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Freuds Unaufmerksamkeit gegenüber dem Tod: Persönliche Gründe

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Um zu erkunden, weshalb Freud an einem theoretischen System dauerhaft festhielt, das seinen hochfliegenden Intellekt behinderte und ihn zu verzerrten Positionen zwang, muss ich mich einem kurzen Studium von Freud, dem Menschen, zuwenden. Das Werk von Künstlern, Mathematikern, Genetikern oder Romanschriftstellern spricht für sich selbst; es ist ein Luxus – oft ein unterhaltsamer, interessanter Luxus, gelegentlich auch ein intellektuell erhellender –, das persönliche Leben und die Motivationen der Künstler und Wissenschaftler zu studieren. Aber wenn man eine Theorie betrachtet, die behauptet, die tiefsten Schichten menschlichen Verhaltens und menschlicher Motivationen offenzulegen, und wenn die Daten, die diese Theorie unterstützen, zu einem großen Teil aus der Selbstanalyse eines Menschen stammen, dann wird es nicht zu einem Luxus, sondern zu einer Notwendigkeit, den Menschen so tief wie möglich zu erforschen. Glücklicherweise mangelt es nicht an Daten: Über Freud als Person ist wahrscheinlich mehr bekannt als über irgendeine andere moderne historische Persönlichkeit (mit der möglichen Ausnahme von Woody Allen).

Tatsächlich gibt es so viel biografisches Material über Freud – das von Ernest Jones’ umfangreichem, dreibändigem Das Leben und Werk von Sigmund Freud113 über Laienbiografien114, veröffentlichten Erinnerungen von früheren Patienten115 bis zu Band über Band an veröffentlichter Korrespondenz116 reicht –, dass man jede beliebige Zahl an wilden Hypothesen über seine Charakterstruktur vertreten kann, wenn man sorgfältig auswählt. Deshalb caveat emptor.

Ich glaube, dass viel dafür spricht, dass im Kern von Freuds verzehrender Entschlossenheit seine unstillbare Leidenschaft steckte, Größe zu erlangen. Jones’ Biografie konzentriert sich auf dieses Thema. Freud wurde in einer unversehrten Fruchtwasserblase geboren – ein Ereignis, das nach dem Volksmund immer Ruhm ankündigt. Seine Familie glaubte, dass ihm Ruhm bestimmt war: Seine Mutter, die niemals daran zweifelte, nannte ihn »mein goldener Sigi, Sigi, mein Gold« und zog ihn allen ihren anderen Kindern vor. Später schrieb er: »Ein Mensch, der der unbestrittene Favorit seiner Mutter war, behält sein Leben lang das Gefühl eines Eroberers, jenes Vertrauen in den Erfolg, das oft wirklichen Erfolg initiiert.«117 Der Glaube wurde durch frühe Prophezeiungen angefacht: Eines Tages informierte ein älterer Fremder Freuds Mutter, dass sie einen großen Mann in die Welt gesetzt habe; ein Bänkelsänger in einem Vergnügungspark wählte Freud aus den anderen Kindern aus und sagte voraus, dass er eines Tages ein Regierungsminister werden würde. Auch Freuds offensichtliche intellektuelle Begabung verstärkte den Glauben; er stand immer an der Spitze seiner Klasse im Gymnasium – tatsächlich belegte er nach Jones solch einen privilegierten Platz, dass er kaum je in Frage gestellt wurde.118

Es dauerte nicht lange, bis Freud aufhörte, sein Schicksal infrage zu stellen. In seiner Adoleszenz schrieb er an einen Jugendfreund, dass er eine Auszeichnung für einen Aufsatz erhalten hatte, und fuhr fort: »Du wusstest nicht, dass du Briefe mit einem deutschen Stilisten ausgetauscht hast. Du bewahrst sie besser sorgfältig auf – man weiß nie.«119 Die interessanteste Aussage in dieser Hinsicht kann in einem Brief an seine Verlobte gefunden werden, den er schrieb, als er achtundzwanzig Jahre alt war (und er hatte das Gebiet der Psychiatrie noch nicht betreten!):

Ein Vorhaben habe ich allerdings fast ausgeführt, welches eine Reihe von noch nicht geborenen, aber zum Unglück geborenen Leuten schwer empfinden wird. Da du doch nicht erraten wirst, was für Leute ich meine, so verrate ich dir’s gleich: es sind meine Biographen. Ich habe alle meine Aufzeichnungen seit 14 Jahren u. Briefe, wissenschaftliche Excerpte u. Manuskripte meiner Arbeiten vernichtet. Von Briefen sind nur die Familienbriefe verschont geblieben. Deine ›Liebchen‹ waren nie in Gefahr. Alle alten Freundschaften und Beziehungen haben sich dabei mir nochmals präsentiert und stumm den Todesstreich empfangen … alle meine Gedanken und Gefühle über die Welt im Allgemeinen und soweit sie mich betraf, im Besonderen sind für unwert erklärt worden, fortzubestehen. Sie müssen jetzt nochmals gedacht werden, und ich hatte viel zusammengeschrieben. Aber das Zeug legt sich um einen herum, wie der Flugsand um die Sphynx, bald wären nur mehr meine Nasenlöcher aus dem vielen Papier herausgeragt; ich kann nicht reifen und nicht sterben ohne die Sorge, wer mir in die alten Papiere kommt. Überdies alles, was hinter dem großen Einschnitt in meinem Leben zu liegen fällt, hinter unserer Liebe und meiner Berufswahl, ist lang todt u. soll ihm ein ehrliches Begräbnis nicht vorenthalten sein. Die Biographen aber sollen sich plagen, wir wollen’s ihnen nicht zu leicht machen. Jeder soll mit seinen Ansichten über die ›Entwicklung des Helden‹ Recht behalten, ich freue mich schon, wie die sich irren werden.120

In seinem Streben nach Größe sucht Freud nach der großen Entdeckung. Seine frühen Briefe beschreiben eine Fülle verwirrender Ideen, die er aufgriff und wieder verwarf. Nach Jones verpasste er Größe knapp dadurch, dass er seine frühe neurohistologische Arbeit nicht bis zu ihrer logischen Schlussfolgerung weiter verfolgte: das Aufstellen einer Neuronentheorie. Er verpasste sie noch einmal in seiner Arbeit mit Kokain. Freud beschrieb dieses Ereignis in einem Brief, der so beginnt: »Ich möchte hier ein wenig zurückgehen und erklären, warum es der Fehler meiner Verlobten war, dass ich nicht bereits in frühem Alter berühmt war.«121 Freud fährt fort, indem er erwähnt, wie er eines Tages einem Physikerfreund, Karl Koller, gegenüber beiläufig seine Beobachtungen über die anästhetischen Eigenschaften von Kokain bemerkt und dann die Stadt für einen langen Besuch bei seiner Verlobten verlassen hatte. Als Freud zurückkehrte, hatte Koller bereits entscheidende chirurgische Experimente durchgeführt und als Entdecker der Lokalanästhesie Ruhm erlangt.

Wenige Menschen waren mit intellektuellen Gaben gesegnet, die denen Freuds vergleichbar wären; er hatte große Imaginationskraft, unbegrenzte Energie und unbezähmbaren Mut. Aber als er erwachsen wurde, fand er, dass sein Weg zum Erfolg in unfairer und unberechenbarer Weise versperrt war. Brücke musste Freud davon in Kenntnis setzen, dass es wegen des Antisemitismus in Wien praktisch keine Hoffnung auf eine erfolgreiche akademische Karriere gab: Die Unterstützung der Universität, die Anerkennung, die Promotion waren ihm verwehrt. Freud wurde im Alter von siebenundzwanzig gezwungen, seine Forschung aufzugeben und seinen Lebensunterhalt als praktizierender Arzt zu verdienen. Er studierte Psychiatrie und trat in eine private medizinische Praxis ein. Die »große Entdeckung« war nun seine einzige Chance, Ruhm zu erlangen.

Freuds Gefühl, dass ihm Zeit und Gelegenheit entglitten, erklärt zweifellos seine Unklugheit bei dem Vorfall um das Kokain. Er las, dass die Einheimischen Südamerikas dadurch Stärke gewannen, dass sie Kokainpflanzen kauten; er führte Kokain in seine klinische Praxis ein und pries in der Wiener medizinischen Gesellschaft die positiven Wirkungen der Droge auf Depression und Müdigkeit. Er verschrieb vielen seiner Patienten Kokain und drängte seine Freunde (sogar seine Verlobte), es einzunehmen. Als bald darauf die ersten Berichte über Kokainabhängigkeit erschienen, fiel Freuds Glaubwürdigkeit bei der Wiener medizinischen Gesellschaft in sich zusammen. (Dieser Vorfall erklärt, zumindest zu einem kleinen Teil, warum die Wiener akademische Gemeinschaft es an Reaktionen auf Freuds spätere Entdeckungen fehlen ließ.)

Die Psychologie fing an, ihn vollständig gefangen zu nehmen. Die Struktur des Geistes zu entwirren, wurde, wie Freud es formulierte, zu seiner Geliebten. Seine Hoffnungen auf Ruhm hingen vom Erfolg dieser Theorie ab; als gegenteilige klinische Beweise erschienen, war er am Boden zerstört. Freud beschrieb diesen Rückschlag in einem Brief an seinen Freund Wilhelm Fließ im Jahre 1897: »Die Erwartung des ewigen Nachruhmes war so schön, und des sicheren Reichtums, die volle Unabhängigkeit … all dies hing davon ab, ob Hysterie aufgeht oder nicht.«122

Systematische Beobachtungen waren von geringer Bedeutung. Freuds Ziel war nichts Geringeres als ein umfassendes Modell des Geistes. Im Jahr 1895, als er immer noch auf halbem Weg zwischen Neurophysiologie und Psychiatrie war, hatte Freud das Gefühl, dass die Entdeckung eines Modells des Geistes kurz bevorstand. Er schrieb in einem Brief:

In einer fleißigen Nacht der verflossenen Woche, bei jenem Grad von Schmerzbelastung, der für meine Hirntätigkeit das Optimum herstellt, haben sich plötzlich die Schranken gehoben, die Hüllen gesenkt, und man konnte durchschauen vom Neurosendetail bis zu den Bedingungen des Bewußtseins. Es schien alles ineinander zu greifen, das Räderwerk paßte zusammen, man bekam den Eindruck, das Ding sei jetzt wirklich eine Maschine und werde nächstens auch von selber gehen. Die drei Systeme von Neuronen, der freie und gebundene Zustand von Quantität, der Primär- und Sekundärvorgang, die Haupttendenz und die Kompromißtendenz des Nervensystems, die beiden biologischen Regeln der Aufmerksamkeit und der Abwehr, die Qualitäts-, Real- und Denkzeichen, der Zustand der psychosexualen Gruppe – die Sexualitätsbedingung der Verdrängung, endlich die Bedingungen des Bewußtseins als Wahrnehmungsfunktion – das alles stimmte und stimmt heute noch! Ich weiß mich vor Vergnügen natürlich nicht zu fassen.123

Damit die Entdeckung für Freuds Bedürfnisse voll zufriedenstellend sein konnte, waren zwei Kriterien zu erfüllen: (1) das Modell des Geistes sollte ein umfassendes sein, welches mit den Helmholtzschen wissenschaftlichen Kriterien übereinstimmte; und (2) es sollte eine originelle Entdeckung sein. Das Freudsche Grundschema des Geistes, die Existenz von Verdrängung, die Beziehung zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten, das grundlegend biologische Substrat von Gedanken und Affekt war eine kreative Synthese – nicht neuartig in ihren Komponenten (Schopenhauer und Nietzsche hatten einen kühnen Weg markiert), aber neuartig in ihrer Gründlichkeit und ihrer Anwendbarkeit auf viele menschliche Aktivitäten, von Träumen und Fantasie bis hin zu Verhalten, Symptombildung und Psychose. (Über seine Vorgänger sagte Freud an einer Stelle: »Viele Leute haben mit dem Unbewussten geflirtet, aber ich war derjenige, der es zuerst heiratete.«) Die Energiekomponente des Freudschen Modells (die sexuelle Kraft oder Libido) – ein beständiges Maß an Energie, das durch vorherbestimmte, wohldefinierte Stadien der Entwicklung während der frühen und späteren Kindheit geht, welches gebunden oder ungebunden sein kann, mit dem Objekte besetzt werden können, das überfließen oder aufgestaut oder verschoben werden kann, das die Quelle des Gedankens, des Verhaltens, der Angst und der Symptome ist – ist vollständig neu; es war die große Entdeckung, und Freud hielt grimmig daran fest. Um der Libidotheorie willen opferte er seine Beziehungen zu seinen vielversprechendsten Schülern, die von ihm abrückten, weil sie sich weigerten, sein absolutes Beharren auf der neuen Entdeckung zu akzeptieren – die zentrale Rolle der Libido bei der menschlichen Motivation.

Die Rolle des Todes im menschlichen Verhalten hatte für Freud offensichtlich weder als Quelle von Angst noch als Determinante der Motivation einen Reiz. Sie erfüllte keine dynamische Erfordernisse: Der Tod war kein Instinkt (obwohl Freud im Jahr 1920 dieses postulieren sollte) und passte nicht in ein mechanistisches Helmholtzsches Modell. Noch war die Rolle des Todes neuartig: Es war ein alter Hut, sozusagen Altes Testament; und es war nicht das Ziel Freuds, sich einer langen Prozession von Denkern anzuschließen, die bis an den Beginn aller Zeiten zurückreicht. »Ewiger Ruhm«, wie er es zu nennen pflegte, lag dort nicht. Ewiger Ruhm würde ihm sicher sein auf Grund der Entdeckung einer his dahin unbekannten Quelle menschlicher Motivation: der Libido. Es besteht wohl kein Zweifel daran, dass Freud einen wichtigen Faktor im menschlichen Verhalten korrekt darstellte. Freuds Irrtum war eine Überbesetzung: Seine grimmige Investition in das Primat der Libido war überdeterminiert; er erhob einen Aspekt menschlicher Motivation in eine Position absoluten Vorrangs und absoluter Exklusivität und subsumierte unter diesem Aspekt alles Menschliche, für alle Personen und für alle Zeiten.

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