Читать книгу Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe) - Jean-Jacques Rousseau - Страница 122

Achtzehnter Brief.
Julie an ihren Freund.

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Inhaltsverzeichnis

So lange habe ich Ihnen alle Geheimnisse meines Herzens anvertraut, daß es sich von der süßen Gewohnheit nicht mehr losmachen kann. In dem wichtigsten Falle meines Lebens will es sich gegen Sie ausschütten: öffnen Sie ihm das Ihrige, mein liebenswürdiger Freund; sammeln Sie in Ihren Busen die langen Reden der Freundschaft: wenn sie je zuweilen den Freund, der spricht, weitschweifig macht, so macht sie dafür immer den Freund, der hört, geduldig.

Durch ein unauflösliches Band an das Schicksal eines Gatten oder vielmehr an den Willen eines Vaters gefesselt, trete ich in eine neue Laufbahn, die nur mit dem Tode enden soll. Bei ihrem Beginne lassen Sie uns einen Blick auf diejenige werfen, aus der ich trete; es wird ja nicht peinlich sein, uns eine so liebe Zeit zurückzurufen; vielleicht finde ich dabei Lehren, die ich mir für die Folge merken kann, Sie vielleicht Aufklärung über Manches, was Ihnen in meinem Betragen dunkel geblieben. Wenigstens werden unsere Herzen, indem wir betrachten, was wir einander waren, nur umso besser fühlen, was sie einander bis an's Ende unserer Tage schuldig sind.

Es ist ungefähr sechs Jahre her, als ich Sie zum ersten Male sah: Sie waren jung, wohlgebildet, liebenswürdig. Andere junge Leute haben mir schöner und stattlicher geschienen; keiner hat mich in die geringste Aufregung versetzt, und mein Herz gehörte Ihnen vom ersten Augenblicke an [Herr Richardson spottet viel über solche Zuneigungen, die beim ersten Sehen entstehen und auf unerklärlichen Seelenverwandtschaften beruhen. Es ist recht gut und schön, daß er darüber spottet, aber da es nun doch solche Zuneigungen nur zu häufig giebt, wäre es nicht besser, anstatt sich mit Leugnen derselben ein Spiel zu machen, lieber die Mittel zu lehren, wie man ihrer Herr werden kann?]. Ich glaubte, auf Ihrem Gesichte eine Seele abgeprägt zu sehen, wie sie der »einigen noth that. Es schien mir, daß meine Sinne edleren Gefühlskräften nur zum Organe dienten, und ich liebte an Ihnen weniger, was ich sah, als was ich in mir selbst zu fühlen glaubte. Es sind noch nicht zwei Monate, da glaubte ich noch, mich nicht getäuscht zu haben: die blinde Liebe, sagte ich mir, hatte Recht; wir waren für einander geschaffen; ich würde ihm gehören, wenn die menschliche Ordnung nicht die natürlichen Bezüge verstörte, und wenn es Menschen irgend vergönnt wäre, glücklich zu sein, so hätten wir es mit einander sein müssen.

Unsere Gefühle waren uns gemein; sie würden mich irre gemacht haben, wenn ich sie allein gespürt hätte. Die Liebe, welche ich kennen gelernt habe, kann uur aus einem Passen für einander und aus Seelenübereinstimmung entstehen. Man liebt nicht, wenn man nicht geliebt wird, wenigstens nicht lange. Die unerwiederten Leidenschaften, durch welche, wie man sagt, so Viele unglücklich werden, gründen sich nur auf die Sinnlichkeit; wenn manche bis in die Seele eindringen, so geschieht es durch falsche Zusammenhänge, und man muß sich bald enttäuscht finden. Die sinnliche Liebe kann des Besitzes nicht entrathen, und erlöscht, wenn er erlangt ist. Die wahre Liebe kann des Herzens nicht entrathen, und dauert so lange als die Herzensbezüge, aus denen sie entstanden ist [Wenn diese Bezüge eingebildete sind, so dauert sie so lange, als die Täuschung, welche uns dieselben vorspiegelt]. So war die unsrige anfangs; so wird sie, hoffe ich, bis an unser Lebensende bleiben, sobald wir sie besser geregelt haben werden. Ich sah, ich fühlte, daß ich geliebt wurde, und daß es so sein mußte: der Mund war stumm, der Blick war befangen, aber das Herz machte sich verständlich. Wir erfuhren bald zwischen uns jenes unbeschreibliche Etwas, welches das Stillschweigen beredt macht, welches niedergeschlagenen Augen Sprache verleiht, welches eine kühne Schüchternheit zu Wege bringt, welches in der Furcht die Wünsche verräth und Alles sagt, was es nicht auszudrücken wagt.

Ich fühlte mein Herz und hielt mich bei Ihrem ersten Worte für verloren. Ich merkte den Zwang, den Sie sich auflegten; ich billigte dies achtungsvolle Benehmen und gewann Sie deshalb nur noch lieber. Ich suchte Sie für Ihr peinliches und unerläßliches Schweigen zu entschädigen, ohne daß es meiner Unschuld etwas kostete; ich that meinem natürlichen Wesen Gewalt an, ahmte meiner Cousine nach, lachte und tollte wie sie, um zu ernsthaften Erklärungen zuvorzukommen und tausend kleine Liebkosungen unter dem Schutze dieser verstellten Lustigkeit durchzubringen. Ich wollte Ihnen Ihr gegenwärtiges Verhältniß so angenehm machen, daß die Furcht vor einer Veränderung desselben Ihre Zurückhaltung noch vermehren sollte. Alles dies gerieth mir schlecht; man geht nicht ungestraft aus seinem Wesen heraus. Ich Unsinnige! ich beschleunigte mein Verderben, anstatt ihm vorzubeugen, ich wendete Gift als Schutzmittel an, und was Sie zum Schweigen nöthigen sollte, war grade das, was Sie zum Reden brachte. Vergeblich, daß ich durch eine angenommene Kälte Sie unter vier Augen in Entfernung zu halten suchte; gerade der Zwang, den ich mir anthat, verrieth mich, Sie schrieben; anstatt Ihren ersten Brief ins Feuer zu werfen oder ihn meiner Mutter zu geben, unterstand ich mich ihn zu öffnen: dies war mein Verbrechen, alles Uebrige folgte mit Nothwendigkeit daraus. Ich wollte mich enthalten, diese verderblichen Briefe zu beantworten, die ich mich nicht enthalten konnte zu lesen. Dieser gräßliche Kampf griff meine Gesundheit an: ich sah den Abgrund, in den ich mich zu stürzen im Begriff war; mir graute vor mir selbst, und ich konnte mich nicht entschließen, Sie abreisen zu lassen. Ich verfiel in eine Art Verzweiflung; ich hätte lieber gemocht, daß Sie nicht mehr wären, als daß Sie nicht mein sein sollten: ich ging soweit, Ihren Tod zu wünschen, ja, ihn von Ihnen zu fordern. Der Himmel hat mein Herz gesehen: dieser schwere Kampf muß ein Paar Fehltritte wohl abkaufen.

Als ich Sie bereit sah, mir zu gehorchen, mußte ich sprechen. Ich hatte von der Chaillot Aufschlüsse erhalten, denen infolge ich die Gefahr eines solchen Geständnisses noch deutlicher einsah. Die Liebe, die es mir ablockte, lehrte mich den Wirkungen desselben ausweichen. Sie waren meine letzte Zuflucht; ich hatte Vertrauen genug zu Ihnen, um Sie selbst gegen meine Schwachheit zu bewehren, ich hielt Sie für würdig mich zu retten, und ich habe nicht zu viel von Ihnen erwartet. Als ich Sie ein so theures Pfand in Ehren halten sah, erkannte ich, daß meine Leidenschaft mich nicht verblendet hatte über die Tugenden, die sie mich in Ihnen gewahren ließ. Ich gab mich mit um so größerer Zuversicht hin, als es mir schien, daß unsere Herzen sich einander genug wären. Sicher, in dem meinigen nur ehrbare Gefühle zu finden, genoß ich ohne Vorsicht die Annehmlichkeiten eines süßen Umganges. Ach, ich sah nicht, daß durch meine Nachlässigkeit das Uebel einwurzelte, und daß die Gewohnheit gefährlicher war als die Liebe. Gerührt von Ihrer Zurückhaltung, glaubte ich ohne Gefahr die meinige einschränken zu können; in der Unschuld meiner Wünsche dachte ich durch Liebkosungen, wie sie die Freundschaft bietet, in Ihnen nur die Tugend aufzumuntern. Ich erfuhr in dem Gebüsch von Clarens, daß ich zu sehr auf mich gerechnet hatte, und daß man den Sinnen nichts bewilligen muß, wenn man ihnen etwas verweigern will. Ein Augenblick, ein einziger Augenblick entzündete in mir eine Glut, die nichts löschen konnte, und wenn mein Wille noch widerstand, so war doch von Stund' an mein Herz verleitet.

Sie theilten meine Verirrung: Ihr Brief machte mich zittern. Die Gefahr war doppelt; um mich vor Ihnen und vor mir selbst zu beschützen, mußte ich Sie entfernen. Dies war die letzte Anstrengung einer sterbenden Tugend. Durch Ihre Flucht vollendeten Sie Ihren Sieg, und sobald ich Sie nicht mehr sah, nahm mir die Sehnsucht auch das Bißchen Kraft, das ich noch hatte, Ihnen zu widerstehen.

Mein Vater hatte, als er den Dienst verließ, Herrn von Wolmar mit nach Hause gebracht; er verdankte ihm seine Lebensrettung und war zwanzig Jahre eng mit ihm verbunden gewesen: das machte ihm diesen Freund so theuer, daß er sich nicht von ihm trennen konnte. Herr von Wolmar war schon bei vorgerückten Jahren, hatte aber, obwohl reich und von hoher Geburt, keine Frau gefunden, die ihm zusagte. Mein Vater hatte ihm von seiner Tochter erzählt, und dabei den Wunsch gehegt, seinen Freund zum Schwiegersohn zu haben; es kam darauf an, sie zu sehen und in dieser Absicht machten sie die Reise zusammen. Mein Schicksal wollte, daß ich Herrn von Wolmar gefiel, der nie zuvor geliebt hatte. Sie gaben sich im Geheimen das Wort, und da Herr von Wolmar viele Angelegenheiten an einem nordischen Hofe in Ordnung zu bringen hatte, wo sich seine Familie und sein Vermögen befand, so erbat er sich Zeit hierzu, nachdem er mit meinem Vater einig geworden war. Als er fort war, erklärte uns mein Vater, meiner Mutter und mir, daß er ihn mir zum Gatten bestimmte, und befahl mir in einem Tone, der mich bei meiner Schüchternheit nicht zur Widerrede kommen ließ, mich darauf gefaßt zu halten, ihm meine Hand zu reichen. Meine Mutter, welche die Neigung meines Herzens nur zu gut bemerkt hatte, und sich zu Ihnen von Natur hingezogen fühlte, versuchte mehrmals, seinen Entschluß wankend zu machen. Sie vorzuschlagen wagte sie nicht, sprach aber doch so von Ihnen, daß mein Vater Achtung für Sie gewann und Sie kennen zu lernen wünschte, aber die Eigenschaft, die Ihnen fehlte, machte ihn gleichgültig gegen alle, die Sie besaßen, und wenn er auch zugab, daß die Geburt diese nicht ersetzen könnte, behauptete er doch, daß sie allein ihnen Werth geben könnte.

Die Unmöglichkeit, mein Glück zu erlangen, entzündete in mir ein Feuer, welches sie hätte auslöschen sollen. Ein schmeichelnder Wahn hielt mich in meiner Bekümmerniß aufrecht; mit ihm verlor ich die Kraft, sie auszuhalten. So lange mir noch einige Hoffnung geblieben war, Sie zu besitzen, würde ich vielleicht den Sieg über mich davon getragen haben; es würde mir weniger schwer gefallen sein, Ihnen mein Leben lang zu widerstehen, als Ihnen aus immer zu entsagen; und der bloße Gedanke an einen ewigen Kampf nahm mir den Muth zu kämpfen.

Betrübniß und Liebe verzehrten wein Herz; ich fiel in eine Erschöpfung, die an meinen Briefen zu spüren war. Der, welchen Sie mir von Meillerie schrieben, setzte Allem die Krone auf; zu meinen eigenen Schmerzen kam hinzu, daß ich Ihre Verzweiflung fühlte. Ach! die schwächere Seele ist es immer, welche die Leiden aller beiden trägt, Ihr verwegener Vorschlag trieb meine Aengste auf's Aeußerste. Das Unglück meines Lebens stand fest: ich hatte nur die Wahl, ob ich es an das Unglück meiner Eltern oder an das Ihrige knüpfen wollte. Ich konnte den Gedanken dieses furchtbaren Entweder Oder nicht aushalten; alle Kräfte der Natur haben ihre Schranke, die meinigen waren durch so viele Aufregungen erschöpft. Ich wünschte das Leben los zu sein. Der Himmel schien sich meiner zu erbarmen, aber der grausame Tod verschonte mich, um mich zu verderben. Ich sah Sie, ich genas und ich ging unter.

Wenn ich in meinen Fehltritten das Glück nicht fand, so hatte ich doch auch nie gehofft, es darin zu finden. Ich fühlte, daß mein Herz für die Tugend geschaffen war, und daß es ohne sie nicht glücklich sein konnte; ich unterlag aus Schwäche, nicht aus Irrthum: ich kann mich nicht damit entschuldigen, daß ich verblendet gewesen wäre. Es blieb mir keine Hoffnung; ich konnte nicht mehr anders als unglücklich sein. Unschuld und Liebe, beide waren mir gleich nothwendig; da ich sie nicht beide zugleich bewahren konnte, und da ich Ihre Verstörung sah, nahm ich nur auf Sie bei meiner Wahl Bedacht, und richtete mich zu Grunde, um Sie zu retten.

Es ist aber nicht so leicht, als man denkt, der Tugend zu entsagen; sie quält Die, welche von ihr weichen, noch lange Zeit, und ihre Reize, welche die Wonne reiner Seelen sind, machen die vornehmste Marter des Bösen aus, der sie noch liebt, und ihrer nicht mehr genießen kann. Strafbar, ohne verderbt zu sein, konnte ich den Gewissensbissen nicht entrinnen, die meiner warteten; die Ehrbarkeit war mir theuer, selbst nachdem ich sie verloren hatte; meine Schande war mir deshalb, weil sie geheim war, nicht minder bitter, ja, wenn der ganze Erdkreis Zeuge davon gewesen wäre, hätte ich sie nicht stärker fühlen können. Ich tröstete mich in meinem Schmerze wie ein Verwundeter, der den kalten Brand fürchtet und daraus, daß er noch Schmerz fühlt, Hoffnung schöpft, geheilt zu werden.

Indessen war mir dieser Zustand der Schmach unleidlich. Indem ich den Vorwurf ersticken wollte, ohne dem Verbrechen zu entsagen, begegnete mir, was jeder redlichen Seele begegnet, die sich verirrt, und sich in ihrer Verirrung gefällt. Eine neue Vorspiegelung, die ich mir machte, milderte die Bitterkeit der Reue; ich hoffte aus meinem Fehltritt selbst ein Mittel zu gewinnen, um ihn wieder gut zu machen, und ich entwarf den kühnen Plan, meinen Vater zu zwingen, daß er uns vereinige. Die erste Frucht unserer Liebe sollte das süße Band knüpfen; ich forderte sie vom Himmel als das Unterpfand meiner Rückkehr zur Tugend und unseres gemeinsamen Glückes; ich wünschte sie so sehr, als eine Andere an meiner Stelle sie vielleicht gefürchtet hätte. Die zärtliche Liebe, mit ihren Gaukeleien das murrende Gewissen besänftigend, tröstete mich über meine Schwachheit durch die Wirkung, welche ich mir davon versprach, und machte mir aus einer so lieben Erwartung den Reiz und die Hoffnung meines Lebens.

Sobald sich sichtliche Merkmale meines Zustandes einstellen würden, hatte ich beschlossen, ihn in Gegenwart meiner Familie dem Herrn Perret [Dem Ortspfarrer.] frei und offen zu bekennen. Ich bin freilich furchtsam: ich fühlte, wie schwer es mir werden würde; aber die Ehre selbst spornte meinen Muth, und ich wollte lieber das eine Mal die Beschämung auf mich nehmen, die ich verdient hatte, als ewig die Schande im Grunde meines Herzens nähren. Ich wußte, daß mir mein Vater entweder den Tod oder meinen Geliebten geben würde; diese Ungewißheit hatte nichts Erschreckendes für mich, und auf eine oder die andere Weise erblickte ich in diesem Schritte das Ende aller meiner Leiden.

Dies, mein lieber Freund, war das Geheimniß, welches ich Ihnen nicht entdecken wollte, und welches Sie mit so neugieriger Unruhe zu durchdringen suchten. Tausend Gründe nöthigten mich zu dieser Zurückhaltung einem so hitzigen Manne gegenüber, wie Sie sind, ohne zu rechnen, daß es nicht wohl gethan war, Ihrem rücksichtslosen Dringen einen neuen Vorwand zu liefern. Vor allen Dingen war es zweckmäßig, Sie von einem so gefahrvollen Auftritt entfernt zu halten, und ich wußte doch, daß Sie sich nie dazu verstanden haben würden, mich in einer solchen Gefahr allein zu lassen, wenn Sie darum gewußt hätten.

Ach! auch diese süße Hoffnung trog mich. Der Himmel machte den verbrecherisch gefaßten Plan zu Schanden: ich verdiente nicht die Ehre, Mutter zu werden; meine Erwartung blieb unerfüllt, und es war mir versagt, meinen Fehltritt auf Kosten meines Rufes zu büßen. Sie haben erfahren [Dies läßt einen Brief vermuthen, den wir nicht haben.], welcher Zufall mit dem Keim, den ich in meinem Schoße trug, den letzten Grund meiner Hoffnungen zerstörte. Dieses Unglück traf mich gerade in der Zeit unserer Trennung, als hätte der Himmel damals alle Uebel auf mich häufen wollen, die ich verdient hatte, und alle Bande zu gleicher Zeit zerreißen, die zu unserer Vereinigung dienen konnten.

Ihr Scheiden war das Ende meiner Verirrungen wie meiner Freuden: ich erkannte, aber zu spät, mit was für falschen Einbildungen ich mich hintergangen hatte. Ich erblickte mich so verächtlich, wie ich es war, und so unglücklich, wie ich es ewig sein mußte mit einer Liebe ohne Unschuld und mit Wünschen ohne Hoffnung, die ich nicht unterdrücken konnte. Tausend innere Vorwürfe peinigten mich; ich sah, wie eitel sie waren, und verbannte Betrachtungen, die nur schmerzten und nichts halfen; ich war es nicht mehr werth, daß ich an mich dachte, ich widmete mich ganz der Sorge um Sie. Ich hatte keine Ehre mehr als die Ihrige, keine Hoffnung weiter als Ihr Glück, und die Empfindungen, die mir von Ihnen kamen, waren die einzigen, denen ich noch zugänglich zu sein meinte.

Die Liebe machte mich nicht blind gegen Ihre Fehler, aber sie machte sie mir lieb, und berückte mich darin so sehr, daß ich Sie weniger geliebt haben würde, wenn Sie vollkommner gewesen wären. Ich kannte Ihr Herz, Ihr aufbrausendes Wesen; ich wußte, daß Sie bei mehr Muth als ich, weniger Geduld hätten, und daß die Leiden, welche meine Seele drückten, die Ihrige in Verzweiflung gesetzt haben würden. Aus diesem Grunde verbarg ich Ihnen stets mit Sorgfalt, was mein Vater in Betreff meiner versprochen hatte, und bei unserer Trennung, weil ich von Milord Eduard's Eifer, Ihnen einen Weg zu bahnen, Vortheil ziehen und Ihnen selbst den gleichen einflößen wollte, schmeichelte ich Ihnen mit einer Hoffnung, die ich in der Thal nicht hegte. Noch mehr: da ich die Gefahr wußte, von der wir bedroht waren, wandte ich das einzige Vorsichtsmittel an, das uns dagegen verwahren konnte, und suchte, indem ich Ihnen, soweit es in meiner Macht stand, meine Freiheit verpfändete, Ihnen Vertrauen und mir Festigkeit durch ein Gelöbniß zu verschaffen, welches ich nicht würde zu brechen wagen, und welches Sie beruhigen konnte. Es war eine kindische Verpflichtung, ich gestehe es, und doch würde ich ihr niemals untreu geworden sein. Die Tugend ist unseren Herzen ein solches Bedürfniß, daß, wenn man einmal von der wahren gewichen ist, man sich dann eine eigene macht und vielleicht fester an ihr hält, weil sie selbstgewählt ist.

Ich will Ihnen nicht alle die Gemüthsbewegungen schildern, die ich seit Ihrer Entfernung erlitt; die schlimmste von allen war die Furcht, vergessen zu werden. Der Aufenthalt, den Sie genommen hatten, machte mich zittern, Ihre Lebensart dort vermehrte meine Angst, ich glaubte Sie schon so tief gesunken, daß Sie nichts weiter als ein Weibernarr wären. Ein solcher Schimpf dünkte mir härter als alle meine Leiden; ich hätte Sie lieber unglücklich wissen mögen als verächtlich. An so viele Kümmernisse hatte ich mich gewöhnen müssen: das einzige, was ich nicht ertragen hätte, war, Sie ehrlos zu wissen.

Ich wurde wegen einer Furcht, in der mich der Ton Ihrer Briefe zu bestärken anfing, beruhigt und zwar durch Etwas, das der Unruhe einer Andern die Krone aufgesetzt hätte. Ich meine die Ausschweifung, zu welcher Sie sich verleiten ließen, und deren schnelles und offenes Bekenntniß von allen Beweisen Ihrer Freimüthigkeit derjenige war, der mich am meisten gerührt hat. Ich kannte Sie zu gut, um nicht zu wissen, welche Ueberwindung Ihnen ein solches Bekenntniß kosten mußte, selbst dann, wenn ich Ihnen nicht mehr theuer gewesen wäre; ich sah, daß die Liebe allein, die Scham besiegend, es Ihnen hatte entreißen können. Ich schloß, daß ein so aufrichtiges Herz einer geheimen Untreue nicht fähig wäre; ich fand Ihr Unrecht nicht so groß als Ihr Bekenntniß verdienstlich, und indem ich Ihrer alten Versprechen gedachte, war ich auf immer von aller Eifersucht geheilt.

Mein Freund, ich war deshalb nicht glücklicher: für eine Qual weniger entstanden unablässig tausend andere, und nie überzeugte ich mich mehr, wie unsinnig es ist, in Herzensverirrungen eine Ruhe zu suchen, welche uns ein sittliches Leben allein gewähren kann. Seit langer Zeit weinte ich im Stillen über den Zustand meiner guten Mutter, die an einem tödtlichen Zehrübel allmählig verging. Babi, der ich mich wegen der traurigen Folge jenes Falles hatte anvertrauen müssen, verrieth mich, und entdeckte ihr unsere Liebe und meinen Fehltritt. Kaum hatte ich mir meine Briefe von meiner Cousine zurückgeben lassen, so wurden sie aufgefunden. Der Beweis war überzeugend; der Schmerz hierüber nahm meiner Mutter den letzten Rest von Kraft, den ihr das Uebel noch gelassen hatte. Ich starb fast vor Reue zu ihren Füßen. Weit entfernt, mich dem Tode Preis zu geben, den ich verdient hatte, deckte sie meine Schande zu, und seufzte nur im Stillen. Sie selbst, von dem sie sich so grausam hintergangen sah, auch Sie konnte sie nicht hassen. Ich war Zeuge von der Wirkung, welche Ihr Brief auf ihr weiches, mitleidiges Herz hervorbrachte. Ach! sie wünschte Ihr und mein Glück. Sie machte mehr als einmal den Versuch .... Wozu eine Hoffnung zurückrufen, die auf immer begraben ist? Der Himmel hatte es anders verhängt. Sie beschloß ihre trübseligen Tage in dem Schmerze, daß sie den Willen eines harten Gatten nicht hatte ändern können und ihre Tochter so wenig ihrer würdig zurücklassen mußte.

Gebeugt von einem so schmerzlichen Verluste, hatte meine Seele zu nichts Kraft, als ihn zu fühlen; die Stimme der Natur erstickte mit ihrem Jammer die murrende Stimme der Liebe, Ich faßte wie einen Abscheu vor der Ursache so vieler Leiden, ich wollte endlich die verhaßte Leidenschaft ersticken, die sie mir zugezogen hatte, und auf Sie für immer verzichten. Ohne Zweifel war das nöthig; hatte ich doch schon für mein ganzes übriges Leben genug zu weinen, und brauchte nicht noch immerfort neue Ursache zu Thränen zu suchen. Alles schien meinen Entschluß zu begünstigen. Wenn Traurigkeit die Seele erweicht, tiefe Trübsal verhärtet sie. Das Andenken meiner sterbenden Mutter löschte das Ihrige aus; wir waren fern von einander, die Hoffnung hatte mich ganz verlassen. Nie hatte sich meine unvergleichliche Freundin so groß gezeigt, so würdig, mein ganzes Herz allein einzunehmen; ihre Tugend, ihr Verstand, ihre Freundschaft, ihre zärtlichen Liebkosungen schienen es gereinigt zu haben: ich glaubte Sie schon vergessen, glaubte mich geheilt. Es war zu spät; was ich für die Kälte einer erloschenen Liebe hielt, war nur die Abspannung der Verzweiflung.

Wie ein Kranker, der, wenn er in Schwäche fällt, nicht mehr leidet, dann aber wieder zu lebhafteren Schmerzen sich aufrafft, fühlte ich die meinigen bald alle wiederkehren, als mein Vater mir die nahe bevorstehende Zurückkunft des Herrn von Wolmar ankündigte. Da gab mir die unüberwindliche Liebe von Neuem Kräfte, deren ich mich nicht mehr fähig glaubte. Zum ersten Male in meinem Leben wagte ich, mich meinem Vater in's Angesicht zu widersetzen; ich erklärte ihm rund heraus, daß Herr von Wolmar mir nichts sein könnte, daß ich entschlossen sei, ledig zu sterben; er könne über mein Leben gebieten, aber nicht über mein Herz, und nichts würde mich zu einer Aenderung meines Willens bewegen. Ich will nichts sagen von seinem Zorn, von der Behandlung, die ich zu erleiden hatlte. Ich war unerschütterlich: da meine Aengstlichkeit einmal überwunden war, ging ich zu dem anderen Aeußersten über, und wenn mein Ton weniger gebieterisch war als der meines Vaters, war er doch ebenso fest.

Er sah, daß mein Entschluß gefaßt war, und daß er mit Gewalt nichts bei mir ausrichten würde. Schon glaubte ich, daß er mich nun nicht weiter plagen würde; aber wie ward mir, als ich auf einmal den strengsten der Väter weichmüthig und in Thränen zerfließend zu meinen Füßen sah? Ohne zuzulassen, daß ich ihn aufhob, preßte er meine Knie, und seine nassen Augen auf die meinigen geheftet, sagte er mit einer rührenden Stimme, die ich noch in meinem Innern höre: Meine Tochter, achte die weißen Haare deines unglücklichen Vaters, laß ihn nicht mit Schmerzen in die Grube fahren, wie Die, welche dich in ihrem Schoße trug. Ach! willst du deiner ganzen Familie den Tod geben?

Denken Sie sich meine Erschütterung. Diese Stellung, dieser Ton, diese Geberde, diese Rede, dieser furchtbare Gedanke packten mich so, daß ich halb todt in seine Arme glitt, und erst nachdem ich mir mit heftigem Schluchzen Luft gemacht hatte, konnte ich mit gebrochener schwacher Stimme antworten: O mein Vater, ich war gewaffnet gegen Ihre Drohungen, aber nicht gegen Ihre Thränen; Sie, Sie werden Ihre Tochter tödten.

Wir waren beide in solcher Bewegung, daß wir uns lange nicht fassen konnten. Indessen, seine letzten Worte mir in Gedanken wiederholend, erkannte ich, daß er besser unterrichtet war, als ich geglaubt hatte; ich beschloß, mir sein Wissen zu einer Waffe gegen ihn zu machen, und schickte mich an, ihm, auf Gefahr meines Lebens, ein nur zu lange schon aufgeschobenes Bekenntniß abzulegen, als er mich mit einer Lebhaftigkeit unterbrach, als ob er vorausgesehen und gefürchtet hätte, was ich ihm sagen wollte, und Folgendes sprach:

„Ich weiß nicht, was für Phantasien, die eines Mädchens von gutem Herkommen unwürdig sind, du in deinem Herzen nährest. Es ist Zeit, der Pflicht und der Schicklichkeit eine schimpfliche Leidenschaft zu opfern, die dich entehrt, und die du nur auf Kosten meines Lebens befriedigen könntest. Höre einmal an, was von dir die Ehre deines Vaters und deine eigene Ehre fordern, und dann entscheide selbst.

Herr von Wolmar ist ein Mann von vornehmer Geburt, durch alle Eigenschaften ausgezeichnet, welche dieselbe nur unterstützen können, ein Mann, der der allgemeinen Achtung genießt, und sie verdient. Er hat mir das Leben gerettet. Du weißt, welches Uebereinkommen ich mit ihm getroffen habe. Nun muß ich dir noch sagen, daß er nach Hause ging, um seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, dort aber in die letzte Revolution verwickelt wurde, und alle seine Güter verloren hat, daß er nur durch einen merkwürdigen Glücksfall dem Loos entgangen ist, nach Sibirien geschickt zu werden, und daß er jetzt mit dem kläglichen Ueberrest seines Vermögens hierher kommt, vertrauend auf das Wort seines Freundes, der sein Wort noch nie einem Menschen gebrochen hat. Sage mir jetzt, wie ich ihn empfangen soll, wenn er nun ankommt, Soll ich ihm sagen: Mein Herr, ich habe Ihnen meine Tochter versprochen, als Sie reich waren; jetzt, da Sie nichts mehr haben, nehme ich mein Wort zurück, und meine Tochter will Sie nicht? Wenn ich meine Weigerung auch nicht so ausdrücke, wird sie doch so ausgelegt werden; wird man deine Liebe anführen, so wird das für eine Ausrede gelten, oder doch für mich nur ein Schimpf mehr sein, und wir gelten, du für eine Dirne und ich für einen schlechten Kerl, der seine Pflicht und Treue einem gemeinen Eigennutz aufopfert und ebenso undankbar als treulos ist. Meine Tochter, ich bin zu alt, um ein fleckenloses Leben in Schmach zu beschließen, und eine sechzigjährige Ehre giebt man nicht in einer Viertelstunde daran.

Du siehst also, fuhr er fort, wie unzeitig Alles sein würde, was du mir sagen könntest; bedenke, ob eine Vorliebe, welche die Schamhaftigkeit desavouirt, und eine flüchtige Jugendflamme irgend in die Wage gelegt werden können gegen die Kindespflicht und die eingesetzte Ehre eines Vaters. Wenn es sich für uns beide nur darum handelte, daß eines dem andern sein Glück opfern sollte, so würde dir meine Zärtlichkeit ein so süßes Opfer streitig machen, aber, mein Kind, die Ehre hat gesprochen, und in dem Blute, aus welchem du stammst, gehört die Entscheidung allezeit ihr.“

Es fehlte mir nicht an guten Gründen zur Widerlegung dieser Rede, aber die Vorurtheile meines Vaters machen seine Grundsätze so verschieden von den meinigen, daß Gründe, die mir unwiderleglich schienen, auf ihn gar keinen Eindruck gemacht haben würden. Da ich nun auch nicht wußte, aus welcher Quelle mein Vater die Aufklärungen über mein Betragen, die er zu haben schien, geschöpft haben mochte, noch wie weit sie reichten, da ich bei der Geflissentlichkeit, mit welcher er mir das Wort abschnitt, fürchtete, daß er in Bezug auf das, was ich ihm zu sagen hatte, auch schon entschlossen war, und mehr als das Alles von einer Scham zurückgehalten, die ich nie habe überwinden können, zog ich es vor, eine Entschuldigung zu gebrauchen, die mir sicherer schien, weil sie seine Denkungsart mehr entsprach. Ich erklärte ihm ohne Umschweif, welche Verpflichtung ich gegen Sie eingegangen wäre, und betheuerte, daß ich Ihnen nicht wortbrüchig werden, und, was auch daraus entstehen möge, mich nicht ohne Ihre Bewilligung verheiraten würde.

In der That sah ich zu meiner Freude, daß mein Bedenken ihm nicht mißfällig war; er machte mir lebhafte Vorwürfe über mein Versprechen, wandte aber nichts gegen meinen Entschluß ein: so hoch ist die Vorstellung, welche ein Edelmann voll Ehre von der Heiligkeit des gegebenen Wortes hat. Anstatt also sich in Spitzfindigkeiten über die Nichtigkeit eines solchen Versprechens einzulassen, die ich nie zugegeben hätte, nöthigte er mich, ein Billet zu schreiben, und ließ es nebst einem Briefe, den er hinzufügte, augenblicklich abgehen. In welcher Bewegung erwartete ich nicht Ihre Antwort! Wie wünschte ich nicht, Sie weniger zartfühlend zu finden, als ich es von Ihnen erwarten mußte! Aber ich kannte Sie zu gut, um an Ihrem Gehorsam zu zweifeln; ich wußte, je schwerer das von Ihnen verlangte Opfer war, desto mehr würden Sie es sich auflegen. Die Antwort langte an; sie wurde vor mir während meiner Krankheit geheim gehalten; nach meiner Wiederherstellung fand sich dann bestätigt, was ich gefürchtet, und ich hatte keine Entschuldigung mehr. Wenigstens erklärte mir mein Vater, daß er keine weiter annehmen würde, und mit der Macht über meinen Willen, welche ihm jenes schreckliche Wort, das er ausgesprochen hatte, gab, ließ er mich schwören, Herrn von Wolmar nichts zu sagen, was ihn abhalten könnte, mich zu heiraten; denn, setzte er hinzu, es würde ihm ein zwischen uns abgekartetes Spiel scheinen, und um jeden und jeden Preis muß diese Heirat zu Stande kommen, oder ich sterbe vor Gram.

Sie wissen, Freund, meine Gesundheit, die allen körperlichen Anstrengungen und allen Beschwerden von Wind und Wetter trotzt, ist den Stürmen der Leidenschaften nicht gewachsen, und in meinem zu empfindlichen Herzen liegt die Quelle aller meiner Leiden, der leiblichen und der geistigen. Sei es nun, daß langer Kummer meine Säfte verdorben hatte, sei es, daß die Natur diese Gelegenheit ergriff, um sie von einer schädlichen Schärfe zu reinigen, ich fühlte mich am Ende dieser Unterredung sehr unbehaglich. Als ich das Zimmer meines Vaters verlassen hatte, strengte ich mich noch an, Ihnen ein Paar Worte zu schreiben, und befand mich so übel, daß ich hoffte, als ich mich zu Bette legte, nicht wieder aufzustehen. Alles Uebrige ist Ihnen nur zu gut bekannt; meine Unvorsichtigkeit zog die Ihrige nach sich. Sie kamen; ich sah Sie, und glaubte, daß es nur einer von jenen Träumen war, welche sich mir so oft während meiner Fieberphantasien vorstellten, Aber als ich erfuhr, daß Sie da gewesen, daß ich Sie wirklich gesehen hatte, und daß Sie sich mit der Krankheit, von der Sie mich nicht heilen konnten, um sie zu theilen, geflissentlich angesteckt hatten, konnte ich diese letzte Prüfung nicht bestehen, und indem ich eine so zärtliche Liebe die Hoffnung überdauern sah, kannte meine eigene Hoffnung, die ich zu unterdrücken so viele Mühe angewendet, keinen Zügel mehr, und entbrannte bald lebhafter denn je zuvor. Ich sah, daß ich wider Willen lieben mußte; ich fühlte, daß es nicht anders ging, ich mußte strafbar sein; ich fühlte, daß ich weder meinem Vater noch meinem Geliebten widerstehen konnte, und daß es nicht möglich war, die Rechte der Liebe und die des Blutes anders in Einklang zu bringen, als auf Kosten der Ehrbarkeit. So erlosch jede gute Regung vollends in mir, alle meine Kräfte waren gebrochen; das Verbrechen erschien mir nicht mehr als Verirrung; ich fühlte mich in meinem Innern völlig umgewandelt; endlich stürzte mich die entfesselte Heftigkeit einer durch die Hindernisse zur Wuth gewordenen Leidenschaft in die furchtbarste Verzweiflung, welche eine Seele niederbeugen kann; ich wagte an der Tugend zu zweifeln, Ihr Brief, der wahrlich mehr geeignet war, die Reue zu erwecken, als ihr vorzubeugen, vollendete meinen Irrwahn. Mein Herz war so bestochen, daß meine Vernunft den Sophismen Ihrer Philosophie nicht widerstehen konnte; Gräuel, deren Vorstellung nie meine Seele besudelt hatte, boten sich ungestraft ihr dar. Noch kämpfte der Wille dawider, aber die Phantasie gewöhnte sich an sie, und wenn ich nicht im Voraus das Verbrechen im Grunde meiner Seele hegte, so fehlten ihr doch auch jene edlen Vorsätze, die ihm allein Widerstand leisten können.

Es wird mir schwer, fortzufahren: halten wir einen Augenblick inne! Erinnern Sie sich jener Zeiten des Glückes und der Unschuld, da jenes lebhafte und doch so milde Feuer, das uns beseelte, alle unsere Empfindungen läuterte, da seine heilige Glut [Heilige Glut! Julie, Julie, ach, was für ein Wort für eine Frau, die sich so vollständig geheilt dünkt!] uns die Schamhaftigkeit theurer und die Sittsamleit liebenswerther machte, da sich die Begierden selbst nur zu regen schienen, damit wir die Ehre erwürben, sie zu besiegen, und uns einer des andern noch mehr werth zu machen. Lesen Sie unsere ersten Briefe wieder, denken Sie an jene kurzen und zu wenig genossenen Augenblicke, da sich die Liebe in unseren Augen mit allen Reizen der Tugend schmückte, und wir uns zu sehr liebten, um Bande, welche diese nicht anerkennt, zwischen uns zu schlingen.

Was waren wir, und was sind wir geworden? Zwei zärtlich Liebende brachten ein ganzes Jahr mit einander im strengsten Schweigen hin, ihre Seufzer wagten sich nicht hervor, aber ihre Herzen verstanden einander; sie glaubten zu leiden und sie waren glücklich. Ihr Verstehen führte zum Aussprechen; zufrieden aber, sich selbst besiegen und sich gegenseitig dies ehrenvolle Zeugniß geben zu können, brachten sie abermals ein Jahr in nicht minder strenger Zurückhaltung hin; sie sagten einander ihre Leiden und sie waren glücklich. Der lange Kampf wurde schlecht zu Ende geführt; ein schwacher Augenblick verwirrte sie; sie vergaßen sich in ihren Freuden. Hatten sie aufgehört keusch zu sein, waren sie wenigstens treu, der Himmel und die Natur wenigstens gaben ihrer Verbindung Rechte, die Tugend war ihnen theuer, sie übten sie noch und wußten sie noch zu ehren; sie waren weniger verderbt als gesunken. Nicht mehr so werth, glücklich zu sein, waren sie es dennoch.

Und was thun sie jetzt, diese zärtlich Liebenden, die von einer so reinen Flamme entbrannt waren, die so ganz den Werth der Sittlichkeit fühlten? Wer wird es hören können, ohne über sie zu seufzen? Dem Verbrechen sind sie anheimgefallen, selbst der Gedanke, das eheliche Bett zu beflecken, macht ihnen kein Grausen .... Sie sinnen auf Ehebruch, Wie? Sind sie noch die nämlichen? Sind nicht ihre Seelen verwandelt? Wie kann das entzückende Bild, das der Schlechte sicher nie gesehen hat, aus Herzen schwinden, in denen es strahlte? wie ist es möglich, daß der Reiz der Tugend nicht Denen, die sie einmal gekannt, das Laster auf immer verleide? Wie viele Jahrhunderte waren nöthig, um eine so wunderbare Verwandlung hervorzubringen? Was für Zeiträume bedurfte es, um ein so bezauberndes Andenken zu verwischen, und Dem, der ein wahres Glück gekostet hatte, das Gefühl davon zu rauben? Ach! wenn uns die erste Verirrung schwer wird und langsam kommt, wie leicht, wie blitzschnell sind die übrigen! Blendwerk der Leidenschaft, du bezauberst so die Vernunft, bestichst die Sittsamkeit und wandelst die Natur, ehe man sich dessen versieht! Man verirrt sich einen einzigen Augenblick im Leben, man lenkt um einen einzigen Schritt von der geraden Straße ab, sogleich reißt uns ein unvermeidlicher Abhang tiefer und tiefer in's Verderben; man stürzt in den Schlund, und erwacht voll Entsetzen, sich, bei einem Herzen, das für die Tugend geschaffen war, mit Verbrechen beladen zu finden. Mein Freund, lassen wir den Schleier fallen: haben wir nöthig, den schauerlichen Abgrund zu sehen, welchen er verhüllt, um uns zu hüten, daß wir uns ihm nicht nähern? …. Ich nehme meine Erzählung wieder auf.

Herr v. Wolmar traf ein, und ließ sich durch die Entstellung meines Gesichts nicht abschrecken. Mein Vater ließ mich nicht zu Athem kommen. Die Trauerzeit um meine Mutter ging zu Ende, und meinen Schmerz konnte die Zeit nicht hinwegnehmen. Ich konnte weder das eine noch das andere anführen, um mein Versprechen zu umgehen; ich mußte es erfüllen. Der Tag, der mich für immer Ihnen und mir nehmen sollte, schien mir mein letzter. Ich würde die Zurüstungen zu meinem Begräbniß mit weniger Grauen angesehen haben, als die zu meiner Hochzeit. Je näher ich dem verhängnißvollen Augenblicke kam, desto weniger vermochte ich meine erste Neigung aus meinem Herzen zu reißen; sie wurde durch meine Anstrengungen, sie zu unterdrücken, nur noch heftiger gereizt. Endlich wurde ich es müde, vergeblich zu kämpfen. In dem Augenblicke da ich mich bereit machte, einem Andern ewige Treue zu schwören, schwor noch mein Herz Ihnen ewige Liebe, und ich wurde zu dem Tempel geführt, wie ein unreines Opfer, das den Altar entweiht, auf welchem es dargebracht werden soll.

In der Kirche fühlte ich beim Eintritt eine Aufregung, die mir ganz neu war. Eine Furcht, die ich nicht beschreiben kann, ergriff meine Seele an dieser einfachen, erhabenen Stätte, die ganz erfüllt war von der Majestät Dessen, dem man dort dient. Es durchfuhr mich ein Schauer; zitternd und einer Ohnmacht nahe, hatte ich Mühe mich bis an den Fuß des Altars zu schleppen. Weit entfernt zu mir zu kommen, fühlte ich während der Ceremonie meine Verwirrung wachsen; wenn ich noch irgend einen Gegenstand sah, so erschien er mir nur wie ein Schreckbild. Das gebrochene Licht des Gebäudes, das tiefe Schweigen der Zuschauer, ihre bescheidene, gesammelte Haltung, die Anwesenheit aller meiner Verwandten, der Ehrfurcht gebietende Anblick meines Vaters, Alles gab dem, was vorgehen sollte, einen feierlichen Anstrich, der mich zur Aufmerksamkeit und zu frommer Scheu nöthigte und mich bei dem bloßen Gedanken an einen Meineid zittern gemacht hätte. Ich glaubte in dem Priester, der die heilige Liturgie ernst und gemessen ablas, das Organ der Vorsehung zu erblicken und die Stimme Gottes zu vernehmen. Die Reinheit, Würdigkeit, Heiligkeit der Ehe, so eindringlich ausgesprochen in den Worten der Schrift, ihre keuschen, hohen Pflichten, so wichtig zum Glücke, zur Ordnung, zum Frieden, zur Fortdauer des menschlichen Geschlechtes, so süß zu erfüllen an sich selbst — dies Alles machte mir einen solchen Eindruck, daß ich inwendig eine jähe Revolution zu fühlen glaubte. Eine unbekannte Macht schien plötzlich die Unordnung der inneren Regungen zu schlichten, und sie nach dem Gesetze der Pflicht und der Natur wiederherzustellen. Das ewige Auge, welches Alles sieht, sagte ich bei mir selbst, liest jetzt im Grunde meines Herzens, vergleicht meinen geheimen Willen mit der Antwort meines Mundes; Himmel und Erde sind Zeugen der heiligen Verpflichtung, die ich übernehme, und sie werden auch Zeugen sein der Treue, mit welcher ich sie erfülle. Welches Recht kann unter den Menschen Der achten, der das erste von allen zu verletzen wagt?

Ein zufälliger Blick auf Herrn und Frau v. Orbe, die ich neben einander stehen und mich mit Augen der Rührung betrachten sah, bewegte mich noch gewaltiger als alles Uebrige. Liebenswürdiges, tugendhaftes Paar, seid ihr, weil ihr die Liebe weniger kanntet, weniger vereint? Pflicht und Sittlichkeit binden euch; zärtliche Freunde, treue Gatten, nicht entflammt von einer rasenden Glut, welche die Seele verzehrt, liebet ihr euch mit reinen sanften Gefühlen, welche sie nähren, Gefühlen, welche die Sitte heiligt und die Vernunft leitet; euer Glück ist nur um desto wahrer und dauerhafter. Ach, könnte ich in einem ähnlichen Bande dieselbe Unschuld wiedererwerben und dasselbe Glück genießen! Wenn ich es nicht verdient habe, wie ihr, werde ich mich seiner nach eurem Beispiel würdig machen. Diese Stimmung weckte in mir Hoffnung und Muth. Ich sah das heilige Bündniß, welches ich eingehen sollte, als einen neuen Stand an, der meine Seele reinigen und sie allen ihren Pflichten zurückgeben sollte. Als der Geistliche mich fragte, ob ich Dem, den ich zum Gatten annähme, vollkommene Treue und Gehorsam verspräche, sagte ich mit Mund und Herzen Ja. Ich werde das Versprechen halten bis an meinen Tod.

Als ich zu Hause wieder ankam, sehnte ich mich nach einer Stunde Einsamkeit und Sammlung. Ich erlangte sie, nicht ohne Mühe; und wie sehr es mich drängte, sie mir zu Nutze zu machen, ging ich doch an meine Selbstprüfung nur mit Widerstreben, denn ich fürchtete, nur eine vorübergehende Aufregung unter den veränderten Umständen erfahren zu haben und eben so wenig eine würdige Gattin an mir zu finden, als ich ein sittsames Mädchen gewesen war. Mein Prüfungsmittel war sicher, aber gefährlich: ich fing damit an, daß ich an Sie dachte. Ich gab mir das Zeugniß, daß kein Liebesgedanke mein feierliches Gelöbniß gestört hatte. Ich konnte nicht begreifen, durch welches Wunder Ihr hartnäckiges Bild, bei so großem Anlaß, es mir zurückzurufen, mich so lange hatte in Frieden lassen können; ich hätte dieser Gleichgültigkeit, dieser Vergessenheit mißtrauen mögen, als einem trügerischen Zustand, der mir zu wenig natürlich war, um von Dauer zu sein. Jedoch war keine solche Täuschung zu befürchten: ich fühlte, daß ich Sie ebenso sehr liebte und vielleicht noch mehr als sonst; aber ich fühlte es, ohne zu erröthen. Ich sah, daß ich, um an Sie zu denken, nicht nöthig hatte, zu vergessen, daß ich eines Andern Weib sei. Indem ich mir sagte, wie theuer Sie mir wären, war mein Herz bewegt, aber mein Gewissen und meine Sinne waren ruhig, und ich erkannte von Augenblick an, daß ich wirklich verwandelt war. Welcher Strom reiner Freude ergoß sich da in meine Seele! welches Gefühl von Frieden, das so lange in mir erloschen gewesen, erfrischte diese von Schmach welke Seele und verbreitete durch mein ganzes Wesen eine neue Klarheit! Ich glaubte mich neu geboren, ich glaubte ein neues Leben zu beginnen. Süße Trösterin, Tugend, dir beginne ich es; du wirst mir es lieb machen, dir will ich es weihen. Ach, ich habe zu sehr erfahren, was es heißt, dich verlieren, um zum zweiten Male von dir zu weichen!

In der Freude über eine so große, schnelle, unerwartete Veränderung wagte ich meinen Zustand vom vorigen Tage zu betrachten; ich schauderte vor der unwürdigen Versunkenheit, in welche ich durch mein Selbstvergessen gerathen war, vor den Gefahren, denen ich seit meiner ersten Verirrung ausgesetzt gewesen. Was für eine glückliche Umwälzung, die mich den Graus des Verbrechens erkennen ließ, das mich versucht hatte, und wieder Gefallen an der Sittlichkeit in mir erweckte! Was für ein seltenes Glück, daß ich meiner Liebe treuer geblieben, als der Ehre, die mir einst so theuer war! Was für eine Gunst des Schicksals, daß nicht Unbeständigkeit von Ihrer Seite oder eigene mich andern Neigungen in die Hände lieferte? Wie hätte ich einem andern Liebhaber einen Widerstand entgegensetzen können, den der erste bereits überwunden hatte, und eine Scham, die schon gewohnt war, der Begierden zu weichen? Würde ich die Rechte einer erloschenen Liebe mehr geachtet haben, als die der Tugend, als diese noch in der Blüthe ihrer Herrschaft war? Welche Sicherheit konnte ich haben, immer nur Sie allein zu lieben, außer dem innern Gefühl, das alle Liebenden zu haben meinen, wenn sie sich ewige Treue schwören, und sich unschuldigerweise meineidig machen, sobald es dem Himmel gefällt, ihr Herz umzuwandeln? Jede Niederlage würde so die nächste vorbereitet haben; durch die Gewohnheit würde das Laster in meinen Augen seine Scheußlichkeit verloren haben. Aus Entehrung zu Schändlichkeit hinabgerissen, ohne Anhalt, um mich zu retten, würde ich aus einer gemißbrauchten Geliebten eine verlorene Dirne geworden sein, die Schmach meines Geschlechtes und die Verzweiflung meiner Familie. Wer hat mich behütet vor so natürlichen Folgen meines ersten Fehltrittes? wer hat mich zurückgehalten nach dem ersten Schritte? wer hat mir meinen Ruf und die Achtung Derer, die mir theuer sind, bewahrt? wer hat mich unter die Hut eines tugendhaften, verständigen, wegen seines Charakters und selbst seiner Person liebenswerthen Gatten gestellt, eines Mannes, der mir eine Achtung, eine Zuneigung entgegenbringt, die ich sowenig verdient habe? wer endlich verstattet mir noch, Anspruch zu machen auf den Namen einer rechtschaffenen Frau, und verleiht mir den Muth mich seiner würdig zu machen? Ich sehe es, ich fühle es; die hülfreiche Hand, welche mich durch das Dunkel geführt hat, ist dieselbe, welche von meinen Augen jetzt die Decke des Irrthums reißt und mich wider meinen Willen mir selbst zurückgiebt. Die verborgene Stimme, die nicht aufhörte in der Tiefe meiner Seele leise zu mahnen, erhebt sich, und donnert in dem Augenblicke, da ich schon daran war unterzugehen. Der Urquell aller Wahrheit wollte nicht, daß ich aus seiner Gegenwart scheide, beladen mit einem schnöden Meineid, und meinem Verbrechen durch die Mahnungen meines Gewissens zuvorkommend, zeigte er mir den Abgrund, in den ich zu stürzen im Begriffe war. Ewige Vorsehung, die du das Würmchen leitest und den Gang des Firmamentes, du wachest über das kleinste deiner Werke! du erinnerst mich an das Gute, zu dem du mir Liebe eingeflößt hast [Rousseau ist selbst ein großer Verehrer der Vorsehung, und die Worte, die er hier Julien in die Feder giebt, sind ihm aus dem Herzen. Seine Wendungen, so oft er die Vorsehung gegen die Angriffe der Atheisten zu retten sucht, sind durchaus denjenigen verwandt, welche er Julie gebrauchen läßt; sie leiden immer an demselben Gebrechen, und Rousseau ist in dieser Hinsicht stets ganz so kurzsichtig, als er Julie macht, wenn sie z. B. sagt, sie sei durch eine fremde Macht wider ihren Willen zu sich selbst zurückgekommen: während es nichts weiter als ihr Wille ist und sein kann, der endlich, bei ihrem Eintritt in ein festes Verhältniß sich selbst zusammenfaßt. Man vergleiche übrigens ,,Bekenntnisse" Anh, zum 6. Theil, S. 132. D. Ueb.]. Nimm nun das Opfer eines durch deine Huld gereinigten Herzens an, eines Herzens, das du allein würdig machst, dir dargebracht zu werden.

Im Augenblicke, durchdrungen von einem lebhaften Gefühle der Gefahr, der ich entronnen war, und der ehrenvollen und sichern Lage, in die ich mich versetzt fand, warf ich mich zur Erde, hob meine Hände flehend zum Himmel empor, rief das Wesen an, dessen Thron er ist, und das, wann es ihm gefällt, die Freiheit, welche es uns gegeben hat, durch unsere eigenen Kräfte erhält oder zerstört. Ich will, sprach ich zu ihm, das Gute, welches du willst, und dessen Quelle du allein bist. Ich will den Gatten lieben, den du mir gegeben hast; ich will treu sein, weil es die erste Pflicht ist, aus der alle anderen Nahrung ziehen. Ich will Alles, was der Ordnung der Natur gemäß ist, die du eingesetzt hast, und den Regeln der Vernunft gemäß, die ich von dir habe. Ich stelle mein Herz in deine Hut und mein Verlangen in deine Hand. Mache alle meine Handlungen übereinstimmend mit meinem beständigen Willen, der kein anderer als der deinige ist, und laß nicht mehr zu, daß die Verirrung eines Augenblicks den Sieg über das davontrage, was ich mir für mein Leben erwählt habe.

Nach diesem kurzen Gebete, dem ersten, das ich je mit wahrem Eifer verrichtete, fühlte ich mich so befestigt in meinen Entschlüssen, es schien mir so leicht und so süß, ihnen nachzuleben, daß ich klar einsah, wo ich künftig die Kraft zu suchen hätte, deren ich bedürfte, um meinem eigenen Herzen zu widerstehen, und die ich in mir selbst nicht finden konnte. Ich gewann aus dieser Entdeckung allein schon ein neues Vertrauen, und beklagte die traurige Verblendung, in der ich es mir so lange hatte entgehen lassen. Ich war nie ganz ohne Religion, aber es wäre vielleicht besser, gar keine zu haben, als eine äußerliche, angelernte, die das Gewissen beschwichtigt, ohne das Herz zu rühren; als sich an Formeln genügen zu lassen und an Gott pünktlich zu gewissen Stunden zu glauben, um dann die übrige Zeit nicht weiter an ihn zu denken. Ich habe dem öffentlichen Gottesdienste immer gewissenhaft beigewohnt, wußte aber nichts daraus für das wirkliche Leben zu gewinnen. Ich fühlte mich von Natur gut und überließ mich meinem Hange; ich dachte gern nach und baute auf meine Vernunft. Da ich den Geist des Evangeliums nicht mit dem der Welt, den Glauben nicht mit den Werken zusammenbringen konnte, so schlug ich einen Mittelweg ein, der meine thörichte Weisheit zufrieden stellte: ich hatte eine Methode für's Glauben und eine andere für's Handeln, ich vergaß hier, was ich dort gedacht hatte, war fromm in der Kirche, und zu Hause philosophirte ich. Ach, ich war hier wie dort nichts Rechtes; meine Gebete waren nur Worte, und meine Urtheile nur Sophismen, und statt einer Leuchte folgte ich dem trüglichen Schimmer der Irrlichter, die mich in's Verderben lockten.

Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr der innere Leitstern, der mir bis dahin gefehlt halte, mir nun jene andern verächtlich macht, die mich so schlecht geführt haben. Ich bitte Sie, was war ihr Grundelement und worauf stützten sie sich? Eine glückliche Naturanlage führt mich dem Guten zu. Eine heftige Leidenschaft erwacht; sie hat ihre Wurzeln in derselben Naturanlage: was soll ich thun, um sie zu zerstören? Aus dem Gedanken der Ordnung folgere ich die Schönheit der Tugend und aus dem des gemeinen Nutzens ihre Vortrefflichkeit. Aber was vermag das Alles gegen meinen Eigennutz? Und was liegt mir im Grunde näher, mein Glück auf Kosten aller anderen Menschen oder der Anderen Glück auf meine Kosten? Wenn Furcht vor Schande oder Strafe mich verhindert, zu meinem Vortheil Böses zu thun, so brauche ich nur es heimlich zu thun, und die Tugend hat nichts mehr einzuwenden; und wenn ich mich auf der Schuld ertappen lasse, wird man, wie in Sparta, nicht das Vergehen, sondern die Ungeschicklichkeit bestrafen. Endlich, wenn meiner Seele von Natur das Wesen des Schönen und die Liebe zu ihm eingeprägt ist, so werde ich es so lange zur Richtschnur haben, als das Gepräge nicht verwischt wird. Aber was giebt mir die Gewißheit, daß ich stets in seiner Reinheit dieses innere Bild bewahren werde, für welches es unter den sichtbaren Wesen kein Muster giebt, womit man es vergleichen könnte? Ist es denn nicht bekannt, daß ungeregelte Neigungen das Unheil ebenso bestechen wie den Willen, und daß das Gewissen sich verändert und abweichend gestaltet in jedem Jahrhundert, in jedem Volke, in jedem Einzelnen, je nach der Unbeständigkeit und Mannichfaltigkeit der Vorurtheile?

Beten Sie das ewige Wesen an, mein würdiger und weiser Freund, und mit Einem Hauche zerstören Sie jeneV ernunftphantome, die nur eine Scheingestalt haben und wie ein Schatten vor der unwandelbaren Wahrheit fliehen. Nichts ist, außer durch Ihn, der ist: Er ist es, der der Gerechtigkeit ein Ziel, der Tugend eine Grundlage, diesem kurzen Leben, wenn es angewendet wird, ihm zu gefallen, einen Werth giebt; Er ist es, der nicht müde wird, den Strafbaren zuzurufen, daß ihre geheimen Sünden alle gesehen sind, und der dem mißachteten Gerechten zu sagen weiß: deine Tugenden haben einen Zeugen; Er ist es, der in seinem unveränderlichen Wesen das wahre Urbild der Vollkommenheiten darbietet, von denen wir alle das Abbild in uns tragen. Mögen es immerhin unsere Leidenschaften entstellen, alle seine Züge, mit dem unendlichen Wesen verwachsen, treten immer wieder vor die Vernunft und helfen ihr das wiederherstellen, was Lüge und Irrthum verunstaltet hatten. Die Unterscheidung scheint mir leicht zu machen, der gemeine Verstand reicht dazu hin. Alles, was unzertrennlich ist von der Idee dieses Wesens, ist Gott, alles Uebrige Menschenwerk. In der Betrachtung des göttlichen Urbildes reinigt und erhebt sich die Seele, lernt ihre niederen Neigungen verachten und ihr böses Trachten überwinden. Ein Herz, welches von diesen erhabenen Wahrheiten durchdrungen ist, giebt sich der Kleinheit menschlicher Leidenschaften nicht hin; jene unendliche Erhabenheit macht deren Hoffart zum Ekel; der Reiz der Contemplation entrückt es den irdischen Begierden; und selbst wenn es ein unendliches Wesen nicht gäbe, wäre es noch gut, daß sich der Mensch mit diesem Gedanken unaufhörlich beschäftigte, um mehr Herr seiner selbst, tüchtiger, glücklicher und weiser zu werden.

Verlangen Sie ein recht schlagendes Beispiel von der eiteln Sophistik einer Vernunft, die sich nur auf sich selbst stützt? Betrachten wir einmal mit kaltem Blute die Aussprüche dieser Herren Philosophen, dieser würdigen Lobredner des Verbrechens, die nie ein anderes als ein schon verdorbenes Herz verführten. Sollte man nicht meinen, diese gefährlichen Klügler hätten es mit ihrem Angriff auf das heiligste und hehrste Bündniß geradezu darauf abgesehen, mit Einem Streiche die ganze menschliche Gesellschaft zu vernichten, die nur auf die Treue der Verträge gegründet ist? Aber sehen Sie doch, auf welche Art sie den geheimen Ehebruch entschuldigen. Es entspringt daraus, sagen sie, kein Uebel, selbst nicht für den Gatten, der nichts davon weiß: als ob sie sicher wären, daß er nie etwas davon erfahren würde! als ob es hinreichend wäre, um Meineid und Untreue zu rechtfertigen, daß dadurch kein Dritter Schaden leidet! als ob es zur Verabscheuung des Verbrechens nicht an dem Uebel genügte, das es Denen zufügt, die es begehen! Wie denn? Ist das kein Uebel, treulos zu sein, so viel an Einem ist, die Kraft des Eidschwurs und der unverbrüchlichsten Verträge zu vernichten? Kein Uebel, sich selbst zur Schelmerei und Lüge zu zwingen? Kein Uebel, Bündnisse einzugehen, die uns das Unglück und den Tod eines Anderen wünschenswerth machen, ja den Tod Desjenigen, den man am meisten zu lieben schuldig ist, und mit dem man geschworen hat zu leben? Kein Uebel ein Zustand, dessen Frucht immer noch tausend andere Verbrechen sind? Ein Gut, das so viele Uebel hervorbrächte, wäre um deßwillen allein schon selber ein Uebel.

Kann der eine von beiden Theilen denken, er sei unschuldig, weil er vielleicht von seiner Seite frei ist und Niemanden die Treue bricht? Es wäre eine grobe Täuschung. Nicht nur das Interesse der Gatten ist es, sondern die gemeinsame Sache aller Menschen, daß die Reinheit der Ehe nicht getrübt werde. So oft sich zwei Gatten durch ein feierliches Bündniß zusammengeben, tritt eine stillschweigende Verpflichtung für das ganze menschliche Geschlecht ein, dieses Band heilig zu halten, in Jenen den Ehebund zu achten; und dies ist, wie mir scheint, ein sehr starker Grund gegen heimliche Ehen, welche, da sie durch kein äußeres Zeichen das Bündniß kenntlich machen, unschuldige Herzen der Gefahr aussetzen, in ehebrecherischer Liebe zu entbrennen. Das gesammte Volk ist gewissermaßen Bürge für eine Uebereinkunft, die in seiner Gegenwart geschlossen wird, und man kann sagen, daß die Ehre einer züchtigen Frau unter dem besonderen Schutze aller rechtlichen Menschen steht. Also wer sie zu verführen wagt, sündigt erstlich, weil er sie zur Sünde verleitet, und man immer an den Verbrechen Theil hat, zu denen man Andere bestimmt; er sündigt sodann unmittelbar selbst, weil er die öffentlich anerkannte und geheiligte Treue des Ehebundes verletzt, ohne welche in rechtmäßiger Ordnung der menschlichen Angelegenheiten nichts bestehen kann.

Das Verbrechen ist geheim, sagen sie, und es erwächst für Niemanden ein Uebel daraus. Wenn diese Philosophen an das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele glauben, können sie dann ein Verbrechen geheim nennen, das Den zum Zeugen hat, der vor Allen beleidigt und der einzige wahre Richter ist? Eine schöne Heimlichkeit, die man vor Aller Augen versteckt, nur nicht vor denen, die man am meisten dabei zu fürchten hat! Gesetzt aber auch, sie erkennen die Allgegenwart der Gottheit nicht an, wie dürfen sie dennoch behaupten, daß sie Niemanden Uebles thun? Wie können sie beweisen, daß es einem Vater gleichgültig ist, Erben zu haben, die nicht aus seinem Blute stammen, vielleicht mit mehr Kindern beladen zu sein, als er gehabt haben würde, und gezwungen, sein Gut mit den Pfändern seiner Unehre zu theilen, für die er kein Vaterherz hat? Nehmen wir an, diese Rechenmeister seien Materialisten; so hat man nur umso mehr Grund, ihnen die süße Stimme der Natur entgegenzuhalten, welche im Grunde aller Herzen gegen eine hochmüthige Philosophie Einspruch erhebt, und die man noch nie mit guten Gründen angreifen konnte. In der That, wenn der Leib allein den Gedanken erzeugt, und das Gefühl lediglich von den Organen abhängt, müssen dann nicht zwei Wesen, die aus einerlei Blute sind, einen engeren Zusammenhang, eine stärkere Zuneigung zu einander haben, und sich der Seele wie dem Gesichte nach ähnlich sehen, was doch ein Hauptgrund ist, sich zu lieben?

Heißt es also, Ihrer Meinung nach, kein Uebles zufügen, wenn man diese naturgemäße Bereinigung durch ein fremdes Blut aufhebt oder stört, und in ihrer Grundlage die gegenseitige Liebe zerrüttet, welche alle Glieder einer Familie an einander ketten soll? Giebt es einen rechtschaffenen Menschen auf der Welt, der nicht einen Abscheu davor hätte, das Kind eines Andern in der Pflege zu verwechseln? und ist das Verbrechen, es im Mutterschoße zu verwechseln, geringer?

Wenn ich mein Geschlecht besonders in's Auge fasse, o, wie viele Uebel gewahre ich in dieser Unordnung, von der sie behaupten, sie füge Niemanden Uebles zu; wäre es auch nur die Versunkenheit des strafbaren Weibes, dem der Verlust der Ehre bald alle übrigen Tugenden raubt! Wie viele nur zu sichere Anzeichen hat ein zärtlicher Gatte von einem Einverständniß, das sie durch seine Heimlichkeit gerechtfertigt glauben, wäre es auch nur, daß er sich nicht mehr geliebt sieht von seiner Frau! Was wird sie mit ihren erkünstelten Aufmerksamkeiten Anderes bewirken, als daß sie nur ihre Gleichgültigkeit desto fühlbarer macht? Läßt sich das Auge der Liebe durch geheuchelte Liebkosungen täuschen? Und welche Marter, einer geliebten Person gegenüber, zu fühlen, daß uns der Arm umschlingt und das Herz uns zurückstößt! Ich nehme an, das Glück unterstütze eine Klugheit, die es schon so oft verrathen hat, ich rechne einen Augenblick für nichts die Verwegenheit, seine vorgebliche Unschuld und die Ruhe des Anderen auf Vorsichtsmaßregeln zu setzen, die der Himmel mit tausend Freuden zu Schanden macht: wie viel Falschheit, wie viel Lügen, wie viel Bübereien, um den verdammlichen Umgang zu bedecken, den Mann zu betrügen, Bediente zu bestechen, die öffentliche Meinung zu hintergehen! Welch ein Skandal für Mitschuldige! welch ein Beispiel für Kinder! was soll aus deren Erziehung werden unter allen den Sorgen, die es macht, eine strafbare Liebe ungestraft zu unterhalten? Was wird aus dem Frieden des Hauses und der Einigkeit seiner Häupter? Wie? In dem Allen wäre der Mann nicht gekränkt? Und was soll ihn denn entschädigen für ein Herz, das ihm hätte angehören sollen? was soll ihm die Frau achtungswerth machen? was soll ihm Ruhe und Sicherheit geben? was ihn von seinem gerechten Argwohn heilen? was dem Vater das Vertrauen geben, daß er einem natürlichen Gefühle folgt, wenn er sein eigenes Kind umarmt?

In Betreff der vorgeblichen Liaisons, welche durch Ehebruch und Untreue zwischen Familien begründet werden können, muß man sagen, daß dies weniger ein ernsthafter Grund als ein dummer und plumper Spaß ist, der statt aller Antwort nur Verachtung und Unwillen verdient. Die Verräthereien, die Händel, die Mordthaten, die Vergiftungen, mit denen diese Unordnung zu allen Zeiten die Erde bedeckt hat, zeigen hinlänglich, was man für die Ruhe und Eintracht der Menschen von einer durch Verbrechen herbeigeführten Freundschaft zu erwarten hat. Wenn eine Art Einigkeit die Folge eines solchen elenden verächtlichen Umgangs ist, so gleicht sie eher der einer Räuberbande, die man ausrotten und vertilgen muß, um die rechtmäßigen Gesellschaften sicher zu stellen.

Ich habe meine Entrüstung über dergleichen Grundsätze zurückzuhalten gesucht, um mich ruhig darüber gegen Sie auszusprechen. Je sinnloser ich sie finde, desto weniger darf ich es verschmähen, sie zu widerlegen, damit ich mich selbst beschäme, wenn ich ihnen vielleicht mit zu wenig Abneigung Gehör gab. Sie sehen, wie schlecht sie die Prüfung der gesunden Vernunft aushalten. Wo aber soll man die gesunde Vernunft suchen als bei Dem, der ihre Quelle ist? und was soll man von Denen denken, die diese göttliche Leuchte, die Er ihnen gab, um den Weg zu zeigen, dazu gebrauchen, daß sie die Menschen in's Verderben führen? Trauen wir einer solchen Philosophie nicht, die in Worten kramt; trauen wir einer Tugend nicht, die alle Tugenden untergräbt, und sich dazu hergiebt, alle Laster zu rechtfertigen. um ihnen allen ungestraftfröhnen zu können. Das Mittel, um das, was gut ist, zu finden, ist, daß man es aufrichtig suche, und man kann nicht lange so danach suchen, ohne zu dem Urquell alles Guten hinaufzusteigen. Das habe ich, wie mich dünkt, gethan, seitdem ich mich damit beschäftige, meine Gefühle und meine Vernunft zu berichtigen; das werden Sie besser thun als ich, wenn Sie denselben Weg betreten wollen. Es ist mir tröstlich, zu denken, daß Sie meinen Geist oft mit den erhabenen Gedanken der Religion genährt haben, und Sie, dessen Herz nichts vor mir geheim hielt, würden sich nicht so gegen mich ausgesprochen haben, wenn Sie anders gedacht hätten. Es dünkt mich sogar, als hätten dergleichen Gespräche einen besonderen Reiz für uns gehabt. Die Gegenwart des höchsten Wesens war uns niemals lästig; sie flößte uns mehr Hoffnung als Furcht ein: sie ist immer nur der Seele des Bösen schreckhaft gewesen; wir hatten sie gern zum Zeugen unserer Gespräche, um uns vereinigt zu Ihm zu erheben. Wenn wir uns manchmal in Scham gedemüthigt fühlten, sagten wir, unsere Schwachheit beseufzend: Er liest wenigstens im Grunde unserer Herzen! und waren ruhiger.

Wenn uns diese Sicherheit irreführte, so ist es nun der Grund, auf dem sie ruhte, der uns zur Umkehr bringt, Ist es nicht eines Menschen recht unwürdig, nie zum Einklange mit sich selbst gelangen zu können, eine Regel für sein Denken, eine andere für sein Handeln zu haben, zu denken, als wäre er ohne Leib, zu handeln, als hätte er keine Seele, und nichts von Allem, was er in seinem Leben thut, auf sein ganzes ungetheiltes Ich zu beziehen? Was mich betrifft, so finde ich, daß man mit unseren alten Grundsätzen sehr stark ist, wofern man es nur nicht beim eitlen Speculiren bewenden läßt. Schwach ist der Mensch, und der barmherzige Gott, der ihn schuf, wird ihm die Schwachheit ohne Zweifel verzeihen; aber verbrecherisch ist der Böse, und wird nicht ungestraft bleiben vor dem Urquell aller Gerechtigkeit. Ein Glaubenloser, der übrigens glücklich begabt ist, übt Tugenden, weil er sie liebt, thut das Gute aus Neigung, nicht aus Wahl. Wenn all sein Trachten auf das Rechte geht, so folgt er ihm ungezwungen; er würde ihm aber ebenso folgen, wenn es umgekehrt wäre, denn weswegen sollte er sich Zwang anthun? Der aber, welcher den Vater aller Menschen erkennt und ihm dient, weiß, daß er eine höhere Bestimmung hat; die Lust, sie zu erfüllen, beseelt seinen Eifer, und einer zuverlässigeren Regel folgend als seinen Neigungen, weiß er das Gute zu thun, das ihm schwerfällt, und die Neigungen seines Herzens dem Gebote der Pflicht zu opfern. Zu solchem heldenmüthigen Opfer, o mein Freund, sind wir berufen. Die Liebe, welche uns vereinigte, würde unserem Leben seinen Reiz verliehen haben, Sie überlebte die Hoffnung, sie hat der Zeit und der Trennung getrotzt, hat alle Prüfungen bestanden. Ein so vollkommenes Gefühl durfte nicht an sich selber sterben; es war werth, der Tugend allein zum Opfer dargebracht zu werden.

Ich muß noch weiter gehen: Alles ist zwischen uns verändert, auch Ihr Herz müssen Sie nothwendig ändern. Julie von Wolmar ist nicht mehr Ihre alte Julie; eine gänzliche Umgestaltung Ihrer Gefühle für sie ist unvermeidlich, und es bleibt Ihnen keine andere Wahl, Sie müssen mit diesem Wechsel entweder dem Laster oder der Tugend die Ehre geben. Ich habe eine Stelle im Gedächtniß von einem Autor, den Sie nicht verwerfen werden: „Die Liebe," sagt er, „ist ihres größten Reizes beraubt, wenn sie aufhört ehrenwerth zu sein: um ihren ganzen Werth zu fühlen, muß sich das Herz in ihr gefallen, und muß uns erheben, indem es den geliebten Gegenstand erbebt. Nehmen Sie das Ideal der Vollkommenheit hinweg, und Sie nehmen alle Begeisterung hinweg; nehmen Sie die Achtung hinweg, und die Liebe ist nichts mehr. Wie könnte eine Frau einen Mann ehren, der sich selbst entehrt? Wie wird er selber Die anbeten können, die keine Scheu getragen hat, sich einem gemeinen Verführer hinzugeben? Sie werden sich also bald gegenseitig verachten; die Liebe wird für sie nichts mehr als ein schändlicher Umgang sein; sie werden die Ehre verloren und nicht das Glück gefunden haben [Siehe im 24. Briefe der 1. Abtheilung.].“ Da haben Sie unsere Aufgabe, Freund, Sie selbst haben sie vorgezeichnet. Nie haben sich unsere Herzen köstlicher geliebt, und nie war die Sittlichkeit ihnen theuerer, als in der glücklichen Zeit, da jener Brief geschrieben ward. Sehen Sie also, wohin eine strafbare Liebe, genährt auf Kosten der süßesten Seelengenüsse, uns führen würde! DerAbscheu vor dem Laster, welcher uns beiden so natürlich ist, würde sich in einem jeden von uns bald auf den Mitschuldigen seiner Frevel erstrecken, wir würden uns hassen, weil wir uns zu sehr geliebt und die Liebe würde unter Gewissensbissen sterben. Ist es nicht besser, eine so süße Empfindung zu läutern, um ihr Dauer zu geben? Ist es nicht besser, wenigstens das zu retten, was sich an ihr mit der Unschuld verträgt? Heißt das nicht, gerade das Reizendste an ihr sich retten? Ja, mein guter, würdiger Freund, um uns stets lieb zu behalten, müssen wir auf einander verzichten. Vergessen wir alles Andere, und seien Sie der Geliebte meiner Seele. Dieser Gedanke ist so süß, daß er um Alles tröstet.

So haben Sie nun eine treue Schilderung meines Lebens und eine kunstlose Geschichte alles Dessen, was in meinem Herzen vorgegangen ist. Ich liebe Sie noch immer, zweifeln Sie nicht daran. Das Gefühl, das mich an Sie bindet, ist noch so zärtlich und so lebhaft, daß eine Andere als ich vielleicht dadurch beunruhigt würde; ich habe eines kennen gelernt, das zu verschieden davon war, um mich dem gegenwärtigen nicht anvertrauen zu dürfen. Ich fühle, daß es seine Natur verändert hat, und in dieser Hinsicht wenigstens machen meine vergangenen Fehltritte die Grundlage meiner Sicherheit aus. Ich weiß, daß der strenge Wohlstand und die Paradetugend noch mehr fodern und sich nicht zufrieden geben werden, wenn Sie nicht ganz und gar vergessen wären. Ich glaube eine zuverlässigere Richtschnur zu besitzen und halte mich daran. Ich frage im Stillen mein Gewissen; es wirft mir nichts vor, und niemals trügt es eine Seele, die es aufrichtig zu Rathe zieht. Wenn dies nicht genügt, um mich vor der Welt zu rechtfertigen, so genügt es zu meiner eigenen Ruhe. Wie ist diese glückliche Umwandlung möglich geworden? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich sie lebhaft gewünscht habe. Gott allein hat das Uebrige gethan. Ich möchte denken, daß eine einmal verderbte Seele verderbt für immer sein müsse, und nicht von selbst wieder zum Guten gelangen könne, es sei denn, daß irgend ein plötzlicher Umschwung, eine unerwartete Veränderung in den äußeren Verhältnissen plötzlich alle ihre Beziehungen ändere und durch einen derben Stoß ihr wieder auf den rechten Weg helfe. Wenn alle Gewohnheiten umgestürzt, alle Leidenschaften abgelenkt werden, so könnte es wohl geschehen, daß man, durch die allgemeine Erschütterung wieder in sein ursprüngliches Wesen zurückversetzt, gleichsam ein neues Geschöpf würde, das von Frischem aus den Händen der Natur hervorgeht. Dann mag das Andenken an die frühere Erniedrigung zum Schutzmittel wider einen Rückfall dienen. Gestern war man verworfen und schwach, heute ist man stark und hochherzig. Indem man sich hart neben einander in zwei so verschiedenen Lagen sieht, fühlt man um so mehr den Werth derjenigen, in welche man von Neuem versetzt ist, und wird achtsamer, sich darin zu behaupten. Durch meine Verheiratung habe ich ungefähr das, was ich Ihnen hier deutlich zu machen suche, erfahren. Dieses so gefürchtete Band befreit mich von einer weit furchtbareren Knechtschaft, und mein Gatte wird mir dadurch lieber, daß er mich mir selbst zurückgegeben hat.

Wir waren zu innig mit einander verbunden, als daß unsere Vereinigung, wenn sie einen anderen Charakter annehmen muß, zu Grunde gehen könnte. Wenn Sie eine zärtliche Geliebte verlieren, so gewinnen Sie dafür eine treue Freundin, und was wir auch in der Zeit unserer Täuschungen gesagt haben mögen, ich glaube nicht, daß diese Veränderung zu Ihrem Nachtheil sei. Benutzen Sie sie, wie ich, darum beschwöre ich Sie, besser und weiser zu werden und durch christliche Moral die Lehren der Philosophie zu läutern. Ich werde nie glücklich sein, wenn nicht auch Sie glücklich sind, und ich fühle mehr denn je, daß es kein Glück giebt ohne Tugend. Wenn Sie mich wahrhaft lieben, so geben Sie mir den süßen Trost, zu sehen, daß unsere Herzen nicht weniger einträchtig sind in ihrer Rückkehr zum Guten, als sie es in ihrer Verirrung waren.

Ich glaube keiner Apologie für diesen langen Brief zu bedürfen. Wenn Sie mir weniger theuer wären, würde er kürzer sein. Bevor ich ihn schließe, habe ich noch eine Bitte an Sie. Eine schwere Last liegt auf meinem Herzen, Herr von Wolmar weiß nichts von meinem bisherigen Wandel, aber zu der Treue, die ich ihm schuldig bin, gehört auch eine rückhaltlose Offenheit. Ich würde ihm schon hundert Mal Alles bekannt haben, nur Ihretwegen unterließ ich es. Obgleich ich die Klugheit und Mäßigung des Herrn von Wolmar kenne, hieße es doch immer Sie compromittiren, wenn ich Sie nennte, und ich habe es ohne Ihre Einwilligung nicht thun wollen. Würde es Ihnen mißfallen, wenn ich Sie darum ersuche? Hätte ich Ihnen oder mir zu viel zugetraut, wenn ich mir schmeichle, sie zu erhalten? Bedenken Sie, darum bitte ich Sie, daß eine Zurückhaltung in diesem Punkte nicht unschuldig sein könnte, daß sie für mich mit jedem Tage drückender werden müßte, und daß ich, bis ich Ihre Antwort habe, keinen ruhigen Augenblick haben werde.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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