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7.1.1 קרא als hebräisches Hauptleseverb

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AlsHauptleseverb Hauptverb für „lesen“ im biblischen Hebräisch muss קרא gelten, das in dieser Bedeutung an mindestens 36 Stellen belegt ist.1 Können aus der Semantik des Verbes Rückschlüsse auf die LesepraxisLese-praxis im alten IsraelIsrael gezogen werden? Allein aus der Grundbedeutung „rufen“ bzw. präziser „durch den Laut der StimmeStimme die Aufmerksamkeit jemandes auf sich ziehen, um mit ihm in Kontakt zu kommen“,2 abzuleiten, im nachexilischen JudentumJudentum wäre nur oder mehrheitlich vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend gelesen worden, wäre methodisch verfehlt.3 Hossfeld und Lamberty-Zielinski gehen davon aus, dass es sich bei der Entwicklung des LeseterminusLese-terminus als Spezialbedeutung von קרא um eine zeitlich nachgeordnete Entwicklung handelt, da קרא „in dieser Bedeutung ‚lesen‘ erst von der exil. Zeit an (vor allem dtr) belegt ist.“4 Dabei kann zwar vermutet werden, dass sich die Verwendung sprachgeschichtlich aus der Grundbedeutung abgeleitet hat. Es gibt aber mehrere Indizien, die dafür sprechen, dass die Semantik der Verbwurzel in der späteren Verwendung als Spezialterminus für das Lesen verblasst ist – ähnlich wie bei vielen, oben besprochenen LesemetaphernMetapher und -metonymien im Griechischen und Lateinischen und insbesondere bei den HauptleseverbenHauptleseverb ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω und legolego.

So kann das Verb die individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre von Schriftstücken bezeichnen.5 Mehrfach wird beschrieben, wie der KönigKönig einen BriefBrief liest, der ihm direkt ausgehändigt wird (2Kön 5,72Kön 5,7; 19,142Kön 19,14 [= Jes 37,14Jes 37,14]). In der Darstellung von Dtn 17,18 fDtn 17,18 f wird der König als nachexilischer SchriftgelehrterSchrift-gelehrte stilisiert,6 der eine AbschriftAbschrift der Weisung „bei sich haben soll und darin lesen soll sein Leben lang (‎וְהָיְתָה עִמּוֹ וְקָרָא בוֹ כָּל־יְמֵי חַיָּיו‏‎), damit er lerntLernen, JHWH Elohim zu fürchten, und damit er alle Worte dieser Weisung und diese Satzungen hält und danach handelt.“ Dass er diese Abschrift der Weisung selbständig anfertigen soll (Dtn 17,18Dtn 17,18),7 betont die Individualität des (freilich stilisierten) täglichen Leseaktes, den sich die LeserLeser hier vorzustellen haben. Dtn 17,18Dtn 17,18 wird von PhilonPhilon von Alexandria aufgegriffen, weshalb unten noch einmal darauf zurückzukommen sein wird (s. u. 7.2.2).8

Aus 2Kön 22,8–162Kön 22,8–16 abzuleiten, Dtn 17,18 fDtn 17,18 f meine, dass dem KönigKönig der Text täglich vorgelesen werden solle,9 steht in Spannung zur eigenhändigen AbschriftAbschrift des zu lesenden Textes. Auch die Behauptung Ottos, hier sei ein Vorleseakt mit stimmlicherStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung vorauszusetzen,10 bleibt ohne Begründung. BDB 895,4b zählt die Stelle zur Kategorie „read, to oneself“. In 2Kön 22,8 wird erzählt, dass der Hohepriester Hilkija dem Schreiber Schafan das „BuchBuch der Weisung“ (‎סֵפֶר הַתּוֹרָה)11 aushändigt, das dieser dann für sich liest (וַיִּקְרָאֵהוּ/LXXAT/HB/LXX: καὶ ἀνέγνωἀναγιγνώσκω αὐτό) und später dem König Joschija vorliest (2Kön 22,10 f).12 Es ist interessant, dass der Chronist die Formulierung „er las es“ (2Kön 22,10) zu „er las darin“ (2Chr 34,182Chr 34,18) verändert, also das Objektsuffix mit dem Präpositionalausdruck vertauscht und damit „den Umfang des Vorgelesenen [hin zur selektivenUmfangselektiv Lektüre verändert]: Laut Chr las Schafan nicht das ganze Buch, sondern nur Stücke daraus.“13

Anders als Hossfeld und Lamberty-Zielinski postulieren,14 kann man für 2Kön 22,8 nicht eindeutig feststellen, ob die individuelle Lektüre mit oder ohne StimmeinsatzStimmeinsatz vorzustellen ist. Letzteres ist aber durchaus möglich – nicht zuletzt im Hinblick auf den LeseaktLese-akt von Schafan in 2Kön 22,82Kön 22,8–16, der auf Kenntnisnahme des Inhaltes hin ausgerichtet ist. Auch die Indizien an einer anderen Stelle weisen darauf hin, dass die LesepraxisLese-praxis im Alten IsraelIsrael bezüglich der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektürepraxis durchaus differenziert war. So fordert JHWH Habakuk in Hab 2,2Hab 2,2 dazu auf, er solle das, was er geschaut hat, „deutlich auf die TafelnTafel/Täfelchen schreibenSchreiben, damit der, wer es liest, rennt (‎לְמַעַן יָרוּץ קוֹרֵא בוֹ).“ Viele moderne Übersetzungen geben die Bildlichkeit der Aussage nicht präzise genug wieder15 oder greifen sogar in m. E. unzulässiger Weise interpretatorisch ein.16 Diese Übersetzungen lassen die in der antiken Welt mit dem Lesen verknüpfte Bewegungsmetaphorik unberücksichtigte, wie aus einschlägigen Kommentare deutlich wird. So formuliert L. Perlitt offenbar in Unkenntnis der Möglichkeit einer metaphorischenMetapher Bedeutung des Motivs des Rennens gegen die eigentlich naheliegende Übersetzung:

„V. 2 b könnte übersetzt werden: „damit schnellLese-geschwindigkeit läuft […], der sie liest.“ Aber das wäre albern, denn weder vor noch nach V. 2 gibt es jemanden, der rennt, wohin auch immer. Subj. des Verbes ist sonst der Mensch, hier müsste man indirekt die AugenAugen als Subj. nehmen (wie Jes 59,7Jes 59,7; Spr 1,16Spr 1,16; 6,18Spr 6,18 die Füße). Aber weder bei ‚deutlich‘ noch bei ‚geläufig‘ kennen wir die konkrete Vorstellung, auf die angespielt sein könnte.“17

Nicht zuletzt die altsprachlichen Übersetzungen verdeutlichen, dass hier die in der Antike geläufige Metaphorik des Durchrennens im Blick ist, die auf eine auf Schnelligkeit hin ausgerichtete Lektüre hindeutet.18 Diese schnelle Lektüre wäre wiederum durch den Einsatz der StimmeStimme bzw. das vollständigeUmfangvollständig Ausartikulieren in anderer Form (als durch unleserliche Schrift) behindert worden. Das heißt, vom Text wird vermutlich eine Lektürepraxis vorausgesetzt, die entweder durch subvokalisierendesStimmeinsatzsubvokalisierend Lesen oder durch gänzlichen Verzicht auf stimmlicheStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung die entsprechende SchnelligkeitLese-geschwindigkeit ermöglichte. Im Bild müssen nicht zwingend die AugenAugen gemeint sein, vielmehr steht der rennende Mensch hier totum pro parte für die am Leseprozess beteiligten Teile des Körpers. Es ist mit M. Malessa festzuhalten: „Der Schwerpunkt der Aussage liegt […] auf der Art und Weise des Vollzuges der Verbalhandlung von קרא und weniger auf dem Erreichen eines natürlichen Endpunktes der Handlung, was durch die durative Aktionsart der Konstruktion unterstrichen wird.“19 Hab 2,2Hab 2,2 hat also eine „typographische“ Gestaltung der TafelTafel/Täfelchen im Blick, die für die schnelle visuellevisuell Erfassbarkeit optimiert ist.20

Vor diesem Hintergrund reflektiert vermutlich auch Jes 34,16Jes 34,16 individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektürepraxis. Dort findet sich die (in der LXXAT/HB/LXX fehlende und in der exegetischenExegese Fachliteratur häufig als sonderbar charakterisierte und in seiner Referenzialität und Ursprünglichkeit kontrovers diskutierte21) Aufforderung „Forscht im BuchBuch des Herrn und lest!“, die als Ausdruck schriftgelehrterSchrift-gelehrte Lektürepraxis verstanden werden kann.22

Wenn קרא in spezieller Weise als LeseterminusLese-terminus gebraucht wird, übersetzt ihn die LXXAT/HB/LXX in den allermeisten Fällen mit dem griechischen HauptleseverbHauptleseverb ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω,23 das wie oben ausführlich besprochen, auf einen anderen Bildspendebereich zurückzuführen ist. Dabei ist anzumerken, dass im Griechischen mit dem ebenfalls sehr häufig vorkommenden Leseterminus ἐντυγχάνωἐντυγχάνω (s. o. 3.4) ein anderes Lexem zur Verfügung gestanden hätte, das den semantischen Gehalt des Beziehungsaufbaus enthalten hätte, den קרא aufweist. Dies zeigt insgesamt, dass der ursprüngliche semantische Gehalt des Verbes קרא, wenn es als Leseterminus gebraucht wird, – ähnlich wie bei ἀναγιγνώσκω oder eben wie bei dem Lexem „lesen“ im Deutschen – verblasst ist.24

Bei den meisten LeseszenenLese-szene im ATAT/HB/LXX, die mit קרא gekennzeichnet werden, handelt es sich allerdings um Vorleseszenen (durch den Kontext als solche markiert), wobei die AdressatenAdressat des VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt häufig mit der Formulierung בְּאָזְנֵי („vor den OhrenOhr“, Ex 24,7Ex 24,7; 2Kön 23,22Kön 23,2; 2Chr 34,302Chr 34,30; Neh 13,1Neh 13,1; Jer 29,29Jer 29,29; 36,15Jer 36,15.21Jer 36,21–23), לִפְנֵי („vor dem Angesicht“, 2Kön 22,102Kön 22,10; 2Chr 34,182Chr 34,18.242Chr 34,24; Neh 8Neh 8,3Neh 8,3; Est 6,1Est 6,1) oder נֶגֶד („in Gegenwart von“, Dtn 31,11Dtn 31,11) markiert werden. Aus dem Vorkommen des Wortes „Ohr“ (אֹזֶן) in der Zusammensetzung בְּאָזְנֵי, die als konventionalisierte Präposition verwendet wird, ist nicht ableitbar, dass auch die individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre mit stimmlicherStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung vollzogen wurde. Auch wäre es ein methodischer Fehlschluss, aus dem quantitativen Übergewicht von Vorleseszenen zu schließen, man habe im nachexilischen JudentumJudentum lediglich vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend und in Gruppen gelesen. Insgesamt muss man potentiell in Rechnung stellen, dass die geringe Anzahl an Szenen mit individuell-direkten LeseaktenLese-akt – sollten sie in bestimmten sozialen Kreisen ein alltäglicher Akt gewesen sein – dem Mangel an Relevanz für narrative Darstellungen geschuldet sein kann.

Bei zahlreichen Vorleseszenen im ATAT/HB/LXX handelt es sich um singuläreFrequenzsingulär Lese- bzw. Kommunikationsakte auf der Ebene der erzählten Welt(!), die keine dauerhaft institutionalisierte und ritualisierteRitual/ritualisiert LesepraxisLese-praxis reflektieren,25 sondern in den meisten Fällen eine besondere narrative Relevanz für das jeweilige Erzählkonzept haben:26

Briefe oder andere Dokumente werden etwa in einem singulärenFrequenzsingulär Kommunikationsakt vorgelesen (vgl. z.B. Jer 29,29Jer 29,29; ferner 1Esr 3,14 LXX1Esr 3,14 LXXAT/HB/LXX);27 ein singuläres Kommunikationsgeschehen stellen auch die Verlesungen des Bundesbuches/der ToraTora als Promulgationsakt dar;28 das mehrfache VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt der BuchrolleRolle (scroll) in Jer 36,6Jer 36,6.10Jer 36,10.15Jer 36,15.21–23Jer 36,21–23 gehört zu einer umfangreichen „konstruierten Erzählung […], die […] den KönigKönig Jojakim als Gegenbild zu König Joschija zeichnet und verschiedene Weisen des Umgangs mit GottesGott Wort aufzeigt.“29 Die Erzählung stellt also keinen historischen Bericht der Entstehung des Jeremia-BuchesBuch im 7. Jh. v. Chr. dar, wie in der Forschung von einigen angenommen wird,30 fungiert aber möglicherweise als Ätiologie redaktioneller Prozesse (vgl. Jer 36,32Jer 36,32).31 Das Vorlesen ist also Teil einer fiktionalen Erzählwelt der zweiten Hälfte des 7. Jh., die exilisch und nachexilisch gestaltet wird,32 wobei der Text keine Hinweise darauf gibt, dass eine zeitgenössische Vorlesepraxis prophetischer Texte in das 7. Jh. zurückprojiziert wird. Es handelt sich also um eine literarisch-fiktive Form des Vorlesens, die die narrative Funktion hat, die Kenntnis des GeschriebenenSchriftGeschriebenes bei allen Akteuren auf der Ebene der erzählten Welt sicherzustellen, um vor diesem Hintergrund als besonderes „Paradigma für die Verfehlung des Südreiches“33 dienen zu können. Aufschlussreich ist demgegenüber, dass die wieder erstellte und überarbeitete SchriftrolleRolle (scroll) (Jer 36,32Jer 36,32), welche von den Lesern als vorliegendes Buch Jeremia identifiziert werden soll, gerade nicht mehr vorgelesen wird. Freilich lässt dies auch keine sicheren Schlussfolgerungen zu, welchen Rezeptionsmodus insbesondere die Redaktoren der prophetischenProphet Literatur im Blick hatten.

Eine VorleseszeneRezeptionkollektiv-indirekt (Neh 8Neh 8) muss an dieser Stelle ein wenig genauer betrachtet werden, da in der Forschung zuweilen angenommen wird, dass es sich um eine „Ätiologie des späteren synagogalen Gottesdienstes“34 handelte bzw. sich in ihr der „ideale Wortgottesdienst“GottesdienstWort-35, also eine dauerhaft institutionalisierte rituelle LesepraxisLese-praxis, widerspiegelte. Neh 8Neh 8 bietet eine ausführlich und detailreich beschriebene LeseszeneLese-szene in Jerusalem, wo sich das ganze VolkVolk nach der Rückkehr aus dem Exil im siebten Monat (Neh 7,72Neh 7,72) auf dem Platz vor dem Wassertor versammelt (vgl. auch 1Esr 3,11Esr 3,1) und Esra darum bittet, das BuchBuch der Weisung des Mose zu holen (Neh 8,1Neh 8,1). Bei der Darstellung der Leseszene werden folgende Elemente hervorgehoben:

1) Die LeseszeneLese-szene erstreckt sich zeitlich vom frühen Morgen bis zum Mittag (Neh 8,3Neh 8,3).

2) Der SchriftgelehrteSchrift-gelehrte Esra steht zusammen mit 13 Personen, die namentlich aufgezählt werden, erhöht auf einem Holzgerüst (Neh 8,4Neh 8,4), wodurch eine besondere, für alle visuellvisuell wahrnehmbare Inszenierung des Öffnens (פתח/ἀνοίγνυμι bzw. ἀνοίγω) der BuchrolleRolle (scroll) möglich wird (Neh 8,5a/bNeh 8,5).

3) Das VolkVolk reagiert auf das Öffnen des BuchesBuch damit, dass es sich erhebt (Neh 8,5c/dNeh 8,5); nach einem Lobpreis durch Esra spricht das Volk mit erhobenen ArmenArmut „Amen, Amen“, woraufhin es sich verneigt und zu Boden wirft (Neh 8,6Neh 8,6). Der Text ist dahingehend nicht ganz eindeutig, ob das Öffnen des Buches impliziert, dass Nehemia aus der ToraTora vorliest, was ja in Neh 8,3Neh 8,3 vorweggenommen worden ist; dann wären sowohl der Lobpreis JHWHs als auch die Reaktion des Volkes als Abschlussritual zu verstehen, wie G. J. Venema mit Verweis auf das „Amen, Amen“ als typical closing formular vermutete.36 Dass das Öffnen eines Schriftmediums metonymischMetonymie einen LeseaktLese-akt implizieren kann, haben die Ausführungen unter 3.5 gezeigt. Umgekehrt kann man die Formulierung‎ וּכְפִתְחוֹ עָמְדוּ כָל־הָעָם (Neh 8,5Neh 8,5) auch so verstehen, dass sich das Volk tatsächlich beim Öffnen des Buches erhebt – die Übersetzung in der LXXAT/HB/LXX mit dem Aorist ἤνοιξεν zeigt eine solche punktuelle Interpretation des Textes – und die geschilderte rituelle Handlung vor der Verlesung geschieht.

4) Der Text betont mehrfach das VerstehenVerstehen des Gelesenen (Neh 8,2 fNeh 8,2 f.8Neh 8,8.12Neh 8,12); es handelt sich also nicht um ein bloßes RitualRitual/ritualisiert, in dem der Text gleichsam als heiliges Objekt behandelt wird. In dieser Hinsicht ist auch die Gruppe von Beteiligten relevant. In Neh 8,7 fNeh 8,7 f werden 13 Personen namentlich genannt, die sich von den in Neh 8,4Neh 8,4 Genannten unterscheiden, und eine in ihrer Größe nicht näher spezifizierte Gruppe von Leviten. Die 13 Personen und die Leviten erklären dem VolkVolk die ToraTora, und zwar indem sie sie abschnittsweise vorlesen und diese Abschnitte dann so erläutern, dass das Volk verstehen kann. Dabei ist festzustellen, dass Esra hier namentlich nicht noch einmal genannt wird. Dadurch entsteht, auch wenn man das Öffnen des BuchesBuch in Neh 8,5Neh 8,5 nicht so versteht, als sei das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt impliziert, m. E. keine große Spannung im Text, da Esra durchaus als unter den Leviten subsummiert verstanden sein könnte bzw. die LeserLeser ja schon aus der expositorischen, „zusammenfassende[n] Vorwegnahme von Neh 8:4–12Neh 8,4–12“37 in Neh 8,3Neh 8,3 wissen, dass er selbst auch vorliest. Viel entscheidender für die Interpretation des Textes ist dagegen, dass es sich bei den namentlich Genannten gerade nicht um Funktionsträger handelt, sondern um „normale“ Menschen aus dem Volk, die hier nicht nur aus der Tora lesen, sondern selbst in die Rolle des Erklärers schlüpfen. Damit setzt sich der Text von Dtn 31,9–13Dtn 31,9–13 deutlich ab,38 wo Mose die Anweisung gibt, dass die Priester und Leviten alle sieben Jahre beim Laubhüttenfest dem Volk aus der Tora vorlesen sollen.39

Daraus folgt: Der Text stellt das VerstehenVerstehen der ToraTora durch das VolkVolk ins Zentrum und hat den Charakter einer gleichsam ätiologischen Begründung eines „demokratisierten“ Zugangs zur Tora40 und deren immer neuer Lektüre.41 Wie diese Form der Toralektüre und -auslegung jedoch genau aussah, muss sozialgeschichtlichSozialgeschichte offenbleiben (und das gilt analog für die Szene in Neh 8,13 fNeh 8,13 f42). Denn erzählt ist ein retrospektiv konstruierter,43singulärerFrequenzsingulär LeseaktLese-akt,44 der Teil einer umfassenderen „Bundeserneuerung“ nach der Rückkehr aus dem Exil darstellt (vgl. Neh 7,72b–10,40Neh 7,72b–10,40)45 und identitätsstiftend wirkt.46 Es ist nicht belegbar, dass die geschilderten rituellen Elemente eine zur Abfassungszeit existente Form eines „Wortgottesdienst“GottesdienstWort- widerspiegelten, die in die erzählte Welt projiziert worden wäre.47 Dafür fehlen einfach sichere Anhaltspunkte.48 Zum einen sind die geschilderten Elemente in alttestamentlichenAT/HB/LXX Texten analogielos49 und können durchaus dahingehend gelesen werden, dass hier die „Lektüre der Tora als Medium der GottesbegegnungGott, näherhin als Aktualisierung des Sinaigeschehens“50 konzeptualisiert wird; zum anderen wissen wir nichts über die Gestalt eines vermeintlichen „Wortgottesdienstes“ (s. u. 7.4) zum mutmaßlichen Zeitpunkt der Abfassung in hellenistischer Zeit.51 Die These, dass Neh 8Neh 8 eine frühe Form des jüdischenJudentum „Wortgottesdienst“GottesdienstWort- zeige, basiert also auf einer petitio principii.

Lesen in Antike und frühem Christentum

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