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7.2.3 Individuell-direkte Lektüre der Therapeuten vs. communal reading

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Einencommunal reading ungewöhnlichTherapeuten tiefen Einblick in die LesepraxisLese-praxis einer spezifischen Gruppe bietet Philons Beschreibung der TherapeutenTherapeuten in seiner Schrift De vita contemplativa,1 die in der Forschung in den letzten Jahren v. a. wegen der Darstellung ihrer Mahlpraxis untersucht wurde.2 Zwei umfangreiche Abschnitte sind hier von Relevanz (PhiloPhilon von Alexandria cont. 27–37; 75–89), an denen Philon die tägliche Praxis und das GemeinschaftsmahlGemeinschaftsmahl der Therapeuten detailreich charakterisiert und die im Folgenden nacheinander näher zu betrachten sind.

Die Ausführungen im ersten der beiden genannten Abschnitte (cont. 27–37) gliedert PhilonPhilon von Alexandria zeitlich und thematisch:

 Die Paragraphen cont. 27–30(a) enthalten die Beschreibung der Aktivitäten der einzelnen Mitglieder an sechs Wochentagen, die jeweils durch zwei Gebete am Morgen und Abend gerahmt sind (PhiloPhilon von Alexandria cont. 27).

 Die Paragraphen cont. 30–34(b) behandeln das gemeinschaftliche Zusammenkommen (συνέρχονται καθάπερ εἰς κοινὸν σύλλογον; PhiloPhilon von Alexandria cont. 30) am siebten Tag der Woche, bei dem ein Vortrag vom Ältesten und Kundigsten gehalten wird (cont. 31); in den Paragraphen cont. 32f beschreibt Philon den Versammlungsraum, den er als Heiligtum (κοινὸν σεμνεῖον) charakterisiert.

 In den Paragraphen cont. 34–37 finden sich Ausführungen zur Essenspraxis der TherapeutenTherapeuten, wobei – wiederum entlang der Unterscheidung Individuum vs. Gruppe – die asketische Praxis der einzelnen Mitglieder an sechs Tagen der Woche (cont. 33–35) dem GemeinschaftsmahlGemeinschaftsmahl am siebten Tag der Woche (cont. 36f) gegenübergestellt wird.

Der zweite Abschnitt (75–89) beschreibt den Ablauf eines besonderen GemeinschaftsmahlsGemeinschaftsmahl der TherapeutenTherapeuten, das sie an jedem siebten SabbatSabbat begehen.3

 Vor dem eigentlichen Essen4 gibt es einen Vortragsteil, den PhilonPhilon von Alexandria in den Paragraphen cont. 75–79 beschreibt. Er charakterisiert den Vortrag als LehreLehre (διδασκαλία) der Symposiasten (συμπόται), die sich schon zum MahlGemeinschaftsmahl niedergelegt haben (vgl. κατακλίνω in cont. 75), und zwar durch den Vorsitzenden (πρόεδρος). Mehrfach betont Philon dabei das Schweigen und die besondere Aufmerksamkeit der ZuhörerHörer (vgl. cont. 75.77).

 Das MahlGemeinschaftsmahl (δεῖπνον) selbst schildert PhilonPhilon von Alexandria in den Paragraphen cont. 79–82, das durch Hymnengesang (eine Analogie zu dem auch sonst für antike Mähler bezeugten Skoliengesang)5 eingeleitet wird; danach werden die Speisen auf einem Tisch hereingebracht, das Essen selbst wird nicht explizit geschildert.

 Nach dem MahlGemeinschaftsmahl (μετὰ τὸ δεῖπνον) folgt das in den Paragraphen cont. 83–89 beschriebene SymposionSymposion, das PhilonPhilon von Alexandria als „heilige Nachtfeier“ (ἱερὰ παννυχίς) bezeichnet, bei der gesungen, aber nicht gelesen wird.

Die Ausführungen Philons sind nun insofern aufschlussreich in Bezug auf die Fragestellung der Studie, als sie gegen die Forschungsmeinung, dass in der Antike vor allem kollektiv gelesen wurde (communal readingcommunal readings), genau auf das Gegenteil hindeuten. Denn die TherapeutenTherapeuten lesen die heiligen SchriftHeilige Schrift(en)en (ἐντυγχάνοντες γὰρ τοῖς ἱεροῖς γράμμασι; PhiloPhilon von Alexandria cont. 28) an den sechs Tagen der Woche, an denen jeder für sich in sogenannten Monasterien6 bleibt (τὰς μὲν οὖν ἓξ ἡμέρας χωρὶς ἕκαστοι μονούμενοι παρ᾽ ἑαυτοῖς ἐν τοῖς λεχθεῖσι μοναστηρίοις; Philo cont. 30).7 Die Darstellung von Philo cont. 30f lässt nicht erkennen, dass sie im Rahmen ihrer Versammlung am siebten Tag gemeinschaftlich gelesen hätten; vielmehr hält der Älteste und Kundigste eine RedeRede (διαλέγω), die sich im Stil von der RhetorikRhetorik der Zeit absetzt und sich durch besondere Ruhe, Vernunft, Überlegung und Genauigkeit auszeichnet (Philo cont. 30f).

Ausführlichere Einblicke in die Redepraxis im Rahmen der Versammlung beim Symposium an jedem siebten SabbatSabbat, die M. R. Niehoff als strikt hierarchisch strukturiertes sympotisches Tischgespräch wertet, für das sich Analogien im römischen conviviumGemeinschaftsmahl finden,8 erhalten die LeserLeser Philons in cont. 75–79. Hier wird deutlich, dass die „Heiligen Schriften“ Gegenstand dieser Redepraxis sind. M. D. Larsen meint daher, ohne dies näher am Text zu begründen, dass hier eine Form gemeinschaftlicher, performativer Lektüre biblischer Schriften vorauszusetzen ist.9 Doch lässt sich dies am Text halten? Die Formulierung, die zur Diskussion steht, ist die folgende:

„Er [i. e. der Vorsitzende]10 untersucht etwas in den Heiligen Schriften (ζητεῖ τι τῶν ἐν τοῖς ἱεροῖς γράμμασιν) oder er erläutert etwas, das von jemandem anders vorgegeben wurde“ (PhiloPhilon von Alexandria cont. 75).

Anders als einige Stellen, an denen ζητέω als LeseterminusLese-terminus gebraucht wird und die Konsultation des Schriftmediums voraussetzt (s.o. 3.6), impliziert die Formulierung „etwas (τι) in den Heiligen Schriften“ untersuchen nicht zwingend, dass der Vorsitzende die allegorisch auszulegenden11 Textpassage auch vorliest. Es ist genauso möglich, dass er auf die Kenntnis der betreffenden Stelle bei seinen Zuhörern setzt, die ja den Rest der Woche darin lesen (s. o.), er die Stelle frei aus dem GedächtnisGedächtnis rezitiert oder mit einigen zusammenfassenden Hinweisen auskommt. In jedem Fall implizieren der Kontext und vor allem der alternativ genannte Vortragsgegenstand, nämlich ein Problem, das von jemandem der Anwesenden aufgeworfen wird, dass der Hauptfokus auf den eigenen Ausführungen des Vortragenden liegt. Es handelt sich nicht um eine Szene performativer Lektüre mit dem Ziel kollektiver Textrezeption, sondern um eine Lehrszene (διδασκαλία) – wenn der Gegenstand des Vortrages ein Problem aus den heiligen SchriftHeilige Schrift(en)en ist, um eine exegetischeExegese Lehrszene –, bei der das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt, wenn überhaupt, eine SupplementfunktionSupplementfunktion hatte. Die Reaktion des Publikums, das ausschließlich mit der Mimik auf den Vortragenden respondiert (PhiloPhilon von Alexandria cont. 77), am Ende aber die Stille aufgibt und Beifall spendet (Philo cont. 79), bezieht sich nicht auf einen Vorleseakt, sondern auf die Inhalte des Vortrags; insofern ist es methodisch nicht gestattet, diese Quelle in eine vermeintliche performative LesekulturLese-kultur der Antike einzuzeichnen.12

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