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7.2.2 Die Lektüre des Königs – Philons Interpretation von Dtn 17,18 f

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Im viertenKönig Buch seiner Schrift De specialibus legibus findet sich eine aufschlussreiche Auslegung von Dtn 17,18 fDtn 17,8 f. Dort wird der KönigKönig dazu aufgefordert, sich eine AbschriftAbschrift der ToraTora anzufertigen und täglich darin zu lesen (s. o. 7.1.1). Diese Stelle (PhiloPhilon von Alexandria spec. 4,160–167) ist insofern von Relevanz, als davon auszugehen ist, dass Philon zeitgenössische, ihm geläufige Formen von LesepraxisLese-praxis und seine eigenen Erfahrungen in den Text hineinprojiziert. So formuliert auch A. J. Dewey, dass nach Philon die Utopie des PhilosophenPhilosophie-KönigsKönig „becomes realizable by anyone who would truly read and internalize the Jewish laws“;1 d. h. die dargestellte Lesepraxis des Königs dient als Projektionsfläche für die ideale Toralektüre, die Philon für seine LeserLeser vorschwebt. Als geistesgeschichtlicher Kontext für die von Philon beschriebene Lesepraxis können psychagogische Übungen zur „Verinnerlichung […] und bleibende[n] Präsenz der wahren Lehren und Vorstellungen im Bewußtsein […] durch ständige Wiederholung und Übung“2 gelten, die in philosophischen Texten der Kaiserzeit belegt sind, bei Philon mehrfach hindurchscheinen und bei denen u. a. dem SchreibenSchreiben und dem Lesen3 eine wichtige Bedeutung zugekommen ist.4

Zunächst nennt PhilonPhilon von Alexandria als Ziel der Regelung in Dtn 17,8 fDtn 17,8 f, dass sich die Regelungen der ToraTora fest in die ψυχήψυχή des KönigsKönig einprägten (Philo spec. 4,160; vgl. dazu auch oben Philo opif. 6). Dabei begründet Philon eindrücklich, warum der König das griechische BuchBuch Deuteronomium (Ἐπινομίς)5 eigenhändig (αὐτοχειρία) abschreiben6 müsse, folgendermaßen:

„Denn beim Lesen gehen die Gedanken unvermerkt verloren und werden, so wie sie kommen, schon wieder weggerissen (τοῦ μὲν γὰρ ἀναγινώσκοντος ὑπορρεῖ τὰ νοήματα τῇ φορᾷ παρασυρόμενα), beim gemächlichen SchreibenSchreiben dagegen prägen sie sich ein und bleiben haften, da das Denkvermögen/der Verstand (διάνοια) bei jedem Gedanken verweilt (ἐνευκαιρέω), sich selbst stützt (ἐπερείδω) und nicht eher zu einem andern übergeht, als bis er den vorhergehenden sicher erfasst hat (πρὶν ἢ περιδράξασθαι τοῦ προτέρου βεβαίως)“ (PhiloPhilon von Alexandria spec. 4,160; Üb. HEINEMANN, modifiziert JH).

Im Hintergrund dieser Begründung scheint die Erfahrung zu stehen, dass die kognitivekognitiv Aufnahmekapazität beim bloßen Lesen eines Textes relativ gering ist – heute gleichsam ein didaktischer Allgemeinplatz.7 Die Bewegungsmetaphorik (ὑπορρέω – φορά – ὑπορρέω) zeigt, dass PhilonPhilon von Alexandria Lesen als einen kognitiven Verarbeitungsprozess versteht. Beim Lesen kommen Gedanken (τὰ νοήματα), die sich aber nicht festsetzen können, sondern durch das schnelle Fortschreiten des Leseprozesses wieder weggerissen werden.Lese-geschwindigkeit Die Gegenüberstellung zum SchreibenSchreiben zeigt, dass Philon auf individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre rekurriert. Über die Frage des StimmeinsatzesStimmeinsatz macht die Quelle keine Angaben, da der Fokus aber auf der kognitiven Verarbeitung liegt und da insbesondere die kognitiven Aufnahmedefizite im Blick sind, ist es durchaus plausibel, sich eine nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierend Lektüre vorzustellen, die rein über den visuellenvisuell Kanal abläuft.8

Selbst zu schreibenSchreiben, ist dagegen nach PhilonPhilon von Alexandria der kognitivkognitiv geeignetere Weg, um sich einen Text anzueignen. Daraus leitet sich ab, dass Philon im Abschreiben eines Textes eine Form von Textrezeption, gleichsam eine Lektürestrategie sieht, die mit einem ganz bestimmten Ziel verbunden ist; nämlich der Steigerung der BehaltensleistungAuswendiglernen. Damit formuliert Philon wiederum eine Einsicht, die sich auch so in der modernen Didaktik findet, in der die Kombination aus SehenSehen und eigenem Handeln mit einer hohen Behaltensleistung korreliert wird.9 Aufschlussreich ist nun die, wiederum vor allem auf den Bildspendebereich der BewegungBewegung (hier der Wechsel aus Dynamik und Statik) bezogene, Metaphorik, mit der Philon diese Einsicht formuliert. Beim Schreiben kann die διάνοια bei jedem Gedanken verweilen (ἐνευκαιρέω). Die Rolle der διάνοια beim Lesen thematisiert Philon noch an anderer Stelle.10 Weil sie sich selbst stützt (ἐπερείδω), geht (μέτειμι) sie erst zum nächsten Gedanken, wenn der vorhergehende sicher erfasst wurde. Das Schreiben verlangsamt und intensiviertAufmerksamkeitvertieft also den Leseprozess und kontrolliert gleichsam den kognitiven Verarbeitungsprozess. Das schreibende Lesen zielt nach Philon auf ein möglichst vollständigesUmfangvollständig Erfassen des im Text Dargelegten. Dabei kann aber nicht die Langsamkeit eines Abschreibens BuchstabeBuch-stabe für Buchstabe oder Wort für Wort gemeint sein, denn das Erfassen eines Textes bedarf der Erfassung größerer syntaktischer Zusammenhänge. Dass dies auch bei einem SchriftsystemSchrift-system, das scriptio continuaSchriftscriptio continua nutzt, und ohne den Umweg über die Vokalisierung möglich ist, ist oben ausführlich dargelegt worden (vgl. 4). Dass sich außerdem die Bewegungsmetapher für Philon anbietet, um seine Gedanken darzulegen, könnte auch damit zusammenhängen, dass Lesen und Schreiben in der Antike metonymischMetonymie als Bewegung verstanden und konzeptualisiert wurde (s. o. 3.7).

Die von Dtn 17,19Dtn 17,19 vorgeschriebene tägliche Lektüre der selbst geschriebenen ToraTora reformuliert PhilonPhilon von Alexandria sodann in spec. 4,161 mit den beiden gängigsten Verben zur Bezeichnung von LeseaktenLese-akt, ἐντυγχάνω und ἀναγιγνώσκω, wobei ersteres den physischen Kontakt zum LesemediumLese-medium hervorhebt (s. o. 3.4) und letzteres den Leseakt an sich benennt. Ziel dieser täglichen Lektüre sei die kontinuierliche und ununterbrochene ErinnerungErinnerung (μνήμη) an das, was er sich durch das SchreibenSchreiben eingeprägt habe, also der Anordnungen (διατάγματα), die in der Tora zu finden sind. Die tägliche Lektüre unterrichte (διδάσκω) beständig die ψυχήψυχή und gewöhne sie daran, sich mit den heiligen Gesetzen zu beschäftigen; dabei führe die langjährige Praxis zu einer „puren und reinen Liebe nicht nur zu Menschen, sondern auch zu begehrenswerten Arten von Schriften (πρὸς ἰδέας ἀξιεράστους γραμμάτων)“ (Philo spec. 4,161). Philon konzeptualisiert hier das Verhältnis des LesersLeser zu seinem iterativLektüreMehrfach-Frequenziterativ gelesenen, in schriftlicher Form vorliegenden Text als Beziehungsverhältnis, das durch Freundschaft/Liebe geprägt sei. Zudem implizieren die Ausführungen ein mnemotechnischesAuswendiglernen Konzept, das nicht auf der Repetition von Gehörtem basiert – wie z.B. von einigen Vertreterinnen und Vertretern der PerformanzkritikBiblical Performance Criticism gleichsam allgemeingültig angenommen (s. o.) –, sondern auf Konsultation des Lesemediums angewiesen ist.11

Dass ἐντυγχάνω in PhiloPhilon von Alexandria spec. 4,161 die Dimension des physischen Kontakts mit dem LesemediumLese-medium andeutet, zeigen zum einen die Tatsache, dass die selbst geschriebeneSchriftGeschriebenes ToraTora für den HerrscherHerrscher das sein soll, was andere KönigeKönig als Zepter führen (Philo spec. 4,164); zum anderen die Verwendung dieses Verbes in spec. 4,162. Philon begründet hier, warum es besser sei, „wenn der Herrscher nicht die Schrift und Aufzeichnung eines andern liest, sondern was er selbst geschrieben; denn Eigenes ist für jeden leichter zu lesen und bequemer zu erfassen“ (Üb. HEINEMANN). Mit dieser Begründung sagt er deutlich, dass ein selbst geschriebener Text visuellvisuell besser lesbarLesbarkeit ist, wodurch das im Text Niedergeschriebene kognitivkognitiv besser erfasst werden kann. Der Gesamtzusammenhang impliziert zudem, dass der LeserLeser mit seinem eigenhändig geschriebenen Text eine andere emotionale Verbindung aufbauen kann, was wiederum dem Leseprozess und der BehaltensleistungAuswendiglernen zuträglich erscheint.

Zuletzt formuliert PhilonPhilon von Alexandria, der HerrscherHerrscher solle, während er liest (ἀναγιγνώσκω), zur gleichen Zeit bestimmte Überlegungen (λογισμός)12 im Kopf anstellen (Philo spec. 4,163). Er fordert ihn also gleichsam zu einer durchaus anspruchsvollen metakognitivenmetakognitiv Reflexion des Leseprozesses auf. Dies zeigt erneut, dass auch bei antiken, in scriptio continuaSchriftscriptio continua geschriebenen Texten komplexe kognitivekognitiv Prozesse während des Lesens möglich gewesen sind. Es erscheint mir zudem plausibler anzunehmen, dass die hier vorausgesetzten metakognitiven Prozesse bei der nicht-vokalisierendenStimmeinsatznicht-vokalisierend Lektüre, die ja für die Antike ohnehin breit bezeugt ist (s. o. passim), besser realisierbar gewesen sein muss, als sich zusätzlich auf den Einsatz der Stimmerzeugungsorgane zu konzentrieren.

Lesen in Antike und frühem Christentum

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