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7.1.3 Lesepraktiken in der Henochliteratur

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TrotzLese-praxis der fragmentarischen Überlieferung finden sich im äthiopischen Henochbuch einige, für die Fragestellung dieser Studie relevante Stellen. Da das BuchBuch allerdings in kompletter Form nur in äthiopischer Übersetzung einer griechischen Übersetzung aus dem Hebräischen oder Aramäischen (ca. 500 n. Chr.) erhalten ist,1 stehen einige der Überlegungen im Folgenden notwendigerweise unter dem methodischen Vorbehalt der Grenzen der Rückübersetzbarkeit.

Im BuchBuch der Wächter, das auf das 3. Jh. v. Chr. zurückgeht,2 ist eine Passage im Griechischen erhalten, in der die gefallenen Wächter (vgl. äthHen 12,4–6äthHen 12,4–6) Henoch bitten, eine Bittschrift (ὑπόμνημα τῆς ἐρωτήσεως) für sie zu schreibenSchreiben, die dieser vor (ἐνώπιον) GottGott vorlesen (ἀναγινώσκωἀναγιγνώσκω)3 möge (äthHen 13,4äthHen 13,4). Henoch kommt dieser Bitte nach und verfasst die Bittschrift (äthHen 13,6äthHen 13,6äthHen 13,7).

13,7 a Und ich ging hin und setzte mich (καθίζω) an die Wasser Dan im [Lande] Dan,
b welches rechts [südlich] von der Westseite des Hermon liegt,
c und las ihre Bittschrift (ἀνεγίγνωσκονἀναγιγνώσκω τὸ ὑπόμνημα τῶν δεήσεων αὐτῶν), bis ich einschlief. (Üb. FLEMMING/RADEMACHER)

Henoch liest die Bittschrift nicht etwa im Himmel, sondern an einem Platz auf der Erde – an einem Fluss. Der Kontext impliziert, dass diese LeseszeneLese-szene, auch wenn der AdressatAdressat des Lesens nicht noch einmal explizit genannt wird, das in äthHen 13,4 gemeinte VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt vor GottGott meint, ἀναγινώσκωἀναγιγνώσκω hier also im Sinne von einer anderen Person vorlesen verwendet wird. Allerdings wird das Vorlesen vor Gott in einem Modus präsentiert, der nicht dem kulturell erwartbaren Kontext eines Vorlesens einer Petition vor einem HerrscherHerrscher entspricht, sondern eher einem individuell-direkteLektüreindividuell-direktn LeseaktLese-akt. Henoch sitztHaltungsitzen (eine häufig bezeugte LesehaltungLese-haltung (s. auch Haltung); s. o. 6.2) draußen in der NaturNatur an einem Fluss und liest die Bittschrift, wobei deutlich wird, dass die Kommunikation nicht direkt im Angesicht Gottes stattfindet, sondern dass er allein ist. Auch wenn es sich um eine fiktive Szene handelt, so kann man davon ausgehen, dass kulturell geprägte Lesererfahrungen in die Darstellung eingeflossen sind, möglicherweise sogar Formen individuell-religiöser LektüreerfahrungLektüre-erfahrung, die als Kommunikation mit Gott verstanden wurden.

Nur im Äthiopischen erhalten ist eine LeseszeneLese-szene in einer frühen Hinzufügung zum Astronomischen BuchBuch, das ebenfalls auf das 3. Jh. zurückgeht,4 in der Lesen eindeutig mit der visuellenvisuell Wahrnehmung verknüpft wird.

81,1 aäthHen 81,1 Betrachte *(חזה/ὁράωὁράω/θεάομαι)5, o Henoch, diese himmlischen TafelnTafel/Täfelchen *(לוּח/πλάκας)6
b und lies *(קרא/ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω)7, was darauf geschriebenSchriftGeschriebenes ist,
c und merke dir alles einzelne (Üb. FLEMMING/RADEMACHER).

Der Engel Uriel fordert Henoch auf, TafelnTafel/Täfelchen als Vorbereitung für das bevorstehende GerichtGericht (äthHen 79,8äthHen 79,8; 81,4äthHen 81,4) zu lesen und sich alles zu merken, was Henoch dann auch tut:

81,2äthHen 81,2 a Und ich betrachtete die himmlischen TafelnTafel/Täfelchen,
b und las alles, was darauf geschriebenSchriftGeschriebenes war, Auswendiglernen
c und merkte mir alles
d und las das BuchBuch aller Werke der Menschen und aller Fleischgeborenen
auf Erden bis in die fernsten Geschlechter (Üb. FLEMMING/RADEMACHER).

Bei den himmlischen TafelnTafel/Täfelchen handelt es sich um ein traditionsgeschichtlichTradition bekanntes weit verbreitetes literarisches Motiv, das schon für sumerische Texte belegt ist8 und sich variantenreich in der frühjüdischen Literatur9 sowie im NT10 findet. Eine Besonderheit des äthHen ist nun aber die große Rolle, die es in der Erzählung einnimmt und die Ausführlichkeit, mit der dessen Rezeption durch Henoch beschrieben wird. Vor dem Hintergrund des Konzepts, dass schriftlich Fixiertes fest steht (insbesondere in Form von InschriftenInschriften, s. u.), dokumentieren die Tafeln im äthHen die Unausweichlichkeit des GerichtsGericht. Da die von himmlischen Wesen geschriebenen Tafeln die Taten der Menschen sowie die Namen von Rechtschaffenden und Sündern enthalten, mussten sich die antiken RezipientenRezipient eine große Textmenge vorstellen, die Henoch hier zu lesen hatte.11 Auch wenn es sich um fiktive Tafeln und um eine literarisch gestaltete LeseszeneLese-szene im Kontext eines apokalyptischen Textes handelt, so ist auch hier davon auszugehen, dass die Erfahrung realer Medialität und konkreter LesepraxisLese-praxis in die Darstellung eingeflossen sind.

Es handelt sich hier eindeutig um eine Szene individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Lektüre der TafelnTafel/Täfelchen mit dem Ziel der Informationsentnahme, auf die Henoch noch mehrfach im folgenden Erzählverlauf zu sprechen kommt (äthHen 93,1 fäthHen 93,1 f; 103,2 fäthHen 103,2 f; 106,19–107,1äthHen 106,19–107,1). Da für diese Stellen der Text auch fragmentarisch im Griechischen und Aramäischen bezeugt ist, sind genauere Aussagen über die verwendete Terminologie möglich.12 Als LesemediumLese-medium sind wohl InschriftenInschriften in Stein vorauszusetzen, worauf die Verwendung des Lexems לוּח/πλάξ hindeutet.13 Das Motiv des Sehens der Tafeln (äthHen 81,1aäthHen 81,1 f/81,2a) zeigt, dass das Lesen hier primär mit der visuellenvisuell Wahrnehmung verknüpft wird, was für Inschriften vielfach in den Quellen bezeugt ist (s. o. 3.8). Freilich sind die Verben visueller Wahrnehmung in Visionserzählungen apokalyptischer Literatur semantisch reichhaltiger als in Bezug auf die Wahrnehmung von Inschriften, da sie der literarischen Darstellung der Visionsinhalte dienen.14 Dennoch ist die Wahl in Bezug auf Texte aufschlussreich. Denn im Lichte der traditionellen Annahme der engen Verbindung von antiken Texten mit dem gesprochenen Wort hätte man die Wahl eines Verbs der akustischen Wahrnehmung erwarten können – die auditiveauditiv Anschaulichkeit ist in Visionserzählungen der apokalyptischen Literatur nicht minder wichtig.15 In äthHen 106,19–107,1äthHen 106,19–107,1 wird die Verknüpfung des Lesens mit der visuellen Wahrnehmung dann noch deutlicher hervorgehoben, wenn Henoch (auf äthHen 81,2 rückverweisend) formuliert:

106,19 a denn ich kenne die Geheimnisse der Heiligen,
b weil er, der Herr, sie mir gezeigt und kundgetan hat,
c und ich (sie) auf den himmlischen TafelnTafel/Täfelchen gelesen habe.
107,1 a Und ich sahSehen darauf geschriebenSchriftGeschriebenes (וחזית כתיב בהן/τεθέαμαι τὰ ἐγγεγραμμένα ἐπ᾽ αὐτῶν),16
b dass Geschlecht für Geschlecht freveln wird,
c bis ein gerechtes Geschlecht aufsteht
d und der Frevel ausgetilgt wird,
e und die Sünde von der Erde verschwindet
f und alles Gute auf ihr (hervor)kommen wird. (Üb. FLEMMING/RADEMACHER)

Als Einleitungsformel (äthHen 107,1a) für die Zusammenfassung des Inhalts des Gelesenen wird hier explizit formuliert, dass etwas GeschriebenesSchriftGeschriebenes gesehen wurde, wodurch m. E. ausgeschlossen ist, dass sich das SehenSehen hier im äthHen lediglich auf die innere Repräsentation des Inhalts des Gelesenen bezieht. Zudem wird deutlich, dass das „Merken“ (an dieser Stelle lässt sich das Aramäische und Griechische nicht aus anderen Stellen erschließen) in äthHen 81,1cäthHen 81,1 f und 81,2c vermutlich nicht ein wortwörtliches AuswendiglernenAuswendiglernen meint, sondern sich auf ein inhaltsbezogenes LernenLernen bezieht.17

Es bleibt festzuhalten: Das äthiopische Henochbuch reflektiert einerseits das Konzept individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Lektüre im SitzenHaltungsitzen draußen in der NaturNatur und andererseits eine primär auf Rezeption, Verständnis und Merken des Inhalts ausgerichtete Form visuellvisuell orientierter Lektüre.

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