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7.1.2 הגה und individuell-direkte Lektüre im AT

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Individuell-direkteAT/HB/LXX LektüreLektüreindividuell-direkt kann im biblischen Hebräisch auch durch die Verwendung des Verbes הגה angezeigt werden. Diesbezüglich ist zunächst die Verwendung in Jos 1,8Jos 1,8 zu diskutieren; ein Vers, der üblicherweise als Teil eines Nachtrages durch die deuteronomistische RedaktionRedaktion/redaktionell interpretiert wird.1 JHWH fordert Josua hier zur täglichen Beschäftigung mit der ToraTora auf.

1 Nicht weichen soll dieses BuchBuch der Weisung aus Deinem Mund

2 und Du sollst murmeln darin/darüber (‎וְהָגִיתָ בּוֹ; LXXAT/HB/LXX: καὶ μελετήσεις ἐν αὐτῷ; Vul: sed meditaberis in eo) Tag und Nacht (יוֹמָם וָלַ֔יְלָה),

3 damit Du beachtest und tust alles, was darin geschriebenSchriftGeschriebenes steht.

Zunächst ist zu diskutieren, ob es sich hier um eine Aufforderung zum Lesen handelt, also dass das von JHWH Geforderte die Einsicht von Schriftrollen erfordert, oder ob es darum geht, schon bekannte und auswendiggelernte Verse zu meditieren, was einige moderne Übersetzungen voraussetzen, wenn sie die Formulierungen „(nach)sinnen über“2 oder to mediate on3 wählen. Die MetapherMetapher, das BuchBuch der Weisungen im Mund zu haben (Jos 1,8aJos 1,8), besagt zunächst, dass Josua Worte der ToraTora mit dem Stimmerzeugungsapparat realisieren soll. Das Verb הגה (Jos 1,8bJos 1,8) spezifiziert den Vorgang insofern, als seine Semantik vor allem mit nicht voll artikulierten Lauten konnotiert ist;4 also ein hörbarerLautstärkehörbar StimmeinsatzStimmeinsatz impliziert ist, bei dem Außenstehende aber nicht unbedingt wahrnehmen können, was genau stimmlich realisiert wird. Mit den eingangs eingeführten Kategorien kann dies treffend als Subvokalisierung beschrieben werden.5

N. Lohfink und G. Fischer leiten aus Dtn 6,6–9Dtn 6,6–9 und 11,18–21Dtn 11,18–21 ab, dass Jos 1,8Jos 1,8 die Praxis der täglichen RezitationRezitation und MeditationMeditation auswendiggelernterAuswendiglernen Toratexte in den Blick nimmt.6 Diese Texte seien, wie K. Finsterbusch in ihrer Habilitationsschrift ausführlich ausführt, nicht durch eigene Lektüre angeeignet worden, sondern durch ein Lehr-/Lernkonzept, das durch VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt und Nachsprechen gekennzeichnet ist.7 Dementsprechend deutet sie den Verweis auf den Mund in Dtn 30,14Dtn 30,14 als Verweis auf genau diesen Akt des Auswendiglernens durch Nachsprechen:8 Die mosaische PromulgationPromulgation und mündliche LehreLehre der ToraTora an die Wüstengeneration reflektiere eine solche Lernpraxis zur Abfassungszeit des Textes; Josua hätte in dieser Perspektive dann die Texte schon auswendig gekonnt und wäre nicht auf die Einsicht des Schriftmediums angewiesen gewesen, um die Tora täglich zu murmeln. Am Rand sei angemerkt, dass die LXXAT/HB/LXX in Dtn 30,14Dtn 30,14 ἐν ταῖς χερσίν σου liest und damit, wie 4QDeutb zeigt,9 eine schon in der Überlieferung des hebräischen Textes entstandene Lesart bezeugt, bei der gleichsam als proleptischer Verweis auf Dtn 31,9Dtn 31,9 schon hier die Vorstellung der schriftlichen Verfasstheit der Tora evoziert wird bzw. eine andere Lern- und Studiensituation in den Text eingetragen ist.

Aus den folgenden Gründen ist es aber auch möglich, dass Jos 1,8Jos 1,8 nicht die Rezitationspraxis auswendiggelernterAuswendiglernen ToratexteTora reflektiert, sondern in textpragmatischer Perspektive zur Zeit der Textentstehung einen anderen Modus der Aneignung: die studierendeStudium Lektüre des Textes, die auf das Medium der BuchrolleRolle (scroll) gestützt ist.

1) Jos 1,8cJos 1,8 weist explizit auf den schriftlichen Charakter dessen hin, was gemurmelt werden soll.

2) Auch im näheren Kontext wird in einer synchronen Perspektive auf den literarischen Zusammenhang zum BuchBuch Deuteronomium der schriftliche Charakter von סֵפֶר הַתּוֹרָה explizit hervorgehoben (vgl. Dtn 31,9Dtn 31,9.24Dtn 31,24.26Dtn 31,26), wobei Dtn 31,26 fDtn 31,26 f m.E. zeigt, dass die verschriftliche Form der ToraTora nicht nur für die zukünftigen Generationen, sondern auch schon für die Wüstengeneration eine Relevanz hat. Dabei ist es zudem in diachroner Perspektive durchaus möglich, dass die genannten Stellen in Dtn 31Dtn 31 und Jos 1,8Jos 1,8 (und andere Verse in Jos 1Jos 1) auf eine Ebene der deuteronomistischen RedaktionRedaktion/redaktionell gehören,10 wobei hier angesichts des kontroversen Forschungsstandes zu den redaktionskritischen Fragen in Bezug auf Jos 1Jos 1 und um Modelle zur Beschreibung der Wachstumsgeschichte des deuteronomistischen Geschichtswerkes insgesamt im Rahmen der hier verhandelten Frage kein abschließendes Urteil gebildet werden kann.11

3) Jos 1,8Jos 1,8 richtet sich explizit an Josua, also an eine Führungsfigur, sodass eine Parallelität zu den auf das gesamte VolkVolk bezogenen Aussagen in Dtn 6,6–9Dtn 6,6–9 und 11,18–21Dtn 11,18–21 – wie von N. Lohfink und G. Fischer gesehen (s. o.) –, nur schwerlich postuliert werden kann. Wie von den beiden richtig gesehen, können LeserLeser in synchroner Perspektive eine Verknüpfung zum KönigsgesetzKönig in Dtn 17,14–20Dtn 17,14–20 ziehen, da Josua „als Nachfolger Moses und im Vorblick auf Joschija […] zweifellos eine Art vorlaufende Königsgestalt“ ist.12 Allerdings spricht doch gerade Dtn 17,18 fDtn 17,8 f dafür, dass die Idee einer Beschäftigung der Führungsperson mit der ToraTora nicht eine MeditationMeditation auswendiggelernterAuswendiglernen Texte voraussetzt, sondern die Einsicht einer BuchrolleRolle (scroll).13

4) Auch die Verwendung der Präposition בְּ, der hier die Funktion der Lokalisation zukommt,14 fügt sich in eine solche Interpretation: So wird בְּ auch an anderer Stelle zur Anzeige des LesemediumsLese-medium verwendet (vgl. Dtn 17,19Dtn 17,19[!]; Neh 8,3Neh 8,3[!].8Neh 8,8.14Neh 8,14[!]; 9,3Neh 9,3; 13,1Neh 13,1; 2Chr 34,182Chr 34,18; Jer 36,6Jer 36,6.8Jer 36,8.14Jer 36,14)15 bzw. bezeichnet, dass etwas in/auf etwas geschriebenSchriftGeschriebenes ist (vgl. aus der Vielzahl der Belege z.B. Ex 17,14Ex 17,14; Num 5,23Num 5,23; 1Kön 2,31Kön 2,3; 2Chr 13,222Chr 13,22; Neh 6,6Neh 6,6; 10,35Neh 10,35; Ps 40,8Ps 40,8; Dan 9,11Dan 9,11.13Dan 9,13; vgl. außerdem die Formulierung „es ist gesagt in dem BuchBuch“ in Num 21,14Num 21,14). Entsprechend übersetzen in Jos 1,8Jos 1,8 die ZB2007 die Präposition mit einem lokalen Sinn („du sollst sinnen über ihm“), die BigS macht ein Objekt daraus („murmle es [scil. das Buch]“), die verschiedenen Ausgaben der Lutherbibel verwenden ein Verb der visuellenvisuell Wahrnehmung („betrachte es“) und die Übersetzung von F. E. Schlachter übersetzt frei: „forsche darin“. Diese Übersetzungen setzen damit alle voraus, dass die hebräische Formulierung in Jos 1,8Jos 1,8 eine Konsultation des Schriftmediums impliziert, wobei allerdings sowohl in der Lutherbibel als auch in der Übersetzung von Schlachter die Assoziation des StimmeinsatzesStimmeinsatz verloren geht. Um diese Konnotation deutlich zu machen, ist hier in Anknüpfung an die Wendung „lesen in etwas“ die (im Deutschen zwar ungewöhnliche) Formulierung „darin murmeln“ gewählt worden.16 Der MerismusMerismus יוֹמָם וָל֔יְלָה und die Verben שׁמר und עשׂה verweisen sodann auf eine gewisse Parallelität zur LeseszeneLese-szene in Dtn 17,19Dtn 17,19, wo mit der Zeitangabe כָּל־יְמֵי חַיָּיו ein ähnlicher Zeithorizont im Blick ist, wo ebenfalls die beiden Verben vorkommen und wo es eindeutig um individuell-direkteLektüreindividuell-direkts Lesen mit dem Medium RolleRolle (scroll) in der Hand geht. Diese Interpretation wird ferner durch Belegstellen unterstützt, an denen μελετάω im Sinne eines mediengestützten Studierens verwendet wird,17 sowie durch die lateinische Übersetzung von הגה/μελετάω, und zwar insofern, als wir aus einem BriefBrief von SidoniusSidonius Apollinaris Apollinaris18 wissen, dass der mit meditor beschriebene Vorgang eine Beleuchtung mit Kerzen und Leuchtern erforderlich machte, also durchaus an ein Schriftmedium zurückgebunden sein konnte.

Jos 1,8Jos 1,8 kann also als Hinweis auf eine individuell-direkteLektüreindividuell-direkt, subvokalisierendeStimmeinsatzsubvokalisierend Studienlektüre der ToraTora zum Zwecke des LernensLernen gelesen werden, die historisch zurückprojiziert wird. Josua wird damit redaktionellRedaktion/redaktionell als normativer ModellleserModellleser figuriert, an dem sich die LeserLeser des Textes orientieren sollen.19 Jos 1,8Jos 1,8 hat eine gewisse Ähnlichkeit zur Forderung HorazHoraz, man solle die griechischen Vorbilder bei Tag und bei Nacht drehen (Hor. ars. 268f; s. o. S. 175), also sich intensivAufmerksamkeitvertieft durch individuell-direkte Lektüre aneignen. Der Unterschied liegt allerdings darin, dass das vorgesehene StudiumStudium der Tora eine iterativeLektüreMehrfach-Frequenziterativ Lektüre eines eng umgrenzten Textumfangs voraussetzt (klassischerweise als intensive Lektüre bezeichnet) und die griechischen Vorbilder bei Horaz einen viel größeren KorpusKorpus an Texten voraussetzen, wobei nicht sicher gesagt werden kann, wie oft die jeweiligen Einzeltexte konsultiert werden sollen. Zudem ist das Ziel der Lektüre leicht anders gelagert, Horaz geht es um die Verbesserung der poetischen Ausdruckskraft – also um ein ästhetischesästhetischer Genuss/Vergnügen Studienziel –, während die Lektüre der Tora ein die Ethik betreffendes Studienziel adressiertAdressat. Dass es sich bei der Aufforderung im Hinblick auf „Josua als politischen Verantwortungsträger“ um einen normativ-utopischen Anspruch (des kontinuierlichen Tora-Studiums durch eine Leitungsperson) handelt,20 ist im Hinblick auf die Fragestellung der Studie irrelevant, da das herausgearbeitete Lesekonzept, das eine – redaktionell eingetragene – Projektion darstellt, also vom Text für die Zeit der Redaktion historisch bezeugt wird.

Es gibt noch weitere Belegstellen von הגה, an denen ein solches LektürekonzeptLektüre-konzept noch eindeutiger vorauszusetzen ist. So wird das Verb in Ps 1,2Ps 1,2 ebenfalls im Blick auf die ToraTora verwendet: Selig ist derjenige, der nicht …, sondern der Freude an der Tora hat und in der Tora murmelt (וּבְתוֹרָתוֹ יֶהְגֶּה) am Tag und in der Nacht“ (Ps 1,1 fPs 1,1 f). Die Formulierung gleicht derjenigen in Jos 1,8Jos 1,8 (הגה + בְּ + Tora + Tag und Nacht) und viele moderne deutsche Übersetzungen interpretieren die Formulierung als individuell-direkteLektüreindividuell-direktn LeseaktLese-akt.21 Die ebenfalls zu findende Übersetzung mit „(nach)sinnen über“22 und mit to mediate on23 verschleiert dagegen die mögliche Assoziation eines individuell-direkten Leseaktes, die der hebräische Text erlaubt.24 Die Deutung von Jos 1,8Jos 1,8 als Verweis auf individuell-direkte Lektüre findet eine rezeptionsgeschichtliche Bestätigung. So formuliert HieronymusHieronymus in seinen Excerpta de Psalterio, die „MeditationMeditation des Gesetz GottesGott besteht nicht nur im Lesen der Schrift (in legendislego scripturisscriptura), sondern auch im Ausüben dessen, was geschriebenSchriftGeschriebenes ist“ (Hier. com. in Psal. 2,2). Auch TestLev 13,2 f, wo zum Unterrichten der Kinder aufgefordert wird, damit sie durch das beständige Lesen der Tora (ἀναγινώσκοντεςἀναγιγνώσκω ἀδιαλείπτως τὸν νόμον τοῦ θεοῦ) zu Verständnis gelangen können, reflektiert das Ideal eines dauerhaften (individuell-direkten) Studiums der Tora im Sinne von Jos 1,8Jos 1,8 und Ps 1,2Ps 1,2. Regelmäßiges Lesen – allerdings ohne direkten Bezug auf die genannten Stellen und ausgedrückt mit der aus der griechisch-römischen Welt bekannten Konzept des haptischen Umgangs mit dem LesemediumLese-medium – ist ferner auch in 1Makk 12,91Makk 12,9 im Blick: die heiligen BücherBuchHeilige Schrift(en) in den Händen zu halten, d. h. zu lesen, spendet Trost (παράκλησις).

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