«

Die bei­den Geg­ner wur­den ein­an­der auf 15 Schritt Ent­fer­nung ge­gen­über­ge­stellt. Sie hat­ten je­der ein Paar Pis­to­len bei sich, und nach dem ver­ein­bar­ten Ablauf die­ser Ze­re­mo­nie soll­ten sie, nach­dem die Zeu­gen das Zei­chen ge­ge­ben hat­ten, nach Be­lie­ben je­der zwei Schüs­se ab­feu­ern.

»Was machst du, Charles?« rief der jun­ge Mann, der Ra­phaels Geg­ner als Se­kun­dant diente, »du schiebst die Ku­gel ein und hast noch kein Pul­ver drin!«

»Es ist mein Tod!« gab er zu­rück; »ihr habt mich so ge­stellt, daß mich die Son­ne blen­det.«

»Sie ha­ben sie hin­ter sich«, sag­te Va­len­tin mit erns­ter, fei­er­li­cher Stim­me. Er lud lang­sam sei­ne Pis­to­le und ließ sich we­der durch das Zei­chen, das schon ge­ge­ben war, noch durch die Sorg­falt, mit der sein Geg­ner auf ihn ziel­te, be­ir­ren.

Die­se über­na­tür­li­che Si­cher­heit hat­te et­was Furch­ter­re­gen­des, das selbst die bei­den Po­stil­lio­ne, die aus grau­sa­mer Neu­gier her­bei­ge­kom­men wa­ren, ent­setz­te. Ob er nun mit sei­ner Macht spie­len oder sie er­pro­ben woll­te, Ra­pha­el sprach mit Jo­na­thas und sah ihn in dem Au­gen­blick an, wo sein Geg­ner feu­er­te. Die Ku­gel zer­riß einen Wei­den­zweig und klatsch­te ins Was­ser. Ra­pha­el schoß aufs Ge­ra­te­wohl los, traf sei­nen Geg­ner ins Herz und zog schnell, ohne den zu­sam­men­sin­ken­den jun­gen Mann wei­ter zu be­ach­ten, das Cha­grin­le­der her­vor, um zu se­hen, was ihn ein Men­schen­le­ben kos­te­te. Der Ta­lis­man war nur noch so groß wie ein klei­nes Ei­chen­blatt.

»Nun, was habt ihr da zu glot­zen, Po­stil­lio­ne? Auf den Wa­gen! Vor­wärts!« rief der Mar­quis.

Er lang­te noch am Abend in Frank­reich an, reis­te so­fort in die Au­ver­gne wei­ter und be­gab sich in die Bä­der des Mont-Dore. Auf die­ser Rei­se stieg aus sei­nem Her­zen eine je­ner plötz­li­chen Ein­ge­bun­gen, die, wie ein Son­nen­strahl durch di­cke Wol­ken auf ein dunkles Tal, un­er­war­tet in un­se­re See­le fal­len. Trau­ri­ges Licht, un­er­bitt­li­che Er­kennt­nis! Sie er­hellt, was ge­sche­hen ist, ent­hüllt uns un­se­re Feh­ler, und gna­den­los se­hen wir uns selbst. Er be­griff mit ei­nem Mal, daß der Be­sitz ei­ner Macht, moch­te sie noch so ge­wal­tig sein, nicht die Weis­heit ver­lieh, sich ih­rer zu be­die­nen. Das Zep­ter ist ein Spiel­zeug für ein Kind, eine Axt für Ri­che­lieu und für Na­po­le­on ein He­bel, um die Welt aus den An­geln zu he­ben. Die Macht läßt uns, wie wir sind, nur die Gro­ßen macht sie noch grö­ßer. Ra­pha­el hät­te al­les tun kön­nen und hat­te nichts ge­tan.

In den Bä­dern des Mont-Dore traf er wie­der die Ge­sell­schaft, die sich stets ei­lig vor ihm zu­rück­zog, wie die Tie­re einen tot da­lie­gen­den Art­ge­nos­sen flie­hen, so­bald sie ihn von wei­tem ge­wit­tert ha­ben. Die­ser Haß war ge­gen­sei­tig. Sein letz­tes Aben­teu­er hat­te ihn mit ei­ner tie­fen Ab­scheu vor der Ge­sell­schaft er­füllt. So war es denn sei­ne ers­te Sor­ge, eine von den Men­schen weit ab­ge­le­ge­ne Blei­be in der Nähe der Bä­der zu su­chen. Er fühl­te in­stink­tiv das Be­dürf­nis, sich der Na­tur zu nä­hern und sich den wah­ren Emp­fin­dun­gen und ei­nem gleich­sam ve­ge­ta­ti­ven Le­ben zu über­las­sen, wie wir es auf dem Land so gern tun. Am Tage nach sei­ner An­kunft er­stieg er, nicht ohne Mühe, den Pic de San­cy und such­te die hoch­ge­le­ge­nen Tä­ler auf, die luf­ti­gen Hö­hen, die un­be­kann­ten Seen, die länd­li­chen Hüt­ten auf die­sem Ge­birgs­zug, des­sen her­be und wil­de Schön­hei­ten die Pin­sel un­se­rer Künst­ler zu lo­cken be­gin­nen. Manch­mal fin­den sich da wun­der­ba­re Land­schaf­ten vol­ler An­mut und Fri­sche, die sich ma­le­risch von dem düs­te­ren An­blick der öden Ber­ge ab­he­ben. Etwa eine hal­be Mei­le von dem Dorf ent­fernt ent­deck­te Ra­pha­el eine Stel­le, wo die Na­tur, schel­misch und mut­wil­lig wie ein Kind, of­fen­bar Ver­gnü­gen dar­an ge­fun­den hat­te, Schät­ze zu ver­ber­gen; als er die­se zau­ber­haft schö­ne, un­be­rühr­te Ein­sam­keit er­blick­te, be­schloß er, hier zu le­ben. Hier muß­te das Le­ben ru­hig, ur­sprüng­lich und ge­deih­lich sein wie das ei­ner Pflan­ze.

Man stel­le sich einen um­ge­dreh­ten Ke­gel vor, aber einen Ke­gel aus Gra­nit, der, stark er­wei­tert, eine Art Be­cken bil­de­te, des­sen Rän­der durch bi­zar­re Une­ben­hei­ten zer­fetzt sind: hier fla­che, bläu­lich schim­mern­de Ta­feln ohne Ve­ge­ta­ti­on, auf de­nen die Son­nen­strah­len auf­glei­ßen wie auf ei­nem Spie­gel; dort zer­klüf­te­te, von Schluch­ten zer­ris­se­ne Fels­wän­de, von de­nen La­v­ablö­cke her­ab­hin­gen, de­ren Sturz die Re­gen­güs­se lang­sam vor­be­rei­te­ten, zu­wei­len krön­ten sie ein paar ver­krüp­pel­te, von den Win­den ge­peitsch­te Bäu­me; hie und da rag­te auf den düs­ter schat­ti­gen küh­len Fels­bän­ken ein Ge­hölz mit Kas­ta­ni­en­bäu­men em­por, hoch wie Ze­dern; gelb­li­che Grot­ten öff­ne­ten einen schwar­zen, tie­fen Sch­lund, den Brom­beer­sträu­cher und Blu­men um­rank­ten und eine grü­ne Zun­ge zier­te. Auf dem Grund die­ses Be­ckens, wahr­schein­lich der er­lo­sche­ne Kra­ter ei­nes Vul­kans, be­fand sich ein klei­ner See, des­sen kla­res Was­ser wie ein Dia­mant er­strahl­te. Um die­ses tie­fe, von Gra­nit, Wei­den, Schwert­li­li­en, Eschen und tau­sen­der­lei duf­ten­den, in vol­ler Blü­te pran­gen­den Pflan­zen ge­säum­te Be­cken dehn­te sich eine grü­ne Wie­se wie ein eng­li­scher Ra­sen; ihr zar­tes, schmieg­sa­mes Gras nahm das Was­ser auf, das aus den Fels­s­pal­ten si­cker­te, und wur­de von den pflanz­li­chen Über­res­ten ge­düngt, die die Stür­me von den ho­hen Gip­feln un­abläs­sig in die Tie­fe trie­ben. Un­re­gel­mä­ßig ge­zackt wie der Spit­zensaum ei­nes Frau­en­ge­wan­des moch­te der Wei­her etwa drei Mor­gen groß sein; je nach dem Platz, den die her­vor­tre­ten­den Fels­wän­de oder die Krüm­mun­gen der Was­ser­flä­che ihr lie­ßen, war die Wie­se einen oder zwei Mor­gen breit; an ei­ni­gen Stel­len al­ler­dings war kaum so viel Platz, daß die Kühe hin­durch­ge­lan­gen konn­ten. In ei­ner be­stimm­ten Höhe hör­te der Pflan­zen­wuchs auf. Der Gra­nit rag­te in den ab­son­der­lichs­ten For­men gen Him­mel und zeig­te die duns­ti­gen Töne, wel­che die ho­hen Ber­ge Wol­ken glei­chen las­sen. Dem lieb­li­chen An­blick des klei­nen Ta­les setz­ten die­se kah­len, nack­ten Fel­sen das wil­de, trost­lo­se Bild der Öde ent­ge­gen, des Schre­ckens der Berg­stür­ze und so phan­tas­ti­scher For­men, daß ei­ner die­ser Fel­sen »der Ka­pu­zi­ner« ge­nannt wird, so sehr äh­nelt er ei­nem Mönch. Je nach dem Stand der Son­ne oder den Lau­nen der At­mo­sphä­re leuch­te­ten die­se spit­zen Na­deln, die­se küh­nen Pfei­ler, die­se luf­ti­gen Höh­len zu­wei­len auf und schim­mer­ten gol­den, färb­ten sich pur­purn, tief rosa, oder nah­men trü­be oder graue Töne an. Die­se Hö­hen bo­ten stän­dig ein wech­seln­des Far­ben­spiel, wie das schil­lern­de Ge­fie­der auf dem Hals der Tau­ben. Oft drang zwi­schen zwei La­v­ablö­cke, die aus­sa­hen, als hät­te sie ein Beil aus­ein­an­der­ge­hau­en, in der Mor­gen­rö­te oder beim Son­nen­un­ter­gang ein fro­her Licht­strahl in die­ses la­chen­de Schmuck­körb­chen, wo er auf den Was­sern des Tei­ches spiel­te, ähn­lich dem gol­de­nen Strei­fen, der durch den Spalt ei­nes Fens­ter­la­dens in ein spa­ni­sches Zim­mer dringt, das man sorg­fäl­tig für die Sies­ta ge­schlos­sen hat. Wenn die Son­ne über dem al­ten Kra­ter stand, der von ir­gend­ei­ner vor­sint­flut­li­chen Re­vo­lu­ti­on her mit Was­ser ge­füllt war, er­wärm­ten sich die schrof­fen Fels­wän­de, der alte Vul­kan ent­brann­te, und sei­ne plötz­li­che Glut er­weck­te in die­sem un­be­kann­ten Fleck­chen Erde die Kei­me, ließ einen üp­pi­gen Pflan­zen­wuchs ge­dei­hen, färb­te die Blu­men und reif­te die Früch­te. Als Ra­pha­el dort­hin kam, er­blick­te er ei­ni­ge Kühe, die auf der Wie­se wei­de­ten; nach­dem er ein paar Schrit­te zum See ge­tan hat­te, ge­wahr­te er an der Stel­le, wo das Tal am brei­tes­ten war, ein be­schei­de­nes Haus, das aus Gra­nit er­baut und mit Schin­deln ge­deckt war. Das Dach die­ser Hüt­te füg­te sich in die Land­schaft ein: es war mit Moos, Efeu und Blu­men be­wach­sen, die auf ein ho­hes Al­ter schlie­ßen lie­ßen. Dün­ner Rauch, vor dem die Vö­gel kei­ne Scheu mehr hat­ten, stieg aus dem ver­fal­le­nen Schorn­stein. Vor der Tür stand zwi­schen zwei rie­si­gen Geiß­blatt­sträu­chern, die, mit ro­ten Blü­ten über­sät, einen wun­der­vol­len Duft aus­ström­ten, eine große Bank. Kaum sah man die Mau­ern un­ter den Ran­ken der Weinre­ben und den Ge­win­den der Ro­sen und des Jas­mins, die un­ge­hin­dert em­por­wu­cher­ten. Die Be­woh­ner küm­mer­ten sich nicht um die­sen länd­li­chen Schmuck und lie­ßen der Na­tur ihre jung­fräu­li­che und ele­men­ta­re An­mut. Auf ei­nem Jo­han­nis­beer­strauch wa­ren Win­deln zum Trock­nen auf­ge­hängt. Eine Kat­ze hock­te auf ei­nem Gerät zum Flachs­bre­chen, dar­un­ter stand in ei­nem Hau­fen Kar­tof­fel­scha­len ein frisch ge­scheu­er­ter gel­ber Koch­kes­sel. Auf der an­de­ren Sei­te des Hau­ses er­blick­te Ra­pha­el ein Ge­he­ge aus dür­ren Dorn­sträu­chern, das of­fen­bar die Hüh­ner da­von ab­hal­ten soll­te, die Obst­sträu­cher und Ge­mü­se­bee­te zu plün­dern.

Die Welt schi­en hier zu Ende. Die­se Kate glich je­nen Vo­gel­nes­tern, die sinn­reich in eine Fels­höh­lung ge­klebt sind, kunst­voll und nach­läs­sig zu­gleich. Hier war eine un­be­rühr­te und gute Na­tur, eine ech­te, aber poe­ti­sche Länd­lich­keit, die ge­ra­de dar­um poe­tisch war, weil sie tau­send Mei­len von un­se­ren ge­mal­ten Poe­si­en ent­fernt blüh­te und kei­ner Idee, son­dern – ein wah­rer Tri­umph des Zu­falls – nur sich selbst ent­sprang. Als Ra­pha­el dort an­lang­te, stand die Son­ne zu sei­ner Rech­ten und ließ die bun­ten Far­ben der Pflan­zen auf­leuch­ten, die gel­ben und grau­en Grün­de der Fel­sen, das ver­schie­de­ne Grün des Lau­bes, die ro­ten, blau­en und wei­ßen Blü­ten­mee­re, die Sch­ling­pflan­zen mit ih­ren Glo­cken, den schim­mern­den Samt der Moo­se, die pur­pur­nen Trau­ben des Hei­de­krauts, vor al­lem aber die kla­re Was­ser­flä­che, in der sich die Gra­nithäup­ter der Ber­ge, die Bäu­me, das Haus und der Him­mel ge­treu­lich spie­gel­ten, scharf her­vor­tre­ten oder schmück­te das al­les mit dem Zau­ber von Licht und Schat­ten. Auf die­sem ent­zücken­den Bild hat­te al­les sei­nen be­son­de­ren Glanz, von dem fun­keln­den Glim­mer bis zu den gel­ben Gras­bü­scheln, die in ei­nem sanf­ten Hell­dun­kel stan­den. Al­les bot einen har­mo­ni­schen An­blick: die ge­fleck­te Kuh mit dem blan­ken Fell, die hauch­zar­ten Was­ser­pflan­zen, die aus ei­ner Sen­ke wie Fran­sen über dem Was­ser hin­gen und von azur­blau oder sma­ragd­grün schil­lern­den In­sek­ten um­schwirrt wur­den, und die Baum­wur­zeln, die kraus ge­wun­de­nen san­di­gen Haar­schöp­fen gli­chen und ein un­för­mi­ges Stein­ge­sicht krön­ten. Der laue Duft des Was­sers, der Blu­men und der Grot­ten, der an die­sem stil­len Ort die Luft schwän­ger­te, er­reg­ten in Ra­pha­el ein fast wol­lüs­ti­ges Ge­fühl. Das ma­je­stä­ti­sche Schwei­gen, das in die­sem Hain herrsch­te, der viel­leicht so­gar auf den Lis­ten des Steuer­ein­neh­mers ver­ges­sen war, wur­de plötz­lich durch das Kläf­fen zwei­er Hun­de un­ter­bro­chen. Die Kühe wand­ten den Kopf nach dem Ein­gang des Ta­les, streck­ten Ra­pha­el ihre feuch­ten Mäu­ler ent­ge­gen, und nach­dem sie ihn stumpf­sin­nig an­ge­se­hen hat­ten, gras­ten sie wei­ter. Eine Zie­ge und ihr Zick­lein, die wie durch Zau­be­rei Halt an den Fel­sen fan­den, setz­ten in großen Sprün­gen den Hang her­ab und hiel­ten auf ei­ner Gra­nit­plat­te un­weit von Ra­pha­el inne, als ob sie ihn aus­fra­gen woll­ten. Das Bel­len der Hun­de lock­te ein dickes Kind vor das Haus, wo es mit of­fe­nem Mun­de ste­hen­blieb, dann er­schi­en ein weiß­haa­ri­ger, un­ter­setz­ter Greis. Die­se bei­den Ge­stal­ten stan­den mit der Land­schaft, der Luft, den Blu­men und dem Haus im Ein­klang. In die­ser üp­pi­gen Na­tur strotz­te al­les von Ge­sund­heit, Al­ter und Kind­heit wa­ren hier schön; kurz, alle Ge­schöp­fe, die dort leb­ten, strahl­ten ein ur­sprüng­li­ches Sich­ge­hen­las­sen, eine Ver­traut­heit mit dem Glück aus, die un­se­re phi­lo­so­phi­schen Ka­pu­zi­ner­pre­dig­ten Lü­gen straf­ten und das von sei­nen Lei­den und Lei­den­schaf­ten auf­ge­bläh­te Herz heil­te. Der Greis schi­en eins von den Mo­del­len, wie sie der männ­li­che Pin­sel von Schnetz39 liebt: ein wet­ter­ge­bräun­tes Ge­sicht, des­sen zahl­rei­che Fal­ten hart und ver­trock­net schie­nen, eine ge­ra­de Nase, her­vor­sprin­gen­de Wan­gen, die wie ein herbst­li­ches Wein­blatt rot ge­ädert wa­ren, ecki­ge Kon­tu­ren, alle An­zei­chen von Kraft, selbst da, wo die Kraft schon da­hin war. Sei­ne Hän­de wa­ren schwie­lig, ob­wohl sie nicht mehr ar­bei­te­ten, und noch im­mer mit fei­nem wei­ßen Haar be­deckt; sei­ne wahr­haft freie, männ­li­che Hal­tung ließ ah­nen, daß er in Ita­li­en aus Lie­be zu sei­ner kost­ba­ren Frei­heit viel­leicht zum Räu­ber ge­wor­den wäre. Das Kind, ein wah­res Kind der Ber­ge, hat­te schwar­ze Au­gen, die in die Son­ne se­hen konn­ten, ohne zu blin­zeln, dunkle Haut und einen wir­ren brau­nen Haar­schopf. Es war flink, ent­schie­den und na­tür­lich in sei­nen Be­we­gun­gen wie ein Vo­gel; durch die Lö­cher sei­ner arm­se­li­gen Klei­dung schim­mer­te eine wei­ße und fri­sche Haut. Alle bei­de blie­ben schwei­gend ne­ben­ein­an­der ste­hen; das glei­che Ge­fühl be­weg­te sie, und der Aus­druck ih­rer Züge zeug­te von der voll­kom­me­nen Über­ein­stim­mung in ih­rer bei­der glei­cher­ma­ßen mü­ßi­gem Le­ben. Der Greis hat­te sich die Spie­le des Kin­des zu ei­gen ge­macht und das Kind die Lau­nen des Al­ten an­ge­nom­men; eine Art Pakt zwi­schen zwei Schwa­chen, zwi­schen ei­ner Kraft, die dem Ende zu­ging, und ei­ner Kraft, die vor der Ent­fal­tung stand. Bald zeig­te sich eine etwa drei­ßig­jäh­ri­ge Frau auf der Schwel­le. Sie strick­te im Ge­hen. Es war eine ech­te Au­ver­gna­tin, von leb­haf­ter Ge­sichts­far­be, mit of­fe­ner, hei­te­rer Mie­ne und wei­ßen Zäh­nen; sie hat­te das Ge­sicht der Au­ver­gne, den Wuchs der Au­ver­gne, Hau­be und Tracht der Au­ver­gne, die vol­len Brüs­te der Au­ver­gne und die Mund­art der Au­ver­gne; ein voll­kom­me­nes Ideal­bild des Lan­des, sei­ner ar­beit­sa­men Sit­ten, sei­ner Un­wis­sen­heit, Spar­sam­keit und Herz­lich­keit; es fehl­te nichts.

Sie grüß­te Ra­pha­el, und es ent­spann sich ein Ge­spräch. Die Hun­de be­ru­hig­ten sich; der Greis setz­te sich auf eine Bank in die Son­ne, und das Kind wich sei­ner Mut­ter nicht von der Sei­te; es schwieg, aber hör­te auf­merk­sam zu und sah den Frem­den for­schend an.

»Ihr fürch­tet Euch hier nicht, gute Frau?«

»Und wes­halb soll­ten wir Furcht ha­ben, Mon­sieur? Wenn wir den Ein­gang ver­sper­ren, wer soll­te dann wohl her­ein­kön­nen? Oh, wir ha­ben kei­ne Furcht! Üb­ri­gens« – da­mit ließ sie den Mar­quis in das große Zim­mer des Hau­ses tre­ten – »was soll­ten die Die­be denn bei uns ho­len?«

Sie wies auf die rauch­ge­schwärz­ten Wän­de, an de­nen als ein­zi­ger Schmuck die blau, rot und grün ko­lo­rier­ten Sti­che hin­gen: »Der Tod des Kre­dits«, »Die Pas­si­on Jesu Chris­ti« und »Die Gre­na­die­re der kai­ser­li­chen Gar­de«. Wei­ter­hin gab es in dem Zim­mer ein al­tes Säu­len­bett aus Nuß­baum, einen Tisch mit gedrech­sel­ten Bei­nen, Holz­sche­mel, den Back­trog, eine Speck­sei­te, die von der De­cke bau­mel­te, einen Salz­topf, eine Pfan­ne und auf dem Ka­min ver­gilb­te, be­mal­te Gips­fi­gu­ren. Als er das Haus wie­der ver­ließ, sah Ra­pha­el auf den Fel­sen einen Mann, der eine Ha­cke in der Hand hielt, sich neu­gie­rig vor­beug­te und auf das Haus sah.

»Se­hen Sie Mon­sieur, da ist der Mann«, sag­te die Au­ver­gna­tin. Da­bei lä­chel­te sie, wie man es an Bäue­rin­nen oft sieht. »Er ar­bei­tet da oben.«

»Und der Alte ist Euer Va­ter?«

»Sie müs­sen schon ent­schul­di­gen, Mon­sieur, das ist der Groß­va­ter vom Mann. So wie Sie ihn da se­hen, ist er hun­dertzwei Jah­re alt. Nun, kürz­lich hat er un­se­ren klei­nen Kerl zu Fuß nach Cler­mont ge­führt! Er war ein­mal ein star­ker Mann; jetzt tut er nichts mehr als es­sen, trin­ken und schla­fen. Er macht sich im­mer mit dem klei­nen Kerl zu schaf­fen. Manch­mal führt der Klei­ne ihn auf den Berg; es geht im­mer noch.«

So­fort ent­schloß sich Va­len­tin, bei die­sem al­ten Mann und dem Kind zu le­ben, in ih­rer Luft zu at­men, von ih­rem Brot zu es­sen, von ih­rem Was­ser zu trin­ken, ih­ren Schlaf zu schla­fen, ihr Blut durch sei­ne Adern flie­ßen zu las­sen. Die Lau­ne ei­nes Ster­ben­den! Eine der Aus­tern die­ses Fel­sens zu wer­den, sei­ne Scha­le noch ei­ni­ge Tage län­ger zu ret­ten, in­dem er den Tod blind und taub mach­te, das wur­de für ihn das Leit­bild der in­di­vi­du­el­len Moral, die wahr­haf­te For­mel des mensch­li­chen Da­seins, das schö­ne Ide­al des Le­bens, das ein­zi­ge Le­ben, das wah­re Le­ben. Ein in­brüns­ti­ger Ego­is­mus be­mäch­tig­te sich sei­nes Her­zens, in dem das Uni­ver­sum ver­sank. In sei­nen Au­gen gab es kein Uni­ver­sum mehr, das Uni­ver­sum war in ihm. Für einen Kran­ken fängt die Welt am Kopf­kis­sen an und en­det am Fu­ßen­de des Bet­tes. Die­se Land­schaft wur­de Ra­phaels Bett.

Wer hat nicht schon ein­mal in sei­nem Le­ben den Lauf und das Ver­hal­ten ei­ner Amei­se eif­rig be­ob­ach­tet; in das ein­zi­ge Atem­loch ei­ner wei­ßen Schne­cke Stroh­hal­me ge­steckt; den lau­ni­schen Flug ei­ner schlan­ken Li­bel­le ver­folgt oder die tau­send Äder­chen be­wun­dert, die sich, bunt wie die Ro­set­te ei­ner go­ti­schen Ka­the­dra­le, auf den röt­li­chen Blät­tern ei­ner jun­gen Ei­che ab­zeich­nen? Wer hat nicht eine ge­rau­me Wei­le ent­zückt die Wir­kung der Son­ne und des Re­gens auf ein brau­nes Zie­gel­dach be­trach­tet oder die Tau­trop­fen, die Blü­ten­blät­ter, ihre man­nig­fal­tig ge­zack­ten Kel­che be­schaut? Wer war nicht schon in die­se sinn­li­chen, trä­gen und hin­ge­ge­be­nen Träu­me ver­sun­ken, die kein Ziel ha­ben und doch zu ei­nem Ge­dan­ken füh­ren? Wer schließ­lich hat nicht schon ein­mal das Le­ben des Kin­des, das fau­le Le­ben, das Le­ben des Wil­den ohne des­sen täg­li­che Ver­rich­tung ge­führt? So leb­te Ra­pha­el meh­re­re Tage lang, ohne Sor­gen, ohne Wün­sche. Er fühl­te sich merk­lich bes­ser, fühl­te ein au­ßer­ge­wöhn­li­ches Be­ha­gen, das sei­ne Un­ru­he be­sänf­tig­te, sei­ne Qua­len lin­der­te. Er stieg auf die Fel­sen und setz­te sich auf eine Berg­spit­ze, von der aus sein Auge bis in die wei­te Fer­ne schau­te. Da ver­brach­te er gan­ze Tage wie eine Pflan­ze in der Son­ne, wie ein Hase auf sei­nem La­ger. Oder er mach­te sich mit den Er­schei­nun­gen der Ve­ge­ta­ti­on, mit den Ver­än­de­run­gen des Him­mels ver­traut, er be­ob­ach­te­te auf­merk­sam die fort­schrei­ten­de Ent­wick­lung auf der Erde, im Was­ser oder in der Luft. Er ver­such­te sich mit dem in­ne­ren Le­ben die­ser Na­tur zu ver­bin­den und mit ih­rem dul­den­den Ge­hor­sam so völ­lig zu ver­schmel­zen, daß er dem un­um­schränk­ten, zwin­gen­den und er­hal­ten­den Ge­setz ver­fiel, das über den Ge­schöp­fen, die dem In­stinkt fol­gen, wal­tet. Er woll­te nicht län­ger die Last sei­ner selbst tra­gen. Gleich den Ver­bre­chern ver­gan­ge­ner Zei­ten, die, von der Jus­tiz ver­folgt, ge­ret­tet wa­ren, wenn sie sich in den Schat­ten ei­nes Al­tars ge­flüch­tet hat­ten, ver­such­te er sich in das Hei­lig­tum des Le­bens ein­zu­schlei­chen. Es ge­lang ihm, ein Teil die­ses wei­ten und mäch­ti­gen Rei­fe­pro­zes­ses der Na­tur zu wer­den: er hat­te alle Un­bil­den der Wit­te­rung er­fah­ren, in al­len Höh­len der Fel­sen ge­haust, die Ei­gen­ar­ten und Ge­wohn­hei­ten al­ler Pflan­zen ken­nen­ge­lernt, die Her­kunft und den Ver­lauf der Quel­len er­forscht und mit den Tie­ren Be­kannt­schaft ge­schlos­sen; kurz, er war mit die­ser be­leb­ten Erde so völ­lig eins ge­wor­den, daß er ge­wis­ser­ma­ßen ihre See­le er­faßt hat­te und in ihre Ge­heim­nis­se ein­ge­drun­gen war. Für ihn wa­ren die un­end­li­chen For­men in al­len Rei­chen der Na­tur die Ent­wick­lun­gen ein und der­sel­ben Sub­stanz, die Kom­bi­na­tio­nen ein und der­sel­ben Be­we­gung, der weit­rei­chen­de Atem ei­nes un­ge­heu­ren We­sens, das wirk­te, dach­te, vor­an­schritt, wuchs und mit dem er wach­sen, vor­an­schrei­ten, den­ken und wir­ken woll­te. Er hat­te sein Le­ben in ro­man­ti­scher Art mit dem Le­ben die­ses Fel­sens ver­eint, war mit ihm ver­wach­sen. Dank die­sem ge­heim­nis­vol­len Auf­fla­ckern, die­ser künst­li­chen Ge­ne­sung, die den wohl­tä­ti­gen Zu­stän­den des De­li­ri­ums zu ver­glei­chen war, mit de­nen die Na­tur dem Schmerz Pau­sen der Er­leich­te­rung be­wil­ligt, kos­te­te Va­len­tin in den ers­ten Ta­gen sei­nes Auf­ent­halts in die­ser la­chen­den Land­schaft die Won­nen ei­ner zwei­ten Kind­heit. Er leb­te so in den Tag hin­ein, er­grün­de­te Nich­tig­kei­ten, un­ter­nahm tau­send Din­ge, ohne eins zu vollen­den, ver­gaß heu­te, was er ges­tern vor­ge­habt hat­te, und war sorg­los, war glück­lich und glaub­te sich ge­ret­tet. Ei­nes Ta­ges war er zu­fäl­lig bis Mit­tag im Bett ge­blie­ben; er lag in eine der Träu­me­rei­en ver­sun­ken, die aus Schlaf und Wa­chen ge­mischt sind, die der Wirk­lich­keit den An­schein der Phan­ta­sie, den Trug­bil­dern die Ge­stalt der Wirk­lich­keit ver­lei­hen, als er plötz­lich, ohne daß er gleich wuß­te, ob er nicht wei­ter­träum­te, zum ers­ten­mal den Be­richt über sein Be­fin­den mit an­hör­te, den sei­ne Wir­tin Jo­na­thas mit­teil­te, der wie je­den Tag her­auf­ge­kom­men war, um sich da­nach zu er­kun­di­gen. Die Au­ver­gna­tin glaub­te wahr­schein­lich, Va­len­tin schla­fe noch, und hielt es nicht für nö­tig, ihre schal­len­de Stim­me zu dämp­fen.

»Es geht nicht bes­ser und nicht schlech­ter«, sag­te sie. »Er hat heu­te nacht wie­der ge­hus­tet, als ob er sei­ne See­le von sich ge­ben woll­te. Er hus­tet, er spuckt, der gute Mon­sieur, daß es ein Jam­mer ist. Wir fra­gen uns, ich und mein Mann, wo er die Kraft her­nimmt, so zu hus­ten. Es zer­reißt das Herz. Was für eine ver­damm­te Krank­heit hat er! Gar nicht, ganz und gar nicht gut geht es! Ich hab im­mer Angst, er liegt ei­nes Mor­gens starr und stumm in sei­nem Bett. Er ist wahr­haf­tig blaß wie ein wäch­ser­ner Je­sus! Oh je, ich sehe es, wenn er auf­steht, sein ar­mer Leib ist klap­per­dürr. Und er riecht schon nicht gut, nee, wahr­haf­tig nicht! Das ist ihm pie­pe, er läuft her­um und ver­braucht sei­ne Kräf­te, als ob er noch Ge­sund­heit zu ver­kau­fen hät­te. Da­bei be­hält er trotz­dem den Kopf oben und jam­mert nie­mals! Aber wahr­haf­tig, un­term Bo­den wär ihm woh­ler, er lei­det ja zum Stei­ner­bar­men! Ich möcht’s nicht ha­ben, un­ser In­ter­es­se wär’s nicht. Aber gäb er uns auch nicht, was er uns gibt, ich hätt ihn doch lieb: ’s ist nicht aus Be­rech­nung, wahr­haf­tig nicht! Ach, großer Gott, so ’ne ver­fluch­ten Krank­hei­ten krie­gen doch nur die Pa­ri­ser! Wo neh­men sie die nur her? Ar­mer jun­ger Mann! Es kann kein gu­tes Ende neh­men. Das Fie­ber, wis­sen Sie, das höhlt ihn aus, das schmeißt ihn um! Er hat kei­ne Ah­nung; er denkt gar nicht dran, Mon­sieur. Er merkt rein­weg nichts. Na, nu flen­nen Sie mal nicht, Mon­sieur Jo­na­thas! Das ist doch si­cher, wenn er nichts mehr aus­zu­ste­hen hat, ist er glück­lich. Spen­die­ren Sie doch eine An­dacht von neun Ta­gen für ihn! Ich habe schö­ne Hei­lun­gen da­durch ge­sehn, und ich tät sel­ber ’ne Ker­ze zah­len, um so ’nen sanf­ten Mon­sieur, so ’n fried­li­ches Schaf zu ret­ten.«

Ra­phaels Stim­me war zu schwach ge­wor­den, um ge­hört zu wer­den: er muß­te also die­ses fürch­ter­li­che Ge­schwätz über sich er­ge­hen las­sen. Dann aber riß ihn die Un­ge­duld aus dem Bett. Er stand plötz­lich an der Schwel­le und rief Jo­na­thas zu: »Al­ter Schur­ke, willst du un­be­dingt mein Hen­ker sein?« Die Bäue­rin glaub­te ein Ge­s­penst zu se­hen und ent­floh.

»Ich ver­bie­te dir«, fuhr Ra­pha­el fort, »über mei­ne Ge­sund­heit ir­gend be­sorgt zu sein.«

»Ja, Mon­sieur le Mar­quis«, er­wi­der­te der alte Die­ner und wisch­te sich die Trä­nen ab.

»Und du tä­test so­gar gut dar­an, von jetzt ab nicht ohne mei­nen aus­drück­li­chen Be­fehl hier­her­zu­kom­men.«

Jo­na­thas woll­te ge­hor­chen; aber be­vor er ging, warf er dem Mar­quis einen treu­en, mit­leid­vol­len Blick zu. Ra­pha­el las sein To­des­ur­teil dar­in. Mit ei­nem Schlag wur­de ihm sei­ne wah­re Lage be­wußt; ent­mu­tigt setz­te er sich auf die Schwel­le, kreuz­te die Arme über der Brust und ließ den Kopf hän­gen. Jo­na­thas nä­her­te sich er­schreckt sei­nem Herrn.

»Mon­sieur?«

»Geh! geh fort!« schrie der Kran­ke.

Am Mor­gen des nächs­ten Ta­ges war Ra­pha­el auf die Fel­sen ge­klet­tert und hat­te sich in eine mit Moos ge­pols­ter­te Sen­ke ge­setzt, von wo aus er den schma­len Weg se­hen konn­te, auf dem man vom Bade aus zu sei­ner Be­hau­sung ge­lang­te. Am Fuße des Fel­sens sah er Jo­na­thas, der schon wie­der mit der Au­ver­gna­tin sprach. Eine bos­haf­te Macht ließ ihn das Ach­sel­zu­cken, die ver­zwei­fel­ten Ge­bär­den, die er­schre­cken­de Ein­falt die­ser Frau ver­ste­hen und trug ihm durch den Wind und die Stil­le so­gar ihre un­se­li­gen Wor­te zu. Von Ent­set­zen er­faßt, floh er auf die höchs­ten Gip­fel der Ber­ge und blieb dort bis zum Abend, ohne die düs­te­ren Ge­dan­ken ver­trei­ben zu kön­nen, die ver­häng­nis­voll durch die grau­sa­me Teil­nah­me, de­ren Ge­gen­stand er ge­wor­den, in sei­nem Her­zen er­wacht wa­ren. Mit ei­nem Mal stand die Au­ver­gna­tin sel­ber vor ihm wie ein Schat­ten im abend­li­chen Däm­mer; mit der wun­der­li­chen Phan­ta­sie des Dich­ters woll­ten ihm die schwar­zen und wei­ßen Strei­fen ih­res Rockes wie die dür­ren Rip­pen ei­nes Ge­s­pens­tes an­mu­ten.

»Lie­ber Mon­sieur, jetzt kommt der Abend­tau. Wenn Sie hier oben blei­ben, geht es Ih­nen wie der fau­len Bir­ne, die in den Dreck fiel. Kom­men Sie mal nach Hau­se! Das ist nicht ge­sund, den Tau ein­zuat­men. Und da­bei ha­ben Sie seit dem Mor­gen noch nichts ge­ges­sen.«

»Zum Don­ner­wet­ter!« schrie er, »alte Hexe, laßt mich ge­fäl­ligst le­ben, wie ich Lust habe, oder ich gehe von hier fort! Es ist ge­ra­de ge­nug, daß Ihr mir je­den Mor­gen das Grab schau­felt, laßt mich we­nigs­tens abends zu­frie­den!«

»Ihr Grab, lie­ber Mon­sieur! Ich soll­te Ihr Grab schau­feln? I wo denn, wo ist denn Ihr Grab? Ich wollt, Sie wür­den so alt wie un­ser Va­ter! Wozu denn ins Grab? Wir kom­men früh ge­nug hin­ein.«

»Ge­nug!« un­ter­brach Ra­pha­el sie.

»Neh­men Sie mei­nen Arm, Mon­sieur …«

»Nein.«

Nichts er­trägt der Mensch so schwer wie das Mit­leid, be­son­ders wenn er es ver­dient. Der Haß ist ein Stär­kungs­mit­tel, er ruft zum Le­ben, zur Ra­che; aber das Mit­leid tö­tet, es schwächt noch un­se­re Schwä­che. Es ist das Übel, das sich nun schön­tue­risch gibt, es ist die Ver­ach­tung, die sich in Für­sor­ge klei­det, es ist die Für­sor­ge, die wir als Krän­kung emp­fin­den. Ra­pha­el fand in dem Hun­dert­jäh­ri­gen ein tri­um­phie­ren­des, in dem Kin­de ein neu­gie­ri­ges, in der Frau ein quäl­süch­ti­ges, in dem Mann ein ei­gen­nüt­zi­ges Mit­leid; aber in wel­cher Form es sich auch zeig­te, es trug im­mer den Tod in sich. Ein Dich­ter macht aus al­lem ein Ge­dicht, mag es nun, je nach den Bil­dern, die ihn be­we­gen, ein schreck­li­ches oder ein hei­te­res sein; sei­ne er­reg­te See­le ver­wirft die zar­ten Schat­tie­run­gen und wählt stets die grel­len und sat­ten Far­ben. Die­ses Mit­leid zeug­te in Ra­phaels Her­zen ein grau­en­er­re­gen­des Ge­dicht der Trau­er und Ver­düs­te­rung. Er hat­te, als er der Na­tur nahe zu sein wünsch­te, wahr­schein­lich nicht dar­an ge­dacht, wie un­ver­hoh­len sich na­tür­li­che Ge­füh­le zei­gen. Wenn er al­lein un­ter ei­nem Baum zu sein glaub­te und mit ei­nem furcht­ba­ren Hus­ten­an­fall rang, den er nie be­zwang, ohne aus die­sem gräß­li­chen Kampf völ­lig zer­schla­gen her­vor­zu­ge­hen, sah er die hel­len glän­zen­den Au­gen des klei­nen Jun­gen auf sich ge­rich­tet, der wie ein Wil­der im Gra­se auf Pos­ten lag und ihn mit je­ner kind­li­chen Neu­gier be­lau­er­te, in der eben­so­viel Spott wie Ver­gnü­gen und ein selt­sa­mes, ge­fühl­lo­ses In­ter­es­se lag. Stän­dig schi­en in den Au­gen der Bau­ern, bei de­nen Ra­pha­el leb­te, der schreck­li­che Gruß der Trap­pis­ten40 zu ste­hen: ›Bru­der, ge­den­ke des To­des‹. Er wuß­te nicht, was er mehr fürch­te­te, ihre ein­fäl­ti­gen Wor­te oder ihr Schwei­gen; al­les an ih­nen stör­te ihn. Ei­nes Mor­gens sah er zwei schwarz­ge­klei­de­te Män­ner, die um ihn her­um­schli­chen, ihn um­wit­ter­ten und ihn ver­stoh­len be­lau­er­ten; frei­lich ta­ten sie, als wä­ren sie nur als Spa­zier­gän­ger hier­her ge­kom­men, und stell­ten ihm gleich­gül­ti­ge Fra­gen, auf die er kurz an­ge­bun­den ant­wor­te­te. Er er­kann­te sie als den Arzt und den Geist­li­chen des Ba­de­orts, die ohne Zwei­fel von Jo­na­thas ge­schickt oder von sei­nen Wirts­leu­ten zu Rate ge­zo­gen oder gar vom Ge­ruch des na­hen To­des an­ge­lockt wor­den wa­ren. Nun sah er sein ei­ge­nes Lei­chen­be­gräb­nis vor­aus, hör­te den Ge­sang der Pries­ter, zähl­te die Ker­zen und sah die Schön­hei­ten die­ser rei­chen Na­tur, in de­ren Schoß er das Le­ben ge­fun­den zu ha­ben glaub­te, nur noch wie durch einen Trau­er­schlei­er hin­durch. Al­les, was ihm vor kur­z­em noch ein lan­ges Le­ben ver­kün­det hat­te, pro­phe­zei­te ihm jetzt ein na­hes Ende. Am nächs­ten Tag reis­te er nach Pa­ris ab, nach­dem er die Flut schwer­mü­ti­ger Wor­te und herz­lich be­dau­ern­der Wün­sche sei­ner Wirts­leu­te über sich er­ge­hen las­sen muß­te.

Er reis­te die gan­ze Nacht durch und er­wach­te in ei­nem der lieb­lichs­ten Tä­ler des Bour­bonnais,41 des­sen Land­schaf­ten wie die Ne­bel­bil­der ei­nes Traums an ihm vor­beiflo­gen. Die Na­tur brei­te­te sich mit grau­sa­mem Lieb­reiz vor sei­nen Au­gen aus. Bald ent­roll­te der Al­lier bis in wei­te Fer­nen sein strah­len­des Sil­ber­band; dann wie­der zeig­ten, be­schei­den in ei­ner gelb­schim­mern­den Fels­schlucht ver­steckt, Wei­ler die Spit­zen ih­rer Kirchtür­me; bald tauch­ten in ei­nem klei­nen Tal hin­ter ein­tö­ni­gen Wein­ber­gen plötz­lich Müh­len auf, und über­all er­schie­nen strah­len­de Sch­lös­ser, an Ab­hän­gen er­bau­te Dör­fer oder mit mäch­ti­gen Pap­peln ge­säum­te Land­stra­ßen; und end­lich leuch­te­te die Loi­re mit ih­rer wei­ten Was­ser­flä­che wie ein Dia­mant aus gol­de­nem Sand her­vor. Ver­füh­run­gen ohne Ende! Die Na­tur, rege und leb­haft wie ein Kind, quoll schier über von der feu­ri­gen Glut des Juni und zog die er­lo­sche­nen Bli­cke des Kran­ken un­ver­meid­lich auf sich. Er ließ die Vor­hän­ge im Wa­gen her­un­ter und schlief wie­der ein. Ge­gen Abend, als der Wa­gen Cos­ne hin­ter sich ge­las­sen hat­te, wur­de er von fröh­li­cher Mu­sik ge­weckt; er war mit­ten in ein länd­li­ches Fest hin­ein­ge­ra­ten. Die Post­sta­ti­on lag nahe dem Platz. Wäh­rend die Po­stil­lio­ne die Pfer­de wech­sel­ten, sah er den Tän­zen die­ses heitren Völk­chens zu, er sah hüb­sche, tän­deln­de Mäd­chen mit Blu­men ge­schmückt, aus­ge­las­se­ne jun­ge Män­ner und schließ­lich die run­den wein­geröte­ten Ge­sich­ter der an­ge­hei­ter­ten al­ten Bau­ern. Klei­ne Kin­der toll­ten über­mü­tig um­her, alte Frau­en plau­der­ten ver­gnügt; al­les war ein­träch­tig, und die Freu­de ver­schön­te so­gar die Klei­der und die Ti­sche, die man auf­ge­stellt hat­te. Der Platz und die Kir­che bo­ten ein Bild des Glücks; selbst die Dä­cher, die Fens­ter, die Tü­ren des Dor­fes schie­nen sich sonn­täg­lich her­aus­ge­putzt zu ha­ben. Gleich Ster­ben­den, de­nen das ge­rings­te Geräusch läs­tig ist, konn­te Ra­pha­el we­der einen Fluch noch den Wunsch un­ter­drücken, die Gei­gen möch­ten schwei­gen, all die­se freu­di­ge Be­we­gung sich auf­lö­sen, der Lärm ver­stum­men und die­ses un­ver­schäm­te Fest in alle Win­de stie­ben. Ver­dros­sen stieg er wie­der in den Wa­gen. Als er noch ein­mal nach dem Platz zu­rück­sah; ge­wahr­te er, wie alle Freu­de ver­scheucht, die Bäue­rin­nen auf der Flucht und die Bän­ke ver­las­sen wa­ren. Auf dem Gerüst des Or­che­s­ters saß nur noch ein blin­der Spiel­mann und ent­lock­te sei­ner Kla­ri­net­te ein schril­les Ron­do. Die­se Mu­sik ohne Tän­zer, die­ser ein­sa­me Greis mit dem brum­mi­gen Ge­sicht, in Lum­pen gehüllt, mir wir­rem Haar, im Schat­ten ei­ner Lin­de, das al­les war wie ein grau­si­ges Ab­bild des Wun­sches, den Ra­pha­el ge­äu­ßert hat­te. In Strö­men ging ei­ner je­ner Wol­ken­brü­che nie­der, der sich aus den Ge­wit­ter­wol­ken im Juni häu­fig eben­so plötz­lich er­gießt, wie er auf­hört. Das war et­was so Na­tür­li­ches, daß Ra­pha­el, der ein paar weiß­li­che Wol­ken am Him­mel sah, die ein leich­ter Wind da­von­trieb, gar nicht dar­an dach­te, sein Cha­grin­le­der an­zu­se­hen. Er leg­te sich in die Ecke sei­nes Wa­gens zu­rück, der bald auf der Stra­ße wei­ter­roll­te.

Am nächs­ten Tage war er wie­der zu Hau­se, in sei­nem Zim­mer, an sei­nem Ka­min. Er hat­te sich ein großes Feu­er ma­chen las­sen; es fror ihn. Jo­na­thas brach­te ihm Brie­fe. Sie wa­ren alle von Pau­li­ne. Er öff­ne­te den ers­ten ohne Eile und ent­fal­te­te ihn so gleich­gül­tig, als han­del­te es sich um den grau­en Bo­gen ei­ner Zah­lungs­auf­for­de­rung, die sein Steuer­ein­neh­mer ge­schickt hat­te. Er las den ers­ten Satz: »Ab­ge­reist! Aber das ist eine Flucht, liebs­ter Ra­pha­el. Wie! nie­mand kann mir sa­gen, wo Du bist? Und wenn ich es nicht weiß, wer soll es dann wis­sen?« Mehr dar­aus zu er­fah­ren, hat­te er kei­ne Lust; un­ge­rührt nahm er die Brie­fe und warf sie ins Feu­er. Mit stump­fem, un­be­tei­lig­ten Blick sah er dem Spiel der Flam­men zu, in de­nen das duf­ten­de Pa­pier sich krümm­te, zu­sam­men­schrumpf­te, sich dreh­te und zer­fiel.

Ei­ni­ge Pa­pier­fet­zen flo­gen auf die Asche und lie­ßen ihn An­fän­ge von Sät­zen, ein­zel­ne Wor­te, halb­ver­brann­te Ge­dan­ken er­ken­nen, und er ver­gnüg­te sich ganz un­be­wußt da­mit, sie in den Flam­men zu ent­zif­fern.

»An Dei­ner Tür ge­ses­sen … ge­war­tet … Lau­ne … ich ge­hor­che … Ne­ben­buh­le­rin­nen … ich nicht! … Dei­ne Pau­li­ne … liebt … kei­ne Pau­li­ne mehr? … Wenn Du mich hät­test ver­sto­ßen wol­len, hät­test Du mich nicht ver­las­sen … Ewi­ge Lie­be … Ster­ben …«

Die­se Wor­te er­reg­ten in ihm eine Art Reue; er griff nach der Zan­ge und ret­te­te den letz­ten Fet­zen ei­nes Brie­fes aus den Flam­men.

»… Ich habe ge­murrt«, schrieb Pau­li­ne, »aber ich habe mich nicht be­klagt, Ra­pha­el! Als Du mich von Dir ent­fernt hiel­test, woll­test Du mir ge­wiß die Last ei­nes Kum­mers er­spa­ren. Vi­el­leicht wirst Du mich ei­nes Ta­ges tö­ten, aber Du bist zu gut, um mich lei­den zu las­sen. Oh, rei­se nie wie­der so fort! Ich ver­mag den größ­ten Qua­len zu trot­zen, aber nur, wenn ich bei Dir bin. Der Kum­mer, den Du mir an­tun könn­test, wäre dann kein Kum­mer mehr; in mei­nem Her­zen lebt eine viel grö­ße­re Lie­be, als ich Dir sie zei­gen konn­te. Ich kann al­les er­tra­gen, nur nicht, fern von Dir zu wei­nen und nicht zu wis­sen, was Du …«

Ra­pha­el leg­te die­ses ge­schwärz­te Bruch­stück ei­nes Brie­fes auf den Ka­min; dann warf er es plötz­lich in das Feu­er zu­rück. Die­ses Stück Pa­pier war ein zu leb­haf­tes Bild sei­ner Lie­be und sei­nes un­se­li­gen Le­bens.

»Hole Mon­sieur Bian­chon!« be­fahl er Jo­na­thas.

Als Horace kam, fand er Ra­pha­el im Bett.

»Lie­ber Freund, kannst du mir einen leicht opi­um­hal­ti­gen Trank brau­en, der mich in ei­nem dau­ern­den Halb­schlaf hält, ohne daß der dau­ern­de Ge­brauch die­ses Ge­trän­kes mir scha­det?«

»Nichts leich­ter als das«, er­wi­der­te der jun­ge Arzt; »du müß­test je­doch schon ein paar Stun­den am Tag wach sein, um zu es­sen.«

»Ein paar Stun­den?« un­ter­brach Ra­pha­el; »nein, nein! Ich will höchs­tens eine Stun­de auf sein.«

»Was hast du denn vor?« frag­te Bian­chon.

»Schla­fen! Schla­fen heißt doch le­ben!« ant­wor­te­te der Kran­ke.

»Laß nie­man­den her­ein, wäre es auch Ma­de­moi­sel­le Pau­li­ne de Vit­schnau!« wies er Jo­na­thas an, wäh­rend der Arzt sein Re­zept schrieb.

»Ist noch eine Hoff­nung, Mon­sieur Horace?« frag­te der alte Die­ner den jun­gen Arzt, den er bis zur Freitrep­pe be­glei­tet hat­te.

»Es kann noch lan­ge dau­ern, aber auch heu­te abend schon zu Ende sein. Bei ihm sind die Aus­sich­ten für Le­ben und Tod gleich. Ich ver­ste­he den Fall nicht«, ver­setz­te der Arzt und mach­te eine zwei­feln­de Ge­bär­de. »Man muß ihn zer­streu­en.«

»Ihn zer­streu­en! Mon­sieur, Sie ken­nen ihn nicht. Er hat jüngst einen Men­schen er­schos­sen und hat nicht ein­mal Uff ge­sagt! Ihn zer­streut nichts.«

Ra­pha­el blieb ei­ni­ge Tage in das Nichts sei­nes künst­li­chen Schla­fes ver­senkt. Dank der Macht, die das Opi­um auf un­se­re See­le, das Ma­te­ri­el­le auf das Im­ma­te­ri­el­le, aus­übt, sank die­ser Mann von so ge­wal­ti­ger, tä­ti­ger Phan­ta­sie auf die Stu­fe je­ner trä­gen Tie­re, die in der Tie­fe der Wäl­der in ih­rem Bau aus Laub­werk hocken und kei­nen Schritt tun, um eine leich­te Beu­te zu fas­sen.

Er hat­te so­gar das Licht des Him­mels aus­ge­löscht; der Tag drang nicht mehr bis zu ihm her­ein. Ge­gen acht Uhr abends stand er auf; ohne sich sei­nes Da­seins klar be­wußt zu sein, be­frie­dig­te er sei­nen Hun­ger und leg­te sich dann so­fort wie­der hin. Die­se kal­ten, grei­sen­haf­ten Stun­den tru­gen ihm nur ver­schwom­me­ne Bil­der, Er­schei­nun­gen, Schat­ten auf schwar­zem Grund zu. Er hat­te sich in tie­fes Schwei­gen ver­gra­ben, in eine Ver­leug­nung der Be­we­gung und des Den­kens. Ei­nes Abends er­wach­te er viel spä­ter als sonst und fand sein Es­sen nicht ser­viert. Er läu­te­te Jo­na­thas.

»Du kannst ge­hen«, sag­te er zu ihm. »Ich habe dich reich ge­macht, du wirst auf dei­ne al­ten Tage glück­lich sein; aber ich will dich nicht län­ger mit mei­nem Le­ben spie­len las­sen. Wie, du Elen­der! Ich spü­re Hun­ger. Wo ist mein Es­sen? Ant­wor­te!«

Jo­na­thas lä­chel­te zu­frie­den, nahm eine Ker­ze, de­ren Flam­me in der tie­fen Dun­kel­heit der weit­läu­fi­gen Räu­me des Hau­ses spuk­haft fla­cker­te, und führ­te sei­nen Herrn, der wie­der zur blo­ßen Ma­schi­ne ge­wor­den war, über einen lan­gen Gang bis zu ei­ner Tür, die er plötz­lich öff­ne­te. Ra­pha­el wur­de von Licht über­flu­tet; er war ge­blen­det. Ein un­er­hör­tes Schau­spiel über­rasch­te ihn. Sei­ne Kron­leuch­ter steck­ten voll bren­nen­der Ker­zen, die sel­tens­ten Blu­men sei­nes Treib­hau­ses wa­ren har­mo­nisch an­ge­ord­net, eine Ta­fel glänz­te von Gold- und Sil­ber­ge­schirr, Perl­mutt und Por­zel­lan; ein kö­nig­li­ches Mahl dampf­te dar­auf, des­sen ver­lo­cken­de Ge­rich­te den Gau­men reiz­ten. Er sah sei­ne Freun­de ver­sam­melt und zwi­schen ih­nen ent­zücken­de Frau­en im schöns­ten Schmuck, mit tief­aus­ge­schnit­te­nen Klei­dern, nack­ten Schul­tern, Blu­men im Haar und fun­keln­den Au­gen; die ver­schie­den­ar­tigs­ten Schön­hei­ten, ver­lo­ckend in wol­lüs­ti­gen Ver­klei­dun­gen: die eine brach­te ihre rei­zen­den For­men durch ein iri­sches Jäck­chen zur Gel­tung, die an­de­re trug die sinn­ver­wir­ren­de Bas­qui­na, den Reif­rock der An­da­lu­sie­rin­nen; die­se er­schi­en halb­nackt als Dia­na, Göt­tin der Jagd, jene züch­tig und lieb­lich als Ma­de­moi­sel­le de La Val­liè­re,42 alle aber wa­ren in glei­cher Wei­se be­rau­schend. Aus den Au­gen al­ler Gäs­te blick­te Freu­de, Lie­be, Le­bens­lust. Als Ra­phaels To­ten­ant­litz sich in der Tür zeig­te, brach jä­her Bei­falls­sturm los, der so hell auf­bran­de­te wie die Strah­len die­ses im­pro­vi­sier­ten Fes­tes. Die Stim­men, der Duft, das Licht, die über­wäl­ti­gen­de Schön­heit die­ser Frau­en er­reg­ten sei­ne Sin­ne, er­weck­ten sein Ver­lan­gen. Eine köst­li­che Mu­sik aus ei­nem be­nach­bar­ten Sa­lon über­tön­te mit ei­ner Flut von Har­mo­ni­en die­sen be­rau­schen­den Tu­mult und mach­te die selt­sa­me Vi­si­on voll­stän­dig. Ra­pha­el fühl­te sei­ne Hand von ei­ner schmei­cheln­den Hand ge­drückt, von der Hand ei­ner Frau, de­ren fri­sche wei­ße Arme sich nun ho­ben, um ihn an sich zu zie­hen: Aqui­li­na stand vor ihm. Nun be­griff er, daß die­se Sze­ne­rie nicht schat­ten­haf­tes Gau­kel­werk war wie die flüch­ti­gen Bil­der sei­ner farb­lo­sen Träu­me; er stieß einen dump­fen Schrei aus, schloß has­tig die Tür und schlug sei­nen al­ten Die­ner ins Ge­sicht.

»Un­ge­heu­er!« tob­te er, »du hast also ge­schwo­ren, mich zu mor­den!« Dann fand er, ob­wohl er bei dem Ge­dan­ken an die Ge­fahr, der er aus­ge­setzt war, an al­len Glie­dern zit­ter­te, die Kraft, sein Zim­mer zu er­rei­chen, trank eine star­ke Do­sis sei­nes Schlaf­mit­tels und leg­te sich zu Bett.

»Aber zum Teu­fel!« stöhn­te Jo­na­thas, als er sich wie­der auf­rich­te­te, »Mon­sieur Bian­chon hat­te mir doch aus­drück­lich auf­ge­tra­gen, ich soll­te ihn zer­streu­en.«

Es war ge­gen Mit­ter­nacht. Um die­se Stun­de strahl­te Ra­pha­el – dank ei­ner der Lau­nen der Phy­sio­lo­gie, die das Stau­nen und die Verzweif­lung der me­di­zi­ni­schen Wis­sen­schaf­ten sind – in sei­nem Schlaf vor Schön­heit. Ein leb­haf­tes Rot färb­te sei­ne blei­chen Wan­gen. Auf sei­ner Stirn, die lieb­rei­zend war wie die ei­nes jun­gen Mäd­chens, lag das Sie­gel des Geis­tes. Das stil­le, ge­lös­te Ant­litz schi­en wie blü­hen­des Le­ben. Er glich ei­nem Kind, das un­ter der Ob­hut der Mut­ter ein­ge­schla­fen ist. Sein Schlaf war gut, aus sei­nem ro­ten Mund ström­te ein gleich­mä­ßi­ger rei­ner Atem, er lä­chel­te; ge­wiß hat­te ihn ein Traum in ein schö­nes Le­ben ver­setzt. Vi­el­leicht war er hun­dert Jah­re alt, viel­leicht wünsch­ten ihm sei­ne En­kel­kin­der ein lan­ges Le­ben; viel­leicht saß er auf sei­ner länd­li­chen Bank in der Son­ne un­ter dem Blät­ter­dach und schau­te wie der Pro­phet auf dem Ber­ges­gip­fel das Ge­lob­te Land in ver­hei­ßungs­vol­ler Fer­ne.

»Da bist du also!«

Die­se Wor­te, mit sil­ber­hel­ler Stim­me ge­spro­chen, ver­scheuch­ten die ver­schwom­me­nen Ge­stal­ten sei­nes Schla­fes. Beim Schim­mer der Lam­pe sah er Pau­li­ne auf sei­nem Bet­te sit­zen, aber eine Pau­li­ne, die durch die Tren­nung und durch den Schmerz noch schö­ner ge­wor­den war. Ra­pha­el war be­trof­fen beim An­blick die­ses Ge­sich­tes, das weiß war wie die Blu­men­blät­ter ei­ner See­ro­se und das, von den lan­gen schwar­zen Haa­ren um­flos­sen, im Dun­kel des Zim­mers noch blei­cher schi­en. Trä­nen hat­ten ihre glit­zern­de Spur über ihre Wan­gen ge­zo­gen und hin­gen dort, be­reit, bei der ge­rings­ten Be­we­gung her­ab­zu­trop­fen. Weiß ge­klei­det, den Kopf ge­neigt und das Bett kaum be­rüh­rend, saß sie da, und so schi­en sie ein En­gel zu sein, der vom Him­mel her­ab­ge­kom­men war, eine Er­schei­nung, die ein Hauch ver­we­hen konn­te.

»Ah, ich habe al­les ver­ges­sen!« rief sie in dem Au­gen­blick, wo Ra­pha­el die Au­gen auf­schlug. »Ich habe nur eine Stim­me, um dir zu sa­gen: Ich bin dein! Ja, mein Herz ist nur Lie­be. Ach, En­gel mei­nes Le­bens, nie­mals warst du so schön. Wie dei­ne Au­gen blit­zen! Ach geh, ich ahne al­les. Du hast dei­ne Ge­sund­heit ge­sucht, ohne mich, du hast mich ge­fürch­tet … Nun …«

»Flieh! Flieh! Laß mich al­lein!« sprach Ra­pha­el end­lich mit dump­fer Stim­me. »So geh doch! Wenn du bleibst, st­er­be ich. Willst du mich ster­ben se­hen?«

»Ster­ben!« wie­der­hol­te sie. »Kannst du ohne mich ster­ben? Ster­ben, wo du so jung bist? Ster­ben, wo ich dich lie­be? Ster­ben!« wie­der­hol­te sie im­mer wie­der mit tiefer Stim­me und griff wie ra­send nach sei­nen Hän­den.

»Kalt!« sag­te sie. »Träu­me ich?«

Ra­pha­el zog das Stück­chen des Cha­grin­le­ders un­ter dem Kopf­kis­sen her­vor, das jetzt dünn und klein war wie das Blätt­chen des Im­mer­grün, und zeig­te es ihr. »Pau­li­ne, schö­nes Bild mei­nes schö­nen Le­bens, sa­gen wir uns Le­be­wohl!«

»Le­be­wohl?« wie­der­hol­te sie in tie­fem Stau­nen.

»Ja. Das ist ein Ta­lis­man, der mei­ne Wün­sche er­füllt und mein Le­ben vor­stellt. Sieh, was mir noch bleibt. Wenn du mich noch län­ger an­siehst, st­er­be ich …«

Das jun­ge Mäd­chen glaub­te, Va­len­tin sei wahn­sin­nig ge­wor­den, sie nahm den Ta­lis­man und hol­te die Lam­pe. In dem schwan­ken­den Lich­te, das Ra­pha­el und den Ta­lis­man in glei­cher Wei­se aus dem Dun­kel her­aus­hob, sah sie ge­spannt auf das Ge­sicht ih­res Ge­lieb­ten und auf das letz­te Stück­chen des ma­gi­schen Le­ders. Als er Pau­li­ne so sah, wie Angst und Lie­be sie ver­schön­te, war er nicht mehr Herr sei­ner Ge­dan­ken: die Erin­ne­rung an die zärt­li­chen Stun­den und die be­rau­schen­den Won­nen sei­ner Lei­den­schaft quoll über­mäch­tig in sei­ner seit lan­gem schla­fen­den See­le em­por und lo­der­te auf, gleich ei­nem un­zu­rei­chend ge­lösch­ten Brand.

»Pau­li­ne, komm! Pau­li­ne!«

Ein furcht­ba­rer Schrei ent­rang sich dem jun­gen Mäd­chen; ihre Au­gen wei­te­ten sich, ihre Au­gen­brau­en, in un­er­hör­tem Schmerz hef­tig zu­sam­men­ge­zo­gen, teil­ten sich vor Grau­en, sie las in Ra­phaels Au­gen ein ra­sen­des Be­geh­ren, wie es einst­mals ihr Stolz ge­we­sen war; aber je grö­ßer die­ses Ver­lan­gen wur­de, um so mehr schrumpf­te das Stück­chen Le­der kit­zelnd in ih­rer Hand. Au­ßer sich, stürz­te sie in das Ne­ben­zim­mer und schloß die Tür hin­ter sich.

»Pau­li­ne! Pau­li­ne!« rief der Ster­ben­de und eil­te ihr nach, »ich lie­be dich, ich bete dich an, ich be­geh­re dich! Ich ver­flu­che dich, wenn du nicht öff­nest. Laß mich bei dir ster­ben!«

Mit ei­ner son­der­ba­ren Kraft, dem letz­ten Aus­bruch des Le­bens, stieß er die Tür auf und sah, wie sich sei­ne Ge­lieb­te halb­nackt auf dem Sofa wand. Pau­li­ne hat­te ver­ge­bens ver­sucht, sich die Brust zu zer­flei­schen; und um sich einen schnel­len Tod zu ge­ben, woll­te sie sich mit ih­rem Schal er­dros­seln. »Wenn ich st­er­be, wird er le­ben!« rief sie und ver­such­te um­sonst die Sch­lin­ge, die sie ge­macht hat­te, fest­zu­zie­hen. Ihre Haa­re wa­ren ge­löst, ihre Schul­tern ent­blö­ßt, ihre Klei­der in Un­ord­nung, und in die­sem Rin­gen um den Tod, die Au­gen trä­nen­über­strömt, das Ant­litz flam­mend, in die­ser fürch­ter­li­chen Verzweif­lung ent­hüll­te sie dem lie­bes­trun­ke­nen Ra­pha­el tau­send Schön­hei­ten, die sei­nen ra­sen­den Tau­mel noch stei­ger­ten. Be­hend wie ein Raub­vo­gel stürz­te er sich auf sie, zer­riß den Schal und woll­te sie um­fan­gen.

Der Ster­ben­de such­te nach Wor­ten, um das Ver­lan­gen aus­zu­drücken, das all sei­ne Kräf­te ver­zehr­te; aber nur er­stick­tes Rö­cheln ent­rang sich sei­ner Brust, im­mer tiefer bohr­te sich je­der Atem­zug in sei­nen Kör­per und schi­en schließ­lich aus den Ein­ge­wei­den auf­zu­stei­gen. Als er zu­letzt fast kei­nen Ton mehr her­vor­brach­te, grub er sei­ne Zäh­ne in Pau­li­nes Bu­sen. Ent­setzt von den Schrei­en, die er ver­nahm, kam Jo­na­thas her­bei­ge­eilt und ver­such­te dem jun­gen Mäd­chen den Leich­nam zu ent­rei­ßen, auf dem sie in ei­nem Win­kel des Ge­machs kau­er­te.

»Was wol­len Sie?« sag­te sie; »er ge­hört mir, ich habe ihn ge­tö­tet. Hat­te ich es nicht vor­her­ge­sagt?«

Rol­lin, Charles (1661-1741): fran­zö­si­scher Al­ter­tums­for­scher und Schrift­stel­ler, Rek­tor der Pa­ri­ser Uni­ver­si­tät <<<

ca­rus alum­nus: lat., teu­rer Zög­ling <<<

bei den Ita­li­e­nern: Ge­meint ist das ›Théâtre-Ita­li­en‹, das, 1804 neu­ge­grün­det, ita­lie­ni­sche Opern mit ita­lie­ni­schen Sän­gern auf­führ­te und in den letz­ten Jah­ren der Re­stau­ra­ti­on sei­ne Glanz­zeit hat­te <<<

Nar­gi­leh: ori­en­ta­li­sche Was­ser­pfei­fe. Der Rauch wird in ei­nem Schlauch durch einen Was­ser­be­häl­ter ge­lei­tet und ge­kühlt <<<

5 … vom stra­te­gi­schen Feh­ler sei­ner Fein­de er­fährt: 1815 rück­ten die preu­ßi­schen Trup­pen un­ter Mar­schall Blü­cher, den eng­li­schen Ver­bün­de­ten um zwei Ta­ges­mär­sche vor­aus, auf Pa­ris zu <<<

O­ri­ge­nes (um 185 - um 254): grie­chi­scher Theo­lo­ge, Be­grün­der der christ­li­chen Gno­s­tik und Bi­be­laus­le­gung <<<

Man­fred, Chil­de Ha­rold: Ge­stal­ten aus dem Vers­dra­ma ›Man­fre­d‹ (1817) von Lord By­ron (1788-1824) <<<

ex­egi mo­nu­men­tum: lat., Ich habe ein Denk­mal er­rich­tet (Horaz, Car­men III, 30) <<<

R­onsard, Pier­re de (1524-1585): fran­zö­si­scher Ly­ri­ker, Haupt der Pléia­de, der be­deu­tends­ten Dicht­er­schu­le der fran­zö­si­schen Re­naissance <<<

10 Mas­sil­lon, Jean-Bap­tis­te (1663-1742): fran­zö­si­scher Kan­zel­red­ner <<<

11 Ra­ci­ne, Jean-Bap­tis­te (1639-1699): fran­zö­si­scher klas­si­scher Dra­ma­ti­ker <<<

12 Théâtre Fa­vart: die 1781-1783 ent­stan­de­ne Opéra Co­mi­que, die 1838 durch einen Brand ver­nich­tet wur­de <<<

13 ›Se­mi­ra­mis‹: 1823 urauf­ge­führ­te Oper von Ros­si­ni <<<

14 Lau­da­num: Opi­um­tink­tur <<<

15 … die je­sui­ti­schen Weglas­sun­gen der Äb­tis­sin: An­spie­lung auf eine Epi­so­de aus Ster­nes Ro­man ›Tristram Shan­dy‹, in der die Äb­tis­sin die Tod­sün­de zu mil­dern sucht, in­dem sie die Flü­che nur zur Hälf­te aus­spricht. <<<

16 We­stall, Richard (1765-1836): eng­li­scher Zeich­ner und Aqua­rel­list, Il­lus­tra­tor der Wer­ke von Sha­ke­s­pea­re und Mil­ton <<<

17 Me­ne­te­kel: Mene Te­kel Uphar­sin; die im Buch Da­niel von Geis­ter­hand an die Wand ge­schrie­be­nen Flam­men­wor­te, die dem Kö­nig Bel­sa­zar sei­nen na­hen Sturz ver­kün­de­ten <<<

18 Sal­pêtrière, Ho­spi­ce de la: 1656 ge­grün­de­tes ehe­ma­li­ges Pa­ri­ser Ar­men­haus für alte Frau­en mit ei­ner Heil­stät­te für Geis­tes­kran­ke <<<

19 Buf­fon, Ge­or­ges-Louis Le­clerc, Com­te de (1707-1788): fran­zö­si­scher Na­tur­for­scher und Schrift­stel­ler <<<

20 Ga­luchat: mu­si­var­ti­ges Cha­grin aus der Haut des Hunds­hais oder Ro­chens, nach sei­nem Er­fin­der Gal­luchat ge­nannt <<<

21 der Va­ter des ge­wis­sen­haf­ten Dr. Nie­buhr: Kars­ten Nie­buhr (1733-1815) un­ter­nahm von 1761 bis 1767 im Auf­trag der dä­ni­schen Re­gie­rung eine For­schungs­rei­se in den Ori­ent. Sei­ne Rei­se­be­schrei­bun­gen gal­ten lan­ge Zeit als Grund­la­gen­werk. Das Haupt­werk sei­nes Soh­nes Bar­thold Ge­org Nie­buhr (1776-1831), Staats­mann und His­to­ri­ker, ist eine 1811 er­schie­ne­ne ›Rö­mi­sche Ge­schich­te‹ <<<

22 7000 Feld­mes­ser­schrit­te ent­spre­chen 11,340 km <<<

23 Pal­las, Pe­ter Si­mon (1741-1811): deut­scher Na­tur­for­scher; un­ter­nahm im Dienst der Kai­se­rin Ka­tha­ri­na II. Ex­pe­di­tio­nen in den öst­li­chen und süd­li­chen Teil des rus­si­schen Rei­ches. Sei­ne Wer­ke ent­hal­ten sei­ne um­fas­sen­den wis­sen­schaft­li­chen Beo­b­ach­tun­gen <<<

24 Dom Cal­met, Au­gus­tin (1672-1757): Loth­rin­gi­scher Ge­lehr­ter des Be­ne­dik­ti­ner­or­dens, Ver­fas­ser ei­nes Bi­bel­le­xi­kons, von Bi­bel­kom­men­ta­ren und kir­chen­his­to­ri­schen Wer­ken so­wie ei­ner Ge­schich­te Loth­rin­gens <<<

25 La­lan­de, Jo­seph-Jérô­me Le­françois de (1732-1807): fran­zö­si­scher Astro­nom. Sei­ne ›Biblio­gra­phie astro­no­mi­que‹ (1804) um­faßt das astro­no­mi­sche Wis­sen sei­ner Zeit <<<

26 Pas­cal, Blai­se (1623-1662): fran­zö­si­scher Schrift­stel­ler, Phi­lo­soph, Ma­the­ma­ti­ker und Phy­si­ker. Als Par­tei­gän­ger der Jan­se­nis­ten ver­öf­fent­lich­te er 1656/57 sei­ne be­rühm­te Streit­schrift ge­gen die Je­sui­ten <<<

27 Rue de la Santé: Stra­ße der Ge­sund­heit <<<

28 Or­ga­ni­zis­ten: Ver­tre­ter ei­ner me­di­zi­ni­schen Dok­trin, die jede Krank­heit auf ein ge­schä­dig­tes Or­gan zu­rück­führt <<<

29 Ca­ba­nis, Ge­or­ges (1757-1808): fran­zö­si­scher Arzt u. Phi­lo­soph <<<

30 Vi­ta­lis­ten: An­hän­ger des Vi­ta­lis­mus, ei­ner idea­lis­ti­schen phi­lo­so­phi­schen Leh­re, die da­von aus­geht, daß in den le­ben­den Or­ga­nis­men eine über­na­tür­li­che, nicht ma­te­ri­el­le ›Le­bens­kraft‹ wir­ke <<<

31 van Hel­mont, Jo­hann Bap­tist (1577-1644): nie­der­län­di­scher Arzt, Che­mi­ker und Phi­lo­soph, der die che­mi­schen Pro­zes­se im Or­ga­nis­mus als We­sent­lichs­tes be­trach­te­te <<<

32 Du­puy­tren, Guil­lau­me (1777-1835): fran­zö­si­scher Chir­urg <<<

33 Prin­zen von Ho­hen­lo­he: Alex­an­der Leo­pold, Prinz von Ho­hen­lo­he-Wal­den­burg (1794-1849), wur­de be­kannt durch sei­ne ›Wun­der­ku­ren‹, die er im Glau­ben an die Macht sei­nes Ge­be­tes durch­führ­te <<<

34 Can­tal: höchs­ter Gip­fel in der Au­ver­gne <<<

35 Metho­de, die den Selbst­hei­lungs­pro­zeß der Na­tur be­ob­ach­tet und un­ter­stützt. <<<

36 Whist: aus Eng­land stam­men­des Kar­ten­spiel mit 52 Blät­tern und meist vier Spie­lern <<<

37 Trick­track: be­lieb­tes Brett­spiel zwi­schen zwei Per­so­nen, das mit zwei Wür­feln und je fünf­zehn wei­ßen und schwar­zen Stei­nen ge­spielt wur­de <<<

38 Mau­ri­enne: Al­pen­re­gi­on in Sa­voy­en <<<

39 Sch­net, Jean-Vic­tor (1787-1870): fran­zö­si­scher Ma­ler, 1840-1858 Di­rek­tor der fran­zö­si­schen Aka­de­mie in Rom. <<<

40 Trap­pis­ten: re­for­mier­te Zis­ter­zi­en­ser mit ei­nem stren­gen Schwei­ge­ge­lüb­de, von dem nur der täg­li­che Gruß ›me­men­to mo­ri‹ (Ge­den­ke des To­des) aus­ge­nom­men war. <<<

41 Bour­bonnais: Ge­biet im Nor­den des Mas­sif cen­tral <<<

42 La Val­lière, Loui­se de la Bau­me le Blanc, Du­ches­se de (1644-1710): Mätres­se Lud­wigs XIV. <<<

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke

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