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Erster Brief.
Frau von Wolmar an Frau von Orbe.

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Inhaltsverzeichnis

Wie lange zögerst du, wieder herzukommen! Dieses ewige Gehen und Kommen steht mir gar nicht an. Wie viele Zeit verlierst du mit der Reise hierher, wo du immer sein solltest, und was noch schlimmer ist, mit der Reise hinweg von hier! Der Gedanke, sich auf so kurze Zeit zu sehen, verdirbt die ganze Freude des Beisammenseins. Fühlst du nicht, daß so abwechselnd bei dir und bei mir sein, nirgend recht sein heißt? Und findest du denn kein Mittel, um bei Beiden zugleich zu sein?

Was machen wir, liebe Cousine? Wie viele kostbare Augenblicke lassen wir verloren gehen, während wir doch keine mehr zu verschwenden haben! Die Jahre nehmen zu, die Jugend fängt an zu fliehen, das Leben verrinnt. Das flüchtige Glück, das es uns bietet, liegt in unsern Händen, und wir versäumen, es zu genießen! Gedenkst du wohl der Zeit, da wir noch Mädchen waren, jener ersten reizenden, lieblichen Zeit, die man in keinem andern Alter wiederfindet, und die das Herz so schwer vergißt? Wie oft, wenn wir uns nur auf wenige Tage, ja wenige Stunden trennen mußten, sprachen wir traurig beim Abschiede: Ach, wenn wir erst unsere eignen Herren sein werden, dann soll uns nichts mehr trennen! Wir sind es jetzt, und wir leben die Hälfte des Jahres getrennt von einander. Wie denn? Lieben wir uns weniger als damals? Liebe, theure Freundin, wir fühlen ja Beide, wie die Zeit, die Gewohnheit und deine Wohlthaten unsere Anhänglichkeit stärker und unauflöslicher gemacht haben. Mir wenigstens scheint deine Abwesenheit mit jedem Tage unerträglicher, und ich kann keinen Augenblick ohne dich sein. Diese Zunahme unserer Freundschaft ist natürlicher als es scheinen mag; sie hat ihren Grund eben sowohl in unserer Lage, als in unseren Charakteren. Je älter man wird, auf einen desto engern Kreis schränken sich alle Gefühle ein; man büßt täglich etwas von dem ein, was Einem theuer war, und findet keinen Ersatz dafür. So stirbt man gliedweise ab, bis man zuletzt nichts liebt, als sich selbst, und aufgehört hat, zu fühlen und zu leben, ehe man aufhört da zu sein. Aber ein empfindsames Herz wehrt sich aus allen Kräften gegen diesen vorzeitigen Tod; wenn die Kälte in den äußersten Gliedern anhebt, sammelt es um sich seine ganze natürliche Wärme; jemehr es verliert, destomehr hängt es sich an das, was ihm bleibt, und ist an den letzten Gegenstand, so zu sagen, mit den Banden aller übrigen geknüpft.

Diesen Zustand glaube ich schon zu empfinden, obgleich ich noch jung bin. Ach, Liebe, mein armes Herz hat so geliebt! es hat sich so frühe erschöpft, daß es vor der Zeit alt wird, und so viele verschiedene Neigungen haben es so aufgezehrt, daß für neue Bande kein Raum mehr übrig ist. Du hast mich nach und nach als Tochter, als Freundin, als Liebende, als Gattin und als Mutter gesehen. Du weißt, ob mir alle diese Verhältnisse theuer waren! Einige der Bande sind zerrissen, andere gelockert. Meine theure Mutter ist nicht mehr; ich kann nichts mehr thun, als um sie weinen, und nur noch halb schmecke ich das süßeste Gefühl der Natur. Die Liebe ist erloschen, auf ewig, und auch dies ist eine Stelle, die nicht wieder auszufüllen ist. Wir haben deinen guten, zärtlichen Mann verloren, den ich als die theure Hälfte deines Selbst liebte, und der deine Zärtlichkeit und meine Freundschaft so sehr verdiente. Wenn meine Söhne größer wären, so würde die Mutterliebe alle diese Lücken ausfüllen, aber diese Liebe bedarf, wie jede, des Austausches, und welche Erwiderung kann eine Mutter von einem Kinde von vier oder fünf Jahren erwarten? Wir lieben unsere Kinder lange bevor sie es fühlen und uns wieder lieben können, und doch ist das Bedürfniß so groß, Einem, der uns versteht, zu sagen, wie sehr wir sie lieben. Mein Mann versteht mich, aber er antwortet mir nicht, wie ich es mir wünsche; er schwärmt nicht wie ich, seine Liebe zu ihnen ist vernünftiger; ich brauche eine, die lebhafter ist und mehr der meinigen gleicht. Ich muß eine Freundin haben, eine Mutter, die ebenso verliebt als ich in meine und ihre Kinder ist. Mit einem Worte, daß ich Mutter bin, macht mir die Freundschaft noch unentbehrlicher, um. ohne Furcht zu langweilen, unaufhörlich von meinen Kindern sprechen zu können. Ich fühle, daß mir die Liebkosungen meines kleinen Marcellin doppeltes Vergnügen machen, wenn ich sehe, daß du Theil daran nimmst. Wenn ich deine Tochter umarme, so glaube ich, dich an mein Herz zu drücken. Wir haben es ja hundert Mal gesagt, wenn wir unsere kleinen Püppchen um uns spielen sehen, so machen unsere verbundenen Herzen keinen Unterschied, und wir wissen nicht mehr, welcher von uns jedes von den dreien gehört.

Aber es ist noch nicht Alles: Ich habt sehr triftige Gründe, dich unaufhörlich bei mir zu wünschen, und deine Abwesenheit ist in mehr als einer Hinsicht hart für mich. Bedenke nur, wie sehr ich jeder Verstellung feind bin, und daß ich nun seit fast sechs Jahren in einer beständigen Zurückhaltung dem Manne gegenüber leben muß, der mir von allen Menschen der theuerste ist. Dies verhaßte Geheimhalten drückt mich je länger, desto mehr, und scheint mir doch mit jedem Tage unerläßlicher. Je mehr die Ehrlichkeit fordert, daß ich mich ihm offenbare, desto mehr verhindert mich die Klugheit, es zu thun. Begreifst du, welch ein schrecklicher Zustand es für eine Frau ist, wenn sich Mißtrauen, Lüge und Furcht bis in die Umarmungen ihres Gatten drängen, wenn sie nicht wagt, ihr Herz Dem zu öffnen, der es besitzt, und vor ihm die Hälfte ihres Lebens verbirgt, um die Ruhe der andern Hälfte sicher zu stellen? Und vor wem, o mein Gott, muß ich meine geheimsten Gedanken verstecken, und das Innere einer Seele verschließen, mit der er so viel Ursache hatte zufrieden zu sein? Vor Herrn von Wolmar, vor meinem Manne, dem würdigsten Gatten, mit dem nur der Himmel die Tugend eines züchtigen Mädchens hätte belohnen können. Weil ich ihn einmal betrogen habe, muß ich ihn alle Tage betrügen, und mich ohne Unterlaß der Güte unwerth fühlen, mit der er mir begegnet. Kein Zeichen seiner Achtung wagt mein Herz sich anzueignen; seine zärtlichsten Liebkosungen machen mich schamroth, und alle Beweise von Achtung und Vertrauen, die er mir giebt, verwandelt mein Genüssen in Vorwürfe und Aeußerungen der Geringschätzung. Es ist recht hart, wenn man sich unablässig sagen muß: Die, welche er ehrt, ist eine Andere als ich; ach, wenn er mich kennte, würde er mir nicht so begegnen. Nein, ich kann diesen schrecklichen Zustand nicht ertragen; ich bin nie allein mit diesem achtungswürdigen Manne, ohne daß es mich drängt, mich vor ihm auf die Knie zu werfen, ihm meinen Fehltritt zu bekennen, und zu seinen Füßen vor Schmerz und Scham zu sterben.

Jedoch die Gründe, welche mich von Anfang an zurückgehalten haben, gewinnen jeden Tag an Kraft, und Alles, was mich bestimmen sollte zu reden, ist ebenso sehr ein Grund zu schweigen. Wenn ich die friedliche Stille unseres Familienlebens ansehe, denke ich nur mit Entsetzen daran, daß ein einziges Wort es unwiederbringlich zerrütten kann. Soll ich, nachdem sechs Jahre in so vollkommener Eintracht verflossen sind, die Ruhe eines so guten und verständigen Mannes stören, der keinen andern Willen hat, als den seiner glücklichen Gattin, und keine andere Freude, als Ordnung und Frieden in seinem Hause herrschen zu sehen? Soll ich durch häuslichen Verdruß die alten Tage eines Vaters trüben, den ich so zufrieden und so entzückt über das Glück seiner Tochter und seines Freundes sehe? Soll ich diese lieben Kinder, diese guten und so viel versprechenden Kinder der Gefahr aussetzen, eine vernachlässigte, oder ärgerliche Erziehung zu erhalten, die traurigen Opfer der Zwietracht ihrer Eltern zu werden, zwischen einen von gerechtem Unwillen entflammten, von Eifersucht getriebenen Vater und eine unglückliche und strafbare, stets in Thränen gebadete Mutter gestellt? Ich kenne Herrn von Wolmar als den Mann, der seine Frau achtet: weiß ich, wie er sein wird, wenn er sie nicht mehr achten kann? Vielleicht ist er dieser gemäßigte Mann nur, weil die Leidenschaft, die in seinem Charakter die herrschende sein würde, noch nicht Gelegenheit gefunden hat, sich zu entwickeln. Vielleicht wird er in der Hitze des Zornes ebenso heftig sein, als er jetzt, da es ihm an Ursache zum Zorne fehlt, sanft und ruhig ist.

Wenn ich meiner ganzen Umgebung so viele Rücksichten schuldig bin, bin ich nicht auch einige mir selbst schuldig? Machen sechs Jahre sittsamen und regelmäßigen Lebens nicht etwas von den Verirrungen der Jugend gut? Und ist es noch nöthig, mich der Strafe eines Fehltritts preiszugeben, den ich seit so langer Zeit beweine? Ich will es dir gestehen, Cousine, nicht ohne Widerstreben richte ich meinen Blick auf die Vergangenheit; sie demüthigt mich, ja, sie drückt mich ganz darnieder; Schande ist mir zu empfindlich, um nur daran denken zu können, ohne wieder in eine Art Verzweiflung zu fallen. Die Zeit, welche seit meiner Verheirathung verflossen ist, muß ich in's Auge fassen, wenn ich ruhig sein will. Mein gegenwärtiger Zustand giebt mir ein Selbstvertrauen, das die zudringlichen Erinnerungen mir rauben wollen. Ich erfrische gern mein Herz mit dem Gefühle einer ehrenhaften Stellung, die ich wieder gewonnen zu haben glaube. Der Stand der Gattin und Mutter hebt mir die Seele, und hält mich aufrecht gegen die Gewissensbisse, die aus einer früheren Lage herrühren. Wenn ich mich von meinen Kindern und ihrem Vater umgeben sehe, scheint Alles um mich her Tugend zu athmen; sie verbannen aus meinem Geiste jeden Gedanken an meine alten Fehltritte. Ihre Unschuld ist der Schutz der meinigen, sie werden mir nur immer theuerer, indem sie mich besser machen; und ich habe einen solchen Abscheu vor Allem, was der Ehrbarkeit zuwider ist, daß ich mich kaum für dieselbe Person halten kann, die einst fähig war, sie aus den Augen zu setzen. Ich fühle mich so entfernt von meiner früheren Gemüthsverfassung, und der gegenwärtigen so sicher, daß ich das, was ich zu sagen hätte, fast wie ein Geständniß ansehe, das nicht mich angeht, und das ich nicht zu machen nöthig hätte.

So schwanke ich unaufhörlich in Unruhe und Angst hin und her, wenn du nicht da bist. Weißt du, was einmal daraus entstehen wird? Mein Vater wird bald nach Bern reisen, und ist entschlossen, nicht eher zurückzukommen, als bis dieser langwierige Proceß beendigt sein wird, den er uns nicht hinterlassen will, daß auch wir uns noch damit quälen, und wohl auch, weil er uns nicht zutraut, daß wir ihn mit rechtem Eifer fortführen würden. Die ganze Zeit bis er wiederkommt, werde ich mit meinem Manne allein sein, und da, fühle ich, wird es fast unmöglich sein, daß mir mein unseliges Geheimniß nicht entwische. Wenn Jemand da ist, weißt du wohl, verläßt Herr von Wolmar oft die Gesellschaft und streift gern in der Gegend umher; er Plaudert mit den Bauern, erkundigt sich nach ihren Verhältnissen, sieht, wie es mit ihrer Wirthschaft steht, hilft ihnen nöthigenfalls mit Geld und gutem Rathe aus. Aber wenn wir allein sind, geht er nur mit mir spazieren; er verläßt dann Frau und Kinder wenig, und giebt sich ihren kleinen Spielen mit so liebenswürdiger Unbefangenheit hin, daß ich in solchen Fällen mich noch zärtlicher für ihn gestimmt finde, als gewöhnlich. Diese gemächlichen Augenblicke sind für die Zurückhaltung um so gefährlicher, als er mich selbst anregt, von ihr zu lassen, und tausend Mal Aeußerungen gethan hat, die mich zu offenem Aussprechen aufzufordern schienen. Früher oder später werde ich ihm mein Herz öffnen müssen, das fühle ich; aber da du willst, daß wir uns zuvor darüber besprechen, und daß es mit aller Vorsicht geschehe, zu welcher die Klugheit räth, so komm nur, und bleibe nicht wieder so lange weg, oder ich stehe für nichts.

Meine süße Freundin, ich muß zu dem Letzten übergehen, und was ich noch zu sagen habe, ist wichtig genug, um mir am schwersten zu fallen. Du bist mir nicht nur nothwendig, wenn ich mit meinen Kindern oder mit meinem Manne allein bin, sondern vorzüglich, wenn ich allein bin mit deiner armen Julie. Die Einsamkeit ist mir gerade deshalb gefährlich, weil sie mir süß ist, und ich sie oft unwillkürlich suche. Nicht, daß mein Herz noch seine alten Wunden fühlte, nein. Du weißt, es ist geheilt, ich fühle es, ich weiß es ganz gewiß: ich wage es, mich für tugendhaft zu halten. Nicht die Gegenwart ist, was ich fürchte; was mich quält, ist die Vergangenheit. Es giebt Erinnerungen, die so furchtbar sind, wie Etwas das man wirklich fühlt; man wird wehmüthig in der Rückerinnerung, man schämt sich, Thränen in den Augen zu fühlen, und man weint nur desto mehr. Diese Thränen, es sind Thränen des Mitleids, der Klage, der Reue; die Liebe hat keinen Theil daran, sie ist für mich nichts mehr; aber ich weine über das Wehe, das sie gestiftet, ich weine über das Schicksal eines achtungswerthen Mannes, dem eine unvorsichtig genährte Flamme die Ruhe, vielleicht das Leben geraubt hat. Ach! gewiß ist er umgekommen auf dieser langen gefahrvollen Reise, die er aus Verzweiflung unternahm. Wenn er noch am Leben wäre, vom Ende der Welt würde er uns Nachricht von sich gegeben haben; es sind fast vier Jahre seit seiner Abreise verflossen. Das Geschwader, mit welchem erging, hat, wie man hört, tausend Unfälle erlitten, drei Viertel seiner Mannschaft eingebüßt; mehrere Schiffe sollen gänzlich untergegangen sein, und von den übrigen weiß man jetzt auch nichts mehr. Er ist todt, er ist todt; eine geheime Ahnung sagt es mir. Der Unglückliche wird eben so wenig als so viele Andere dem Schicksale entronnen sein. Das Meer, Krankheiten, die noch grausamere Trübsal wird seine Tage abgekürzt haben. So geht hienieden Alles hin, was einen Augenblick lang glänzt. Das fehlte noch zu meinen Gewissensqualen, daß ich mir den Tod eines rechtschaffenen Mannes vorzuwerfen hätte. Ach, meine Liebe, was für eine Seele war dies! .... Wie konnte er lieben! .... Er war es werth zu lieben .... Er wird vor den höchsten Richter eine Seele gestellt haben, schwach, aber gesund und voll Liebe zur Tugend .... Vergeblich mühe ich mich ab, diese traurigen Gedanken zu verbannen, jeden Augenblick kommen sie mir unwillkürlich wieder ein. Um sie zu verscheuchen, oder wenigstens in Ordnung zu halten, bedarf deine Freundin deiner, und da ich den Unglücklichen nicht vergessen kann, so will ich lieber von dir mit ihm reden, als allein an ihn denken.

Sieh nur, wie viele Gründe das Bedürfniß steigern, das ich beständig empfinde, dich bei mir zu haben! Wenn für dich, die du vernünftiger und glücklicher bist, diese Gründe auch nicht vorhanden sind, fühlt deshalb dein Herz weniger dasselbe Bedürfniß? Wenn es wahr ist, daß du dich nicht wieder verheiraten willst, sage doch, da du in deiner Familie so wenig Befriedigung findest, welches Haus kann dir mehr zusagen, als dieses hier? Mich, sieh, mich schmerzt es, dich in dem deinigen zu wissen; denn, wie du dich auch verstellen magst, ich weiß recht gut, wie du dort lebst, und lasse mich nicht durch die angenommene Lustigkeit täuschen, welche du uns in Clarens zum Besten gabst. Du hast mir in meinem Leben manchen Fehler vorgeworfen; aber ich habe dir deinerseits einen recht großen vorzuwerfen, nämlich, daß du dich mit deinem Schmerze immer verschließest und zurückziehst. Du versteckst dich, wenn du traurig bist, als ob du dich schämtest, vor deiner Freundin zu weinen. Clara, das liebe ich nicht. Ich bin nicht ungerecht wie du; ich tadle deinen Schmerz nicht; ich will nicht, daß du nach zwei oder zehn Jahren, ja, in deinem ganzen Leben aufhörst, das Andenken eines so zärtlichen Gatten zu ehren; aber ich tadle dich, die du deine schönsten Tage damit hingebracht hast, mit deiner Julie zu weinen, daß du es ihr nicht gönnst, nun auch mit dir zu weinen, und mit ehrenwertheren Thränen die Schmach jener, die sie an deinem Busen vergoß, auszulöschen. Wenn es dir verdrießlich ist, traurig zu sein, ach, dann kennst du die wahre Traurigkeit nicht. Wenn du ein gewisses Vergnügen darin findest, warum willst du es mich nicht theilen lassen? Weißt du nicht, daß das Ausschütten der Herzen der Trübsal etwas Süßes und Wehmüthiges mittheilt, das ein zufriedenes Leben nicht gewähren kann? Und ist nicht die Freundschaft recht eigentlich den Unglücklichen verliehen zum Trost in ihren Leiden und zur Linderung ihrer Schmerzen?

Sieh, Liebe, Alles das solltest du bedenken und ich muß noch hinzufügen, daß ich bei dem Vorschlage, daß du bei mir wohnen sollst, nicht weniger im Namen meines Mannes als in meinem eigenen spreche. Er hat sich öfters, wie mir schien, darüber gewundert, ja, fast Anstoß daran genommen, daß zwei solche Freundinnen, wie wir sind, nicht zusammenwohnen; er versichert, daß er es dir selbst gesagt habe, und er ist nicht der Mann, der Etwas nur so hinspricht. Ich weiß nicht, wie du dich nach diesen meinen Vorstellungen entschließen wirst; ich hoffe, so, wie ich es wünsche. Mein Entschluß steht jedenfalls fest, und ich werde nicht davon weichen. Ich habe die Zeit nicht vergessen, da du mir nach England folgen wolltest. Jetzt, unvergleichliche Freundin, ist die Reihe an mir. Du kennst meinen Widerwillen gegen die Stadt, meine Neigung zum Landleben und zu ländlichen Arbeiten, und du weißt, wie lieb mir durch diesen dreijährigen Aufenthalt mein Haus in Clarens geworden ist. Es ist dir auch nicht unbekannt, wie viel Unruhe es macht, mit einer ganzen Familie umzuziehen und wie es wahrlich die Gefälligkeit meines Vaters mißbrauchen heißt, wenn man ihn so oft umsiedelt. Nun wohl! wenn du nicht deine Wirthschaft verlassen und dich an die Spitze der meinigen stellen willst, so bin ich entschlossen, ein Haus in Lausanne zu miethen, wo wir dann alle bei dir wohnen werden. Entscheide dich also; Alles drängt dazu, mein Herz, meine Pflicht, mein Glück, meine gerettete Ehre, meine wiedererlangte Vernunft, meine Lage, mein Mann, meine Kinder, ich selbst; dir verdanke ich Alles, was ich um mich sehe, erinnert mich daran, und ohne dich bin ich Nichts. Komm also, meine Herzensgeliebte, mein Schutzengel, komm und stelle dein Werk sicher, komm und freue dich der Frucht deiner Wohlthaten. Laß unsere Familien nur Eine sein, wie wir, um sie zu lieben, nur Eine Seele haben; du wirst über die Erziehung meiner Söhne, ich werde über die deiner Tochter wachen: wir werden die Mutterfreuden doppelt genießen. Wir werden unsere Herzen gemeinsam zu Dem erheben, der das meinige durch deine Bemühungen gereiniget hat; so wird uns weiter nichts auf dieser Welt zu wünschen übrig bleiben, und wir werden im Schoße der Unschuld und der Freundschaft das andere Leben still erwarten.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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