Читать книгу Honoré de Balzac – Gesammelte Werke - Оноре де'Бальзак, Honoré de Balzac, Balzac - Страница 51

Оглавление

Ich habe schon im­mer ge­wünscht, eine ein­fa­che wah­re Ge­schich­te zu be­rich­ten, bei de­ren Er­zäh­lung ein jun­ger Mensch und sei­ne Ge­lieb­te von Schre­cken er­grif­fen wer­den und sich ei­ner an das Herz des an­dern flüch­ten wür­de, wie zwei Kin­der sich an­ein­an­der drän­gen, wenn sie am Wald­ran­de eine Schlan­ge vor sich se­hen. Auf die Ge­fahr hin, das In­ter­es­se an mei­ner Er­zäh­lung zu ver­rin­gern oder für af­fek­tiert zu gel­ten, be­gin­ne ich mit der Ver­kün­dung des En­des mei­ner Ge­schich­te. In die­sem bei­na­he all­täg­li­chen Dra­ma habe ich eine Rol­le ge­spielt; wenn es den Le­ser nicht fes­selt, so trifft die Schuld ent­we­der mich, oder der Feh­ler liegt dar­an, daß es sich in Wirk­lich­keit so er­eig­net hat. Die Hälf­te dich­te­ri­scher Be­ga­bung be­ruht ja dar­auf, daß man aus dem Wirk­li­chen das aus­wählt, was für die poe­ti­sche Dar­stel­lung ge­eig­net ist.

Im Jah­re 1819 be­gab ich mich von Pa­ris nach Mou­lins. Der Zu­stand mei­ner Bör­se nö­tig­te mich, das Ver­deck der Di­li­gence zu be­nut­zen. Man weiß, daß die Eng­län­der die Plät­ze die­ses luf­ti­gen Wagen­teils für die bes­ten hal­ten. Wäh­rend der ers­ten Mei­len des We­ges hat­te ich auch tau­send vor­treff­li­che Grün­de, die An­sicht un­se­rer Nach­barn für ge­recht­fer­tigt zu hal­ten.

Ein jun­ger Mann, der mir et­was wohl­ha­ben­der als ich zu sein schi­en, stieg auf und setz­te sich, da er Ge­fal­len an mir zu fin­den schi­en, ne­ben mich auf die Bank. Bald lie­ßen die an­schei­nen­de Gleich­alt­rig­keit, eine ge­wis­se Über­ein­stim­mung im Den­ken, in der ge­mein­sa­men Vor­lie­be für fri­sche Luft, für die Schön­hei­ten des Land­schafts­bil­des, die wir in uns ent­deck­ten, wäh­rend der schwe­re Wa­gen lang­sam wei­ter­fuhr, so­dann eine Art von un­er­klär­li­cher ma­gne­ti­scher An­zie­hungs­kraft zwi­schen uns jene mo­men­ta­ne In­ti­mi­tät le­ben­dig wer­den, der sich Rei­sen­de um so lie­ber hin­ge­ben, als die­ses vor­über­ge­hen­de Emp­fin­den schnell wie­der schwin­det und zu nichts für die Zu­kunft ver­pflich­tet. Wir hat­ten noch kei­ne drei­ßig Mei­len zu­rück­ge­legt, als wir von Wei­bern und von der Lie­be plau­der­ten. Und na­tür­lich war bei al­ler Vor­sicht im Aus­druck, wie sie bei sol­cher Ge­le­gen­heit ge­bo­ten er­scheint, von un­sern Ge­lieb­ten die Rede. Jung, wie wir bei­de wa­ren, hiel­ten wir erst bei der »Frau von ge­wis­sen Jah­ren«, das heißt bei der Frau zwi­schen fünf­und­drei­ßig und vier­zig. Oh, ein Dich­ter, der uns von Mon­tar­gis bis ich weiß nicht zu wel­cher Sta­ti­on zu­ge­hört hät­te, wür­de recht glü­hen­de Aus­drücke, ent­zücken­de Per­sön­lich­keits­schil­de­run­gen und sehr süße Be­kennt­nis­se ha­ben sam­meln kön­nen! Un­se­re scham­haf­te Zu­rück­hal­tung, un­se­re ver­schwei­gen­den Emp­fin­dungs­wor­te, un­se­re Bli­cke, die uns noch er­rö­ten lie­ßen, wa­ren von ei­ner Be­red­sam­keit, de­ren nai­ves Ent­zücken ich nicht zum zwei­ten­mal emp­fun­den habe. Man muß jung sein, wenn man die Ju­gend ver­ste­hen will. Da­her ver­stan­den wir uns auch wun­der­voll über alle we­sent­li­chen Grund­zü­ge der Lei­den­schaft. Wir hat­ten zu­vör­derst mit der Fest­stel­lung be­gon­nen, daß es nichts Tö­rich­te­res in der Welt gäbe als ein Ge­burts­da­tum; daß vie­le vier­zig­jäh­ri­ge Frau­en jün­ger sei­en als man­che zwan­zig­jäh­ri­ge, und daß zu­letzt die Frau­en tat­säch­lich das Al­ter hät­ten, das sie zu ha­ben schie­nen. Sol­che Grund­sät­ze lie­ßen kei­ne Be­schrän­kun­gen in der Lie­be zu, und wir schwam­men im bes­ten Glau­ben in ei­nem gren­zen­lo­sen Ozean. Und nach­dem wir so un­se­re Ge­lieb­ten als jun­ge, ent­zücken­de, hin­ge­ben­de Grä­fin­nen von feins­tem Ge­schmack, geist­reich und klug, ge­schil­dert hat­ten; nach­dem wir von ih­ren schö­nen Fü­ßen, von ih­rer sei­di­gen und so­gar süß duf­ten­den Haut ge­schwärmt hat­ten, ge­stan­den wir uns, er, daß ›Frau Sound­so‹ achtund­drei­ßig alt sei, und ich, daß ich eine Vier­zig­jäh­ri­ge an­be­te­te. Als wir so bei­de eine ge­wis­se un­be­stimm­te Angst los­ge­wor­den wa­ren, er­schöpf­ten wir uns in neu­en Ge­ständ­nis­sen, da wir uns ja als Mit­brü­der in der Lie­be an­sa­hen. Dann han­del­te es sich dar­um, wer von uns bei­den ein glü­hen­de­res Ge­fühl emp­fän­de. Der eine hat­te ein­mal einen Weg von zwei­hun­dert Mei­len ge­macht, um mit sei­ner Ge­lieb­ten eine Stun­de lang zu­sam­men­zu­sein. Der an­de­re hat­te ris­kiert, in ei­nem Park für einen Wolf ge­hal­ten und nie­der­ge­schos­sen zu wer­den, um sich zu ei­nem nächt­li­chen Ren­dez­vous ein­zu­fin­den. So beich­te­ten wir uns alle un­se­re Tor­hei­ten! Wenn es an­ge­nehm ist, sich an vor­über­ge­gan­ge­ne Ge­fah­ren zu er­in­nern, ist es nicht auch sehr süß, ent­schwun­de­ner Freu­den zu ge­den­ken? Ge­nießt man dann nicht zum zwei­ten­mal? Be­stan­de­ne Ge­fah­ren, große und klei­ne Se­lig­kei­ten, al­les ge­stan­den wir ein­an­der, selbst Scher­ze. Die Grä­fin mei­nes Freun­des hat­te eine Zi­gar­re ge­raucht, nur ihm zu Lie­be; die mei­ni­ge be­rei­te­te mir mei­ne Scho­ko­la­de selbst und ließ kei­nen Tag vor­über­ge­hen, ohne mir zu schrei­ben oder mich zu be­su­chen; die sei­ni­ge hat­te drei Tage in sei­ner Woh­nung zu­ge­bracht auf die Ge­fahr hin, sich ins Ver­der­ben zu stür­zen; und die mei­ni­ge hat­te noch Bes­se­res oder, wenn man will, noch Schlim­me­res ge­tan. Die Ehe­män­ner be­te­ten im üb­ri­gen un­se­re Grä­fin­nen an; sie wa­ren von dem Reiz, den alle lie­ben­den Frau­en aus­strö­men, ge­fes­selt; und vor­schrifts­wid­rig tö­richt, be­deu­te­ten sie für uns ge­ra­de so viel Ge­fahr, wie nö­tig war, um un­se­re Genüs­se noch zu stei­gern. Oh, wie schnell der Wind un­se­re Wor­te und un­ser fröh­li­ches La­chen da­von­trug!

Als wir in Pouil­ly an­lang­ten, prüf­te ich sehr ge­nau die Per­sön­lich­keit mei­nes neu­en Freun­des. Ich war schnell über­zeugt, daß er si­cher­lich sehr ernst­haft ge­liebt wür­de. Man stel­le sich einen jun­gen Mann von mitt­le­rem aber sehr wohl­pro­por­tio­nier­tem Wuch­se vor, mit ei­nem an­ge­neh­men aus­drucks­vol­len Ge­sicht. Er hat­te schwar­zes Haar und blaue Au­gen; sei­ne Lip­pen wa­ren leicht ge­rötet, sei­ne Zäh­ne weiß und wohl­ge­bil­det; eine reiz­vol­le Bläs­se hob sei­ne fei­nen Züge noch mehr her­vor, sei­ne Au­gen wa­ren von leich­ten dunklen Rin­gen um­zo­gen, als ob er eine Krank­heit über­stan­den hät­te. Nimmt man dazu, daß er wei­ße, schön mo­del­lier­te und wie bei ei­ner hüb­schen Frau ge­pfleg­te Hän­de be­saß, daß er sehr ge­bil­det er­schi­en und geist­voll war, so wird man zu­ge­ste­hen müs­sen, daß mein Rei­se­ge­nos­se dazu an­ge­tan war, ei­ner Grä­fin Ehre zu ma­chen. Mehr als ein jun­ges Mäd­chen hät­te ihn ge­wiß gern zum Man­ne ge­nom­men, denn er war Vi­com­te und be­saß eine Ren­te von zwölf- bis fünf­zehn­tau­send Fran­ken, un­ge­rech­net das, was er noch zu »er­war­ten« hat­te. Eine Mei­le hin­ter Pouil­ly stürz­te die Di­li­gence um. Mein un­glück­li­cher Ka­me­rad glaub­te sich in Si­cher­heit brin­gen zu kön­nen, wenn er auf ein frisch be­a­cker­tes Feld hin­über­sprang, an­statt wie ich sich an die Sitz­bank an­zu­klam­mern und das Um­fal­len mitz­u­ma­chen. Ich weiß nicht, ob er schlecht ab­sprang oder aus­glitt, aber der Wa­gen stürz­te auf ihn, und er wur­de zer­schmet­tert. Wir brach­ten ihn in das Haus ei­nes Bau­ern. Mit­ten zwi­schen dem Stöh­nen, das ihm sei­ne furcht­ba­ren Schmer­zen aus­preß­ten, konn­te er mir noch die Er­fül­lung ei­nes Ver­mächt­nis­ses ans Herz le­gen, dem der letz­te Wunsch ei­nes Ster­ben­den ein ge­hei­lig­tes Sie­gel auf­präg­te. Mit­ten in sei­nem To­des­kamp­fe wur­de das arme Kind in all der Un­schuld, die in sei­nem Al­ter so oft zu fin­den ist, von dem Ge­dan­ken an den Schre­cken ge­pei­nigt, der sei­ner Ge­lieb­ten ein­ge­jagt wer­den wür­de, wenn sie sei­nen Tod plötz­lich aus der Zei­tung er­füh­re. Er bat mich, zu ihr zu ge­hen und ihr selbst da­von Mit­tei­lung zu ma­chen. Dann ließ er mich einen Schlüs­sel su­chen, den er an ei­nem Ban­de auf der Brust trug. Ich fand ihn halb ins Fleisch ein­ge­bohrt. Der Ster­ben­de ließ kei­ne Kla­ge laut wer­den, als ich ihn so sanft wie nur mög­lich aus der Wun­de, die er ge­macht hat­te, her­aus­zog. Als er mir alle er­for­der­li­chen Auf­klä­run­gen ge­ge­ben hat­te, wie ich bei ihm in Cha­rité-sur-Loi­re die Lie­bes­brie­fe sei­ner Ge­lieb­ten an mich neh­men soll­te, und nach­dem er mich be­schwo­ren hat­te, sie ihr zu über­ge­ben, konn­te er mit­ten im Sat­ze nicht wei­ter spre­chen und gab mir nur mit ei­ner Ges­te zu ver­ste­hen, daß mir der ver­häng­nis­vol­le Schlüs­sel für die Er­fül­lung mei­ner Mis­si­on als Aus­weis bei sei­ner Mut­ter die­nen soll­te. Trau­rig dar­über, daß er mir kein ein­zi­ges Wort des Dan­kes mehr sa­gen konn­te, denn er zwei­fel­te nicht an mei­nem Ei­fer, sei­nen Wunsch zu er­fül­len, be­trach­te­te er mich einen Au­gen­blick mit fle­hen­den Bli­cken und nahm Ab­schied von mir mit ei­nem Zu­cken sei­ner Wim­pern; dann neig­te er sein Haupt und ver­schied. Sein Tod war das ein­zi­ge Un­glück, das das Um­wer­fen des Wa­gens ver­ur­sacht hat­te. Und dar­an hat­te er selbst ein we­nig schuld, wie der Kon­duk­teur sag­te.

In Cha­rité er­füll­te ich das münd­li­che Ver­mächt­nis des ar­men Rei­sen­den. Sei­ne Mut­ter war, ge­wis­ser­ma­ßen zu mei­nem Glück, ab­we­send. Trotz­dem muß­te ich eine alte Die­ne­rin in ih­rem Schmer­ze trös­ten, die bei­na­he um­ge­sun­ken wäre, als sie den Tod ih­res jun­gen Herrn er­fuhr; sie fiel halb­tot auf einen Stuhl, so­bald sie den noch blut­be­deck­ten Schlüs­sel er­blick­te; da ich mich aber mit ei­nem viel schlim­me­ren Schmerz be­schäf­ti­gen muß­te, dem ei­ner Frau, der das Schick­sal den Ge­gen­stand ih­rer letz­ten Lie­be ent­ris­sen hat­te, so ließ ich die alte Haus­häl­te­rin mit ih­ren Kla­gen al­lein und nahm die kost­ba­re Kor­re­spon­denz mit mir, die mein Ein­tags­freund sorg­fäl­tig ein­ge­schla­gen hat­te.

Das Schloß, das die Grä­fin be­wohn­te, lag acht Mei­len von Mou­lins ent­fernt, und um hin­zu­ge­lan­gen, muß­te man auch noch ei­ni­ge Mei­len nach dem Gute zu Fuß ma­chen. Es war also ziem­lich schwie­rig für mich, mei­nen Auf­trag aus­zu­füh­ren. Durch ein Zu­sam­men­tref­fen ver­schie­de­ner Um­stän­de, de­ren Auf­zäh­lung über­flüs­sig wäre, be­saß ich nicht ge­nug Geld, um Mou­lins zu er­rei­chen. Gleich­wohl be­schloß ich in mei­ner ju­gend­li­chen Be­geis­te­rung, den Weg zu Fuß zu ma­chen, und zwar ei­lig, um der Ver­brei­tung der bö­sen Nach­richt, die so schnell vor sich zu ge­hen pflegt, zu­vor­zu­kom­men. Ich er­kun­dig­te mich nach dem kür­zes­ten Wege und ging auf den Fuß­stei­gen des Bour­bonnais, in­dem ich so­zu­sa­gen einen To­ten mit mir schlepp­te. Je nä­her ich dem Schlos­se von Mont­per­san kam, um so schreck­li­cher er­schi­en mir die ei­gen­ar­ti­ge Pil­ger­fahrt, die ich un­ter­nom­men hat­te. Mei­ne Phan­ta­sie spie­gel­te mir Tau­sen­de von ro­man­ti­schen Bil­dern vor. Ich stell­te mir alle Si­tua­tio­nen vor, in de­nen ich Frau von Mont­per­san, oder um der ro­man­haf­ten Poe­sie zu ge­nü­gen, der so sehr ge­lieb­ten ›Ju­li­et­te‹ des jun­gen Rei­sen­den be­geg­nen könn­te. Ich dach­te mir geist­vol­le Ant­wor­ten auf Fra­gen aus, von de­nen ich an­nahm, daß sie mir ge­stellt wer­den könn­ten. An je­der Wal­de­se­cke, an je­dem Hohl­weg wie­der­hol­te sich die Sze­ne von So­fi­as und sei­ner La­ter­ne, der er den Schlacht­be­richt ab­stat­tet. Wie ich zu mei­ner Schan­de ge­ste­hen muß, dach­te ich zu­nächst nur an mein Auf­tre­ten, an mei­ne geist­rei­chen Wor­te, an die Ge­wandt­heit, die ich ent­wi­ckeln woll­te; erst als ich mich auf dem Gute selbst be­fand, traf mich eine Er­wä­gung wie ein Blitz­strahl, der einen Schlei­er grau­er Wol­ken durch­dringt und zer­reißt. Wel­che schreck­li­che Nach­richt soll­te ich ei­ner Frau brin­gen, die in die­sem Au­gen­blick ganz mit ih­rem jun­gen Freun­de be­schäf­tigt war, die von Stun­de zu Stun­de auf na­men­lo­se Freu­den hoff­te, nach­dem sie sich tau­send­fach Mühe ge­ge­ben hat­te, um ihn in un­ver­däch­ti­ger Wei­se bei sich emp­fan­gen zu kön­nen. Es war so­mit die Er­fül­lung ei­ner grau­sa­men Pf­licht, der Bot­schafts­über­brin­ger des To­ten zu sein. Und so be­schleu­nig­te ich mei­ne Schrit­te, wo­bei ich mich be­schmutz­te, wenn ich in dem Kot der Wege des Bour­bonnais ste­cken blieb. Ich er­reich­te nun bald eine große Kas­ta­ni­en­al­lee, an de­ren Ende die Mas­sen des Schlos­ses von Mont­per­san sich ge­gen den Him­mel wie dunkle Wol­ken mit hel­len phan­tas­ti­schen Rän­dern ab­zeich­ne­ten. Als ich an der Tür des Schlos­ses an­lang­te, fand ich sie voll­kom­men of­fen­ste­hend. Die­ser un­vor­her­ge­se­he­ne Um­stand stör­te mei­ne Plä­ne und Voraus­set­zun­gen. Nichts­de­sto­we­ni­ger trat ich mu­tig ein und sah bald ne­ben mir zwei Hun­de, die wie wah­re Dorf­kö­ter bell­ten. Auf die­sen Lärm hin kam ein dickes Dienst­mäd­chen her­bei­ge­lau­fen, und als ich ihr ge­sagt hat­te, daß ich die Frau Grä­fin spre­chen woll­te, zeig­te sie mit der Hand auf die Baum­grup­pen ei­nes eng­li­schen Parks, der sich um das Schloß her­um­zog, und ant­wor­te­te mir: »Die gnä­di­ge Frau ist dort …«

»Dan­ke«, sag­te ich iro­nisch. Ihr »dort« konn­te mich zwei Stun­den lang im Park um­her­ir­ren las­sen.

In­zwi­schen war ein hüb­sches klei­nes Mäd­chen mit lo­cki­gen Haa­ren, ei­nem rosa Gür­tel um das wei­ße Kleid und ei­nem plis­sier­ten Kra­gen da­zu­ge­kom­men und hör­te oder be­griff mei­ne Fra­ge und die Ant­wort. Als sie mich ge­se­hen hat­te, ver­schwand sie wie­der und rief in et­was schar­fem Ton: »Mama, da ist ein Herr, der dich spre­chen will!« Ich folg­te über die Win­dun­gen der Al­leen hin dem Auf und Ab ih­res wei­ßen Kra­gens, der, ähn­lich ei­nem Irr­licht, mir den Weg an­zeig­te, den das klei­ne Mäd­chen ein­schlug.

Ich will nichts ver­schwei­gen. Bei dem letz­ten Ge­büsch der großen Al­lee hat­te ich mei­nen Kra­gen hin­auf­ge­zo­gen, mei­nen schlech­ten Hut und mei­ne Bein­klei­der mit den Schö­ßen mei­nes Rockes, mei­nen Rock mit den Är­meln und die­se, einen mit dem an­dern ge­rei­nigt; dann hat­te ich den Rock sorg­fäl­tig zu­ge­knöpft, um den Stoff der Auf­schlä­ge, der im­mer et­was fri­scher als das üb­ri­ge aus­sieht, se­hen zu las­sen; end­lich ließ ich die Bein­klei­der über die Stie­fel her­ab, die ich sorg­sam im Gra­se ge­rei­nigt hat­te. Dank die­ser Gas­ko­gner-Toi­let­te hoff­te ich, nicht für einen Land­strei­cher der Un­ter­prä­fek­tur ge­hal­ten zu wer­den; aber wenn ich mich in die­se Stun­de mei­nes Ju­gend­le­bens heu­te zu­rück­ver­set­ze, so muß ich selbst dar­über la­chen.

Gera­de als ich mich so in Po­si­tur ge­setzt hat­te, be­merk­te ich plötz­lich hin­ter der Krüm­mung ei­nes grü­nen Ge­bü­sches in­mit­ten von tau­send, von ei­nem war­men Son­nen­strahl über­gos­se­nen Blu­men Ju­li­et­te und ih­ren Mann. Das hüb­sche klei­ne Mäd­chen hielt die Mut­ter an der Hand, und man konn­te leicht wahr­neh­men, daß die Grä­fin auf die merk­wür­di­gen Wor­te ih­res Kin­des hin ihre Schrit­te be­schleu­nigt hat­te. Er­staunt über den An­blick ei­nes Un­be­kann­ten, der sich ziem­lich lin­kisch vor ihr ver­beug­te, blieb sie ste­hen und zeig­te mir ein Ge­sicht, auf dem sich küh­le Höf­lich­keit mit ei­nem ent­zücken­den Schmol­len misch­te, das alle ihre ge­täusch­ten Hoff­nun­gen ver­riet. Ich such­te aber ver­geb­lich nach ei­ni­gen mei­ner schö­nen Re­dens­ar­ten, die ich mir so müh­sam aus­ge­klü­gelt hat­te. Wäh­rend die­ses Mo­ments, da wir bei­de zu spre­chen zö­ger­ten, war auch der Ehe­gat­te auf dem Schau­platz er­schie­nen. Tau­send Ge­dan­ken durch­kreuz­ten mein Hirn. Um mir et­was Hal­tung zu ge­ben, re­de­te ich ei­ni­ge nichts­sa­gen­de Wor­te, in­dem ich frag­te, ob die hier an­we­sen­den Per­so­nen auch wirk­lich der Herr Graf und die Frau Grä­fin von Mont­per­san sei­en. Die­ses Ge­schwätz ge­stat­te­te mir, die bei­den Ehe­gat­ten, de­ren Zu­rück­ge­zo­gen­heit so hef­tig ge­stört wer­den soll­te, mit ei­nem ein­zi­gen Blick zu be­ur­tei­len, und mit ei­ner für mein Al­ter sel­te­nen Scharf­sich­tig­keit über ih­ren Cha­rak­ter klar zu wer­den. Der Mann schi­en mir der Ty­pus des Lan­de­del­man­nes zu sein, wie er au­gen­blick­lich den schöns­ten Schmuck der Pro­vinz bil­det. Er trug gro­be Schu­he mit di­cken Soh­len; ich er­wäh­ne sie zu­erst, weil sie mir noch mehr ins Auge fie­len, als sein schwar­zer, ab­ge­tra­ge­ner Rock, sei­ne ab­ge­schab­te Hose, sei­ne schlecht ge­bun­de­ne Kra­wat­te und sein her­un­ter­ge­drück­ter Hemd­kra­gen. Es steck­te in die­sem Man­ne et­was von ei­nem Rich­ter, viel mehr von ei­nem Prä­fek­tur­rat, die gan­ze Wich­tig­keit ei­nes kan­to­na­len Bür­ger­meis­ters, dem nie­mand Wi­der­stand zu leis­ten ver­mag, und die Ver­stim­mung ei­nes wähl­ba­ren Kan­di­da­ten, der seit dem Jah­re 1816 re­gel­mä­ßig durch­ge­fal­len war; er wies eine un­wahr­schein­li­che Mi­schung von bäu­ri­schem prak­ti­schem Ver­stan­de und von Dumm­heit auf; kei­ne Ma­nie­ren, aber den Dün­kel der Rei­chen; star­ke Un­ter­tä­nig­keit sei­ner Frau ge­gen­über, sonst aber sich für den ge­bie­ten­den Her­ren hal­tend, der in den un­er­heb­lichs­ten Din­gen Wi­der­stand leis­tet, sich aber um die wich­ti­gen An­ge­le­gen­hei­ten nicht küm­mert; im üb­ri­gen ein ver­leb­tes, sehr runz­li­ges, ver­trock­ne­tes Ge­sicht mit ei­ni­gen we­ni­gen grau­en, lan­gen, flach an­lie­gen­den Haa­ren, so war die Er­schei­nung die­ses Man­nes. Aber die Grä­fin! Oh, wel­chen star­ken und auf­fal­len­den Ge­gen­satz bil­de­te sie zu ih­rem Man­ne! Sie war eine klei­ne Frau von schlan­ker, gra­zi­öser Fi­gur, rei­zend, zier­lich und so zart, daß man fürch­ten muß­te, sie beim Berüh­ren zu zer­bre­chen; sie trug ein wei­ßes Mus­se­lin­kleid und auf dem Kop­fe ein hüb­sches Häub­chen mit rosa Bän­dern, einen rosa Gür­tel und einen Um­hang, der ihre Schul­tern und ihre schö­ne Büs­te so reiz­voll um­schloß, daß der An­blick die un­wi­der­steh­li­che Be­gier­de, sie zu be­sit­zen, auf­kei­men ließ. Sie hat­te leb­haf­te, schwar­ze, aus­drucks­vol­le Au­gen, reiz­vol­le Be­we­gun­gen und ent­zücken­de Füße. Ein al­ter er­fah­re­ner Frau­en­ken­ner hät­te sie höchs­tens auf drei­ßig Jah­re ge­schätzt, so viel Ju­gend leuch­te­te auf ih­rer Stirn und zeig­te sich in den ge­rings­ten Ein­zel­hei­ten ih­res Kop­fes. Was ih­ren Cha­rak­ter an­langt, so er­in­ner­te sie auch gleich­zei­tig an die Grä­fin de Li­gnol­les und an die Mar­qui­se de B …, zwei Frau­en­ty­pen, die sich im Ge­dächt­nis ei­nes jun­gen Man­nes, der den Ro­man von de Lou­vet ge­le­sen hat, im­mer le­ben­dig er­hal­ten. Mir wur­den plötz­lich alle Ge­heim­nis­se die­ser Ehe klar, und ich faß­te den Ent­schluß, di­plo­ma­tisch wie ein al­ter Ge­sand­ter vor­zu­ge­hen. Es war das viel­leicht das ein­zi­ge Mal in mei­nem Le­ben, daß ich rich­ti­gen Takt ent­wi­ckel­te, und daß ich be­griff, worin die Ge­schick­lich­keit von Höf­lin­gen und Welt­leu­ten be­stand.

Seit die­sen Ta­gen un­be­küm­mer­ten Da­seins habe ich all­zu vie­le Kämp­fe durch­fech­ten müs­sen, als daß ich die un­be­deu­ten­den Hand­lun­gen im Le­ben auf die Wag­scha­le le­gen und die tau­send Vor­schrif­ten der Eti­ket­te und des gu­ten Tons hät­te er­fül­len kön­nen, die die edel­mü­tigs­ten Re­gun­gen des Her­zens er­sti­cken.

»Herr Graf, ich möch­te mit Ih­nen al­lein spre­chen«, sag­te ich mit ge­heim­nis­vol­ler Mie­ne, wäh­rend ich ei­ni­ge Schrit­te zu­rück­trat.

Er folg­te mir. Ju­li­et­te ließ uns al­lein und ent­fern­te sich, un­be­küm­mert wie eine Frau, die si­cher ist, die Ge­heim­nis­se ih­res Man­nes zu er­fah­ren, so­bald sie sie zu wis­sen wünscht. Ich er­zähl­te dem Gra­fen kurz den Tod mei­nes Rei­se­be­glei­ters. Der Ein­druck die­ser Nach­richt be­wies mir, daß er eine war­me Zu­nei­gung zu sei­nem jun­gen Mit­ar­bei­ter hat­te, und die­se Ent­de­ckung gab mir den Mut zu mei­ner Ant­wort in dem Zwie­ge­spräch, das nun zwi­schen uns bei­den sich ent­spann.

»Mei­ne Frau wird in Verzweif­lung sein,« rief er, »und ich wer­de alle Vor­sicht ge­brau­chen müs­sen, wenn ich sie von die­sem un­glück­se­li­gen Er­eig­nis in Kennt­nis set­ze.«

»Wenn ich mich zu­erst an Sie wand­te, Herr Graf,« sag­te ich, »so habe ich da­mit eine Pf­licht er­füllt. Ich woll­te mich die­ses Auf­trags, mit dem mich ein Un­be­kann­ter be­traut hat­te, nicht vor der Frau Grä­fin ent­le­di­gen, ohne Sie vor­her da­von be­nach­rich­tigt zu ha­ben; aber er hat mir auch eine Art eh­ren­vol­ler letzt­wil­li­ger Ver­fü­gung an­ver­traut, ein Ge­heim­nis, das ich nicht be­rech­tigt bin, preis­zu­ge­ben. Nach der ho­hen Mei­nung, die ich von Ihrem Cha­rak­ter ge­faßt habe, den­ke ich, daß Sie sich nicht der Er­fül­lung ei­nes sol­chen letz­ten Wun­sches wi­der­set­zen wer­den. Es wird der Frau Grä­fin über­las­sen blei­ben, das Schwei­ge­ge­bot, das mir auf­er­legt wor­den ist, zu bre­chen.«

Da er so sein Lob­lied sin­gen hör­te, wieg­te der Edel­mann sehr er­freut sei­nen Kopf hin und her. Dann er­wi­der­te er mit ei­nem ziem­lich ge­wun­de­nen Kom­pli­ment und ließ mir schließ­lich freie Hand. Als wir uns zu­rück­wand­ten, rief die Glo­cke ge­ra­de zum Di­ner; ich wur­de ein­ge­la­den, dar­an teil­zu­neh­men. Ju­li­et­te prüf­te ver­stoh­len un­se­re Mie­nen, als sie uns ernst und schweig­sam zu­rück­kom­men sah. Ganz er­staunt dar­über, daß ihr Mann leicht­fer­tig einen Vor­wand such­te, um uns al­lein zu las­sen, blieb sie ste­hen und warf mir einen Blick zu, wie er nur ei­ner Frau zu Ge­bo­te steht. In die­sem Blick lag die gan­ze be­rech­tig­te Neu­gier­de ei­ner Haus­her­rin, die einen Frem­den bei sich emp­fängt, der wie vom Him­mel her­ab­ge­fal­len er­scheint; es la­gen dar­in tau­send Fra­gen über die selt­sa­men Ge­gen­sät­ze mei­ner Klei­dung, mei­ner Ju­gend, mei­ner Phy­sio­gno­mie; dann die Ge­ring­schät­zung ei­ner an­ge­be­te­ten Ge­lieb­ten, vor de­ren Au­gen kein an­de­rer Mann Gna­de fin­det, au­ßer ei­nem ein­zi­gen; es lag dar­in das un­will­kür­li­che Ge­fühl von Angst, von Furcht und von der Ver­stim­mung, einen un­er­war­te­ten Gast zu ha­ben, wäh­rend sie doch si­cher­lich alle Se­lig­kei­ten der Ein­sam­keit für ihre Lie­be hat­te auf­spa­ren wol­len. Ich ver­stand die­ses be­red­te Schwei­gen und ant­wor­te­te dar­auf mit ei­nem trü­ben Lä­cheln voll Mit­leid und Teil­nah­me. Ei­nen Au­gen­blick lang be­trach­te­te ich sie in dem gan­zen Glän­ze ih­rer Schön­heit, um­strahlt von der Hei­ter­keit des Ta­ges, in­mit­ten des schma­len von Blu­men um­rahm­ten Laub­gan­ges. Und wäh­rend ich die­ses Bild be­wun­der­te, konn­te ich einen Seuf­zer nicht un­ter­drücken.

»Ach, Frau Grä­fin, ich habe eine sehr müh­se­li­ge Rei­se ge­macht, die ich … al­lein um Ihret­wil­len un­ter­nom­men hat­te.«

»Wie, mein Herr?!« sag­te sie.

»Oh,« fuhr ich fort, »ich kom­me im Na­men des­sen, der Sie Ju­li­et­te nennt.« Sie er­bleich­te. »Sie wer­den ihn heu­te nicht se­hen kön­nen.«

»Ist er krank?« frag­te sie lei­se.

»Ja«, er­wi­der­te ich. »Aber um Him­mels­wil­len ver­ra­ten Sie sich nicht. Ich bin von ihm be­auf­tragt wor­den, Ih­nen ge­wis­se, Sie be­tref­fen­de Ge­heim­nis­se an­zu­ver­trau­en; ich bit­te Sie, zu glau­ben, daß es nie­mals einen dis­kre­te­ren und er­ge­be­ne­ren Bo­ten ge­ge­ben hat.«

»Aber, was ist denn mit ihm?«

»Wenn er Sie nun nicht mehr lie­ben soll­te?«

»Oh, das ist nicht mög­lich!« rief sie und ließ ein klei­nes Lä­cheln se­hen, das nichts we­ni­ger als un­ge­zwun­gen er­schi­en.

Plötz­lich über­lief sie ein Schau­der, sie warf mir einen mil­den schnel­len Blick zu, er­rö­te­te und sag­te: »Lebt er?«

Gro­ßer Gott, was für eine schreck­li­che Fra­ge! Ich war noch zu jung, um den Ton er­tra­gen zu kön­nen, ich fand kei­ne Ant­wort und sah die un­glück­se­li­ge Frau wie er­starrt an.

»Mein Herr, ge­ben Sie mir Ant­wort!« rief sie.

»Ja, Frau Grä­fin.«

»Ist es auch wahr? Oh, sa­gen Sie mir die Wahr­heit, ich kann sie hö­ren. Sa­gen Sie sie mir. Je­der Schmerz ist we­ni­ger pei­ni­gend als die­se Un­ge­wiß­heit.«

Ich ant­wor­te­te mit zwei Trä­nen, die mir der selt­sa­me Ton, mit dem ihre Wor­te ge­spro­chen wur­den, ab­preß­te.

Sie stütz­te sich an einen Baum und stieß einen schwa­chen Schrei aus.

»Gnä­di­ge Frau,« sag­te ich, »hier kommt Ihr Herr Ge­mahl!«

»Habe ich denn einen Mann?«

Nach die­sen Wor­ten floh sie da­von und ver­schwand.

»Das Es­sen wird ja kalt!« rief der Graf. »Kom­men Sie, mein Herr.«

Da­rauf­hin folg­te ich dem Haus­herrn, der mich in einen Spei­se­saal führ­te, wo die Mahl­zeit mit all dem Lu­xus ser­viert war, an den uns die Pa­ri­ser Ta­feln ge­wöhnt ha­ben. Es wa­ren fünf Ku­verts ge­deckt: die­je­ni­gen der bei­den Gat­ten und der klei­nen Toch­ter, das »mei­ni­ge«, das ei­gent­lich das »sei­ni­ge« sein soll­te, und das letz­te für einen Dom­herrn von Saint-De­nis, der, nach­dem er das Tisch­ge­bet ge­spro­chen hat­te, frag­te: »Wo ist denn uns­re lie­be Grä­fin?«

»Oh, sie wird schon kom­men«, er­wi­der­te der Graf, der uns eif­rig die Sup­pe auf­tat und sich dann mit ei­ner sehr reich­li­chen Por­ti­on da­von ver­sorg­te, die er mit be­wun­de­rungs­wür­di­ger Schnel­lig­keit ver­tilg­te.

»Ach, mein lie­ber Nef­fe,« rief der Dom­herr, »wenn dei­ne Frau zu­ge­gen wäre, wür­dest du ver­nünf­ti­ger sein.«

»Papa wird krank wer­den,« sag­te das klei­ne Mäd­chen mit schlau­er Mie­ne.

Gleich nach die­ser ei­gen­ar­ti­gen ga­stro­no­mi­schen Epi­so­de, ge­ra­de als der Graf ich weiß nicht wel­che Sor­te Wild­pret tran­chier­te, er­schi­en eine Kam­mer­frau und sag­te: »Herr Graf, die gnä­di­ge Frau ist nir­gends zu fin­den!«

Auf die­se Wor­te hin er­hob ich mich so­fort, da ich ein Un­glück be­fürch­te­te, und mein Ge­sicht drück­te mei­ne Angst so deut­lich aus, daß der alte Dom­herr mir in den Gar­ten folg­te. Der Ehe­gat­te ging aus An­stand bis zur Schwel­le mit.

»Blei­ben Sie doch, blei­ben Sie doch! Sie brau­chen sich gar nicht zu be­un­ru­hi­gen«, rief er uns nach.

Aber er be­glei­te­te uns nicht. Der Dom­herr, die Kam­mer­frau und ich, wir durch­streif­ten die Wege und Ra­sen­flä­chen des Parks, wir rie­fen, wir horch­ten und wa­ren alle um so mehr in Sor­ge, als ich von dem Tode des jun­gen Vi­com­te be­rich­te­te. Wäh­rend wir lie­fen, er­zähl­te ich die nä­he­ren Um­stän­de des ver­häng­nis­vol­len Er­eig­nis­ses und be­merk­te da­bei, daß die Kam­mer­frau ganz au­ßer­or­dent­lich an ih­rer Her­rin hing; denn sie teil­te mei­ne ge­hei­me Angst viel mehr als der Dom­herr. Wir eil­ten zu den Was­ser­flä­chen, wir durch­such­ten al­les, ohne die Grä­fin zu fin­den und ohne auch nur die ge­rings­te Spur zu ent­de­cken, daß sie ir­gend­wo vor­bei­ge­kom­men war. End­lich, als wir an ei­ner Mau­er ent­lang gin­gen, hör­te ich ein dump­fes, ge­walt­sam er­stick­tes Stöh­nen, das aus ei­ner Art von Scheu­ne her­vor­zu­drin­gen schi­en. Auf alle Fäl­le trat ich hin­ein: da ent­deck­ten wir Ju­li­et­te, die, um ihre Verzweif­lung zu er­sti­cken, sich hier tief ins Heu ver­gra­ben hat­te. Ei­nem un­über­wind­li­chen Scham­ge­fühl ge­hor­chend, hat­te sie ih­ren Kopf ver­steckt, um ihre fürch­ter­li­chen Verzweif­lungs­schreie nicht laut wer­den zu las­sen; es war ein Stöh­nen, ein Kin­der­wei­nen, nur noch durch­drin­gen­der und jam­mer­vol­ler. Nichts schi­en mehr auf der Welt für sie zu exis­tie­ren. Die Kam­mer­frau mach­te ihre Her­rin von dem Heu frei, die al­les mit der kraft­lo­sen Gleich­gül­tig­keit ei­nes ster­ben­den Tiers mit sich ge­sche­hen ließ. Die Kam­mer­frau fand kei­ne an­dern Wor­te als im­mer zu wie­der­ho­len: »Ach bit­te, gnä­di­ge Frau, ach, bit­te …«

Der alte Dom­herr frag­te: »Aber was ist ihr denn? Was fehlt dir denn, lie­be Nich­te?«

End­lich ge­lang es mir, Ju­li­et­te mit Hil­fe der Kam­mer­frau in ihr Zim­mer zu brin­gen; ich emp­fahl, sorg­sam über sie zu wa­chen und al­len Leu­ten zu sa­gen, daß die Grä­fin Mi­grä­ne hät­te. Dann gin­gen der Dom­herr und ich wie­der in den Spei­se­saal hin­un­ter. Es war eine ziem­li­che Zeit ver­gan­gen, seit wir den Gra­fen ver­las­sen hat­ten, und ich dach­te erst wie­der an ihn, als ich in die Vor­hal­le trat und sei­ne Gleich­gül­tig­keit mich über­rasch­te; aber mein Er­stau­nen wuchs noch, als ich ihn mit phi­lo­so­phi­schem Gleich­mut am Tisch sit­zen sah; er hat­te fast das gan­ze Di­ner auf­ge­ges­sen, zum großen Ver­gnü­gen sei­ner Toch­ter, die sich dar­über amü­sier­te, wie ihr Va­ter sich über die An­ord­nun­gen der Grä­fin ganz und gar hin­weg­setz­te. Die merk­wür­di­ge Gleich­gül­tig­keit die­ses Ehe­manns wur­de mir ver­ständ­lich durch eine Dis­kus­si­on, die sich so­fort zwi­schen dem Dom­herrn und ihm er­hob. Der Graf soll­te eine stren­ge Diät in­ne­hal­ten, die die Ärz­te ihm ver­ord­net hat­ten, um ihn von ei­ner erns­ten Krank­heit zu hei­len, de­ren Name mir ent­fal­len ist; von wil­der Ge­frä­ßig­keit, wie sie ziem­lich häu­fig bei Re­kon­va­les­zen­ten vor­kommt, ver­zehrt, hat­te der tie­ri­sche Hun­ger alle ver­nünf­ti­ge mensch­li­che Über­le­gung be­siegt. So hat­te ich zu glei­cher Zeit die Na­tur in all ih­rer Nackt­heit in zwei Bil­dern be­ob­ach­ten kön­nen, bei de­nen das Ko­mi­sche in­mit­ten des furcht­bars­ten Schmer­zes zu­ta­ge trat. Der Abend ver­lief in trüber Stim­mung. Ich war sehr er­mü­det. Der Dom­herr wand­te all sei­nen Scharf­sinn auf, um den Grund für den Jam­mer sei­ner Nich­te her­aus­zu­be­kom­men. Der Ehe­mann ver­dau­te still­schwei­gend, nach­dem er sich mit ei­ner ziem­lich un­be­stimm­ten Auf­klä­rung be­gnügt hat­te, die ihm die Grä­fin durch ihre Kam­mer­frau ge­ben ließ, und die, wie ich glau­be, in Zu­sam­men­hang mit dem na­tür­li­chen Un­wohl­sein der Frau­en ge­bracht wur­de. Dann be­ga­ben wir uns alle zei­tig zur Ruhe. Da ich bei dem Zim­mer der Grä­fin vor­bei­kam, um mein Nacht­la­ger un­ter Füh­rung des Kam­mer­die­ners auf­zu­su­chen, er­kun­dig­te ich mich ängst­lich nach ih­rem Be­fin­den. Als sie mei­ne Stim­me er­kann­te, ließ sie mich bei sich ein­tre­ten und woll­te mit mir spre­chen; aber sie konn­te kein Wort her­aus­brin­gen, nick­te nur mit dem Kop­fe, und ich zog mich zu­rück. Trotz der furcht­ba­ren Auf­re­gun­gen, die ich mit der vol­len An­teil­nah­me ei­nes jun­gen Men­schen durch­ge­macht hat­te, schlief ich gleich ein, über­wäl­tigt von Mü­dig­keit in­fol­ge mei­nes Ge­walt­mar­sches. Da wur­de ich in spä­ter Nacht­stun­de durch das krei­schen­de Geräusch der Rin­ge mei­ner Bett­vor­hän­ge jäh ge­weckt, die hef­tig zu­rück­ge­zo­gen wur­den, und ich sah die Grä­fin zu Fü­ßen mei­nes Bet­tes sit­zen. Ihr Ant­litz war von der Lam­pe mei­nes Ti­sches hell be­leuch­tet.

»Ist es denn wirk­lich wahr, mein Herr?« sag­te sie. »Ich weiß nicht, wie ich nach dem furcht­ba­ren Schla­ge, der mich ge­trof­fen hat, noch wei­ter le­ben soll; aber jetzt bin ich ganz ru­hig. Ich will al­les wis­sen.«

›Ei­ne schö­ne Ruhe!‹ sag­te ich mir, als ich die er­schre­cken­de Bläs­se ih­res Ge­sichts wahr­nahm, die von der brau­nen Far­be des Haars ab­stach, als ich den Gra­be­ston ih­rer Stim­me hör­te und ent­setzt fest­stell­te, wie ver­wüs­tet und ver­zerrt ihr Ant­litz war. Sie er­schi­en wie ver­blüht, wie ein Blatt, das sei­ne letz­ten Herbst­far­ben ein­ge­büßt hat. Ihre Au­gen wa­ren rot und ge­schwol­len, hat­ten alle ihre Schön­heit ver­lo­ren und spie­gel­ten nur ih­ren tie­fen bit­tern Schmerz wi­der: man hät­te sa­gen mö­gen, daß an Stel­le der la­chen­den Son­ne eine graue Wol­ke ge­tre­ten war.

Ich schil­der­te ihr in ein­fa­cher Wei­se, ohne all­zu­sehr ge­wis­se Ein­zel­hei­ten, die für sie zu schmerz­lich sein muß­ten, zu be­rüh­ren, den plötz­li­chen Un­glücks­fall, der ihr ih­ren Her­zens­freund ge­raubt hat­te. Ich er­zähl­te ihr von un­se­rem ers­ten Rei­se­ta­ge, der mit den Erin­ne­run­gen an ihre Lie­be aus­ge­füllt war. Sie wein­te nicht, sie hör­te be­gie­rig zu, das Haupt zu mir hin ge­neigt, wie ein sorg­sa­mer Arzt, der ei­ner Krank­heit auf der Spur ist. Als ich sie ganz ih­rem Schmerz hin­ge­ge­ben und in ihr Un­glück ver­sun­ken sah, er­griff ich die Ge­le­gen­heit, ihr von den Be­fürch­tun­gen des ster­ben­den ar­men Jun­gen zu be­rich­ten, und wes­halb er mir den trau­ri­gen Auf­trag ge­ge­ben hat­te. Das düs­te­re Feu­er, das tief in ih­rer See­le flamm­te, ließ ihre Trä­nen ver­flie­gen. Sie wur­de wo­mög­lich noch blei­cher. Als ich ihr die Brie­fe reich­te, die ich un­ter mei­nem Kopf­kis­sen ver­wahrt hat­te, nahm sie sie me­cha­nisch ent­ge­gen; dann ging ein hef­ti­ges Zit­tern durch ih­ren Kör­per, und sie rief mit rau­her Stim­me: »Ach, und ich habe die sei­ni­gen ver­brannt! Nichts von ihm habe ich, nichts, nichts!«

Und sie schlug sich hef­tig vor die Stirn.

»Gnä­di­ge Frau«, sag­te ich. Sie mach­te eine krampf­haf­te Be­we­gung und sah mich an. »Ich habe ihm eine Lo­cke ab­ge­schnit­ten,« fuhr ich fort, »hier ist sie.«

Und ich gab ihr die­ses un­ver­wüst­li­che Rest­chen des­sen, den sie lieb­te. Ach, wenn ihr wie ich die glü­hen­den Trä­nen ge­fühlt hät­tet, die jetzt auf mei­ne Hand tropf­ten. Dann wür­det ihr wis­sen, was Dank­bar­keit ist, die un­mit­tel­bar auf eine Wohl­tat folgt. Sie preß­te mei­ne Hän­de und sag­te mit er­stick­ter Stim­me, wäh­rend ihre Au­gen im Fie­ber glänz­ten und in­mit­ten ih­res furcht­ba­ren Schmer­zes ein Strahl flüch­ti­gen Glücks­ge­fühls her­vor­brach:

»Ach, auch Sie lie­ben! Mö­gen Sie stets glück­lich sein und die, die Ih­nen teu­er ist, nie ver­lie­ren!«

Sie vollen­de­te den Satz nicht und ent­floh mit ih­rem Schat­ze.

Am an­dern Mor­gen er­schi­en mir die­se mit mei­nen Träu­men ver­misch­te nächt­li­che Sze­ne ganz un­wirk­lich. Es be­durf­te erst, um mich von ih­rer trau­ri­gen Wahr­heit zu über­zeu­gen, des ver­geb­li­chen Su­chens nach den Brie­fen un­ter mei­nem Kis­sen. Von den Er­eig­nis­sen des nächs­ten Ta­ges ist nichts er­wäh­nens­wert. Ich ver­weil­te noch ei­ni­ge Stun­den bei Ju­li­et­te, die mein ar­mer Rei­se­ge­nos­se mir so sehr ge­rühmt hat­te. Die ge­rings­ten Äu­ße­run­gen, Ges­ten und Hand­lun­gen die­ser Frau über­zeug­ten mich von der Vor­nehm­heit ih­res Den­kens und der Zart­heit ih­res Emp­fin­dens, die sie zu ei­nem je­ner köst­li­chen für die Lie­be und die Hin­ge­bung ge­schaf­fe­nen We­sen mach­ten, die so spär­lich auf die­ser Erde vor­kom­men. Am Abend brach­te mich der Graf von Mont­per­san per­sön­lich nach Mou­lins. Als wir dort an­lang­ten, sag­te er ziem­lich ver­le­gen zu mir: »Wenn ich da­mit Ihre Freund­lich­keit nicht miß­brau­che, mein Herr, und nicht all­zu ver­trau­lich ge­gen­über ei­nem Un­be­kann­ten hand­le, ge­gen den wir uns schon ge­nug ver­pflich­tet füh­len, so wür­de ich Sie bit­ten, in Pa­ris, wo­hin Sie ja rei­sen, bei Herrn von … (den Na­men habe ich ver­ges­sen) in der Rue Sen­tier einen Be­trag, den ich ihm schul­de, und den er bald zu emp­fan­gen wünscht, ab­zu­ge­ben.«

»Gern«, sag­te ich.

Und ich nahm in al­ler Un­schuld eine Rol­le von fünf­und­zwan­zig Louis­dors ent­ge­gen, die mir dazu ver­half, nach Pa­ris zu­rück­zu­keh­ren, und die ich dann ge­treu­lich dem Kor­re­spon­den­ten, dem so­ge­nann­ten Gläu­bi­ger des Herrn von Mont­per­san wie­der zu­stell­te.

Erst in Pa­ris wur­de mir, als ich den Be­trag in das an­ge­ge­be­ne Haus brach­te, die fein­sin­ni­ge Ge­schick­lich­keit klar, mit der mir Ju­li­et­te einen Dienst leis­te­te. Die Form, in der mir die­ses Gold ge­lie­hen wur­de, die über mei­ne leicht er­kenn­ba­re Geld­not be­wahr­te Dis­kre­ti­on – zei­gen sie nicht deut­lich die ge­nia­le Fä­hig­keit ei­nes lie­ben­den Wei­bes?

Und wel­ches Ent­zücken ge­noß ich, als ich die­ses Aben­teu­er ei­ner an­de­ren Frau er­zäh­len konn­te, die mich voll Angst an sich drück­te und sag­te: »Ach, Ge­lieb­ter, du, du darfst mir nicht ster­ben!«

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke

Подняться наверх