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Die Interdependenz von Leben und Tod

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Eine ehrwürdige Denkrichtung, die bis zum Beginn geschriebener Gedanken zurückreicht, betont die wechselseitige Abhängigkeit von Leben und Tod. Es ist eine der offensichtlichsten Wahrheiten des Lebens, dass alles vergeht, dass wir das Vergehen fürchten und dass wir dennoch angesichts des Vergehens, angesichts der Furcht leben müssen. Der Tod, sagen die Stoiker, ist das wichtigste Ereignis im Leben. Gut zu leben heißt zu lernen, gut zu sterben. Cicero sagte: »Philosophieren heißt, sich auf den Tod vorzubereiten«,2 und Seneca: »Niemand erfreut sich des wahren Geschmacks am Leben, außer derjenige, der bereit und willens ist, es zu verlassen.«3 Der Heilige Augustinus drückte die gleiche Idee aus: »Nur angesichts des Todes wird das Selbst des Menschen geboren.«4

Es ist nicht möglich, den Tod den Sterbenden zu überlassen. Die biologische Grenze zwischen Leben und Tod ist relativ genau; aber psychologisch gesehen gehen Leben und Tod ineinander über. Der Tod ist eine Tatsache des Lebens; wenn wir einen Moment lang nachdenken, werden wir uns bewusst, dass der Tod nicht nur der letzte Moment im Leben ist. »Sogar in der Geburt sterben wir; das Ende ist von Anfang an da« (Manilius).5 Montaigne fragte in seinem tiefgehenden Essay über den Tod: »Warum fürchtest du den letzten Tag? Er trägt nicht mehr zu deinem Tod bei als irgendein anderer. Der letzte Schritt verursacht nicht die Erschöpfung, sondern enthüllt sie.«6 Es wäre eine einfache Angelegenheit (und eine sehr verführerische), immer weiter wichtige Zitate über den Tod anzuführen. Praktisch jeder große Denker (normalerweise in der ersten Hälfte seines Lebens oder gegen Ende) hat tiefgründig über den Tod nachgedacht und darüber geschrieben; und viele haben den Schluss gezogen, dass der Tod ein untrennbarer Teil des Lebens ist, und dass eine lebenslange Betrachtung des Todes das Leben eher bereichert als es verarmen zu lassen. Obwohl die Physikalität des Todes den Menschen zerstört, rettet ihn die Idee des Todes.

Dieser letzte Gedanke ist so wichtig, dass er einer Wiederholung wert ist: Obwohl die Physikalität des Todes den Menschen zerstört, rettet ihn die Idee des Todes. Was genau bedeutet diese Aussage? Wie rettet die Idee des Todes den Menschen? Und wovor rettet sie ihn?

Ein kurzer Blick auf ein Grundkonzept existenzialistischer Philosophie kann Klärung bringen. Martin Heidegger erforschte im Jahr 1926 die Frage, wie die Idee des Todes den Menschen retten kann, und gelangte zu der wichtigen Einsicht, dass die Bewusstheit von unserem eigenen Tod als Ansporn für den Wechsel von einem Modus der Existenz zu einem höheren dient. Heidegger glaubte, dass es zwei fundamentale Modi des Existierens in der Welt gibt: (1) einen Zustand des Vergessens des Seins oder (2) einen Zustand des Bewusstseins des Seins.7

Wenn man im Zustand des Vergessens des Seins lebt, lebt man in der Welt der Dinge und taucht in die täglichen Ablenkungen des Lebens ein: Man ist »nivelliert«, voll beschäftigt mit »müßigem Geschwätz«, verloren in dem »sie«. Man gibt sich an die alltägliche Welt hin, an eine Beschäftigung damit, wie die Dinge sind.

In dem anderen Zustand, dem Zustand des Bewusstseins des Seins, rätselt man nicht darüber, wie die Dinge sind, sondern dass sie sind. In diesem Modus zu existieren heißt, dass man sich ständig des Seins bewusst ist. In diesem Modus, auf den oft als »ontologischer Modus« (von dem griechischen ontos, was »Existenz« bedeutet) Bezug genommen wird, bleibt man sich des Seins bewusst, nicht nur der Zerbrechlichkeit des Seins, sondern auch seiner Verantwortung für sein eigenes Sein (wie ich es im sechsten Kapitel diskutieren werde). Da man nur in diesem ontologischen Modus in Berührung mit seiner eigenen Selbst-Schöpfung ist, kann man nur hier Zugang zu der Macht des Wandels selbst erhalten.

Gewöhnlich leben wir im ersten Zustand. Das Vergessen des Seins ist der alltägliche Modus der Existenz. Heidegger beschreibt diesen als »unauthentisch« – als einen Modus, in dem wir uns der Urheberschaft des Lebens und der Welt nicht bewusst sind, in welchem wir »fliehen«, »fallen« und beruhigt werden, in welchem wir die Wahlmöglichkeiten des Seins vermeiden, indem wir durch den »Niemand weitergetragen werden.«8 Wenn wir jedoch in den zweiten Modus des Seins eintreten (Bewusstsein des Seins), existieren wir authentisch (daher der häufige Gebrauch des Begriffs »Authentizität« in der gegenwärtigen Psychologie). In diesem Zustand werden wir uns vollständig unserer selbst bewusst – bewusst unserer selbst als transzendentales (konstituiertes) Ich ebenso wie als ein empirisches (konstituierendes) Ich; wir umfassen unsere Möglichkeiten und Begrenzungen; wir stellen uns der absoluten Freiheit und dem Nichts – und angesichts dessen haben wir Angst.

Was hat nun der Tod mit all dem zu tun? Heidegger war sich bewusst, dass man nicht durch einfache Kontemplation von einem Zustand des Vergessens des Seins zu einem erleuchteteren, ängstlicheren Bewusstsein des Seins gelangen kann, auch nicht, indem wir uns beugen oder die Zähne zusammenbeißen. Es gibt bestimmte unveränderbare, unauslöschliche Bedingungen, bestimmte »dringliche Erfahrungen«, die uns aufrütteln, die uns vom ersten, alltäglichen Zustand der Existenz zu dem Zustand des Bewusstseins der Existenz zerren. Unter diesen dringlichen Erfahrungen (Jaspers bezog sich später auf sie als »Grenz«-Situationen9) hat der Tod nicht seinesgleichen: Der Tod ist die Bedingung, die es für uns möglich macht, das Leben auf authentische Art und Weise zu leben.

Diese Ansicht – dass der Tod einen positiven Beitrag zum Leben leistet wird nicht so leicht akzeptiert. Gewöhnlich sehen wir den Tod als totales Übel an, so dass wir jede gegenteilige Ansicht als einen unangemessenen Scherz verwerfen. Wir kommen ganz gut ohne diese Plage aus, vielen Dank.

Aber schieben wir dieses Urteil einen Augenblick lang auf und stellen uns das Leben ohne einen Gedanken an den Tod vor. Das Leben verliert etwas von seiner Intensität. Das Leben schrumpft, wenn der Tod verleugnet wird. Freud, der aus Gründen, auf die ich später kurz zurückkommen werde, wenig über den Tod sprach, glaubte, dass die Vergänglichkeit des Lebens unsere Freude an diesem erhöht. »Die Begrenzung in der Möglichkeit einer Freude erhöht den Wert einer Freude«. Freud schrieb während des Ersten Weltkriegs, dass die Verlockung des Krieges darin bestand, dass er den Tod wieder in das Leben brachte: »Das Leben wurde in der Tat wieder interessant; es hat wieder seinen vollen Inhalt erhalten.«10 Wenn der Tod ausgeschlossen wird, wenn man aus dem Auge verliert, was auf dem Spiel steht, verarmt das Leben. Es wird zu etwas, wie Freud schrieb, »so Seichtem und Leerem, wie zum Beispiel ein amerikanischer Flirt, bei dem von Anfang an klar ist, dass nichts daraus wird, im Gegensatz zu einer Liebesaffäre auf dem alten Kontinent, bei der beide Partner ihre Konsequenzen ständig im Bewusstsein haben müssen.«11 Viele haben darüber spekuliert, dass die Abwesenheit der Tatsache des Todes ebenso wie der Idee des Todes zu einem Abstumpfen der Sensibilität für das Leben führen würde. Beispielsweise gibt es in Jean Giraudouxs Theaterstück Amphitryon eine Unterhaltung zwischen den unsterblichen Göttern. Jupiter erzählt Merkur, wie es ist, weltliche Gestalt anzunehmen und eine sterbliche Frau zu lieben:

Sie gebraucht wenige Ausdrücke, und das erweitert den Abgrund zwischen uns … sie sagt, »Als ich ein Kind war« – oder »Wenn ich alt bin« – oder »Niemals in meinem ganzen Leben« – Das bringt mich um, Merkur … Uns fehlt etwas, Merkur – die Ergriffenheit des Übergangs – die Andeutung der Sterblichkeit – jene süße Traurigkeit des Ergreifens von etwas, was man nicht halten kann?«12

Auf ähnliche Weise stellt sich Montaigne ein Gespräch vor, in dem Chiron, halb Gott, halb Sterblicher, Unsterblichkeit zurückweist, als sein Vater Saturn (der Gott der Zeit und Dauer) beschreibt, was mit der Wahl verbunden ist:

Stell dir mal aufrichtig vor, wie viel unerträglicher und schmerzhafter ein ewig dauerndes Leben für den Menschen wäre als das Leben, das ich ihm gegeben habe. Wenn du den Tod nicht hättest, würdest du mich unaufhörlich verfluchen, weil ich dich seiner beraubt habe. Ich habe es absichtlich mit ein wenig Bitterkeit vermischt, um dich daran zu hindern, es zu gierig und maßlos zu umarmen, wenn du seine Annehmlichkeit siehst. Um dich in den gemäßigten Zustand zu versetzen, den ich von dir fordere, indem du weder dem Leben entfliehst, noch vor dem Tod zurückweichst, habe ich beide von ihnen zwischen Süße und Bitterkeit gemildert. 13

Ich möchte nicht an einem nekrophilen Kult teilhaben oder für lebensverleugnende Morbidität eintreten. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass unser grundlegendes Dilemma darin besteht, dass jeder von uns sowohl Engel als auch Bestie ist; wir sind die sterblichen Geschöpfe, die, weil wir uns unserer selbst bewusst sind, wissen, dass wir sterblich sind. Eine Verleugnung des Todes auf irgendeiner Ebene ist eine Verleugnung unserer grundlegenden Natur und erzeugt eine zunehmende und durchgreifende Verringerung der Bewusstheit und Erfahrung. Die Integration der Idee des Todes rettet uns; statt uns zu einer Existenz des Schreckens oder des düsteren Pessimismus zu verurteilen, wirkt sie als Katalysator, damit wir in authentischere Modi des Lebens eintauchen können, und sie vergrößert unsere Freude am Leben. Als Bekräftigung dafür haben wir das Zeugnis von Personen, die eine persönliche Begegnung mit dem Tod hatten.

Existenzielle Psychotherapie

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