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Siebenter Brief.
Frau von Wolmar an Frau von Orbe.

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Inhaltsverzeichnis

Wenn du unserer Bitte nachgegeben und deine Abreise aufgeschoben hättest, so würdest du noch das Vergnügen gehabt haben, deinen Schützling zu umarmen. Er kam vorgestern an und wollte heute zu dir reisen; aber eine Art Hexenschuß, den er von der Reise und der Anstrengung davongetragen. zwingt ihn, das Zimmer zu hüten, und er ist heute Morgen zur Ader gelassen [Was? Zur Ader gelassen? Ist das auch in der Schweiz Mode?] worden. Uebrigens hatte ich mir fest vorgenommen, zu deiner Strafe ihn nicht so bald fortzulassen; und du kannst nur hierher kommen, wenn du ihn sehen willst; denn sonst, verspreche ich dir, wirst du ihn noch lange nicht zu sehen bekommen. Wahrhaftig, das wäre mir ein schöner Einfall, ihn die Unzertrennlichen getrennt sehen zu lassen.

In der That, Cousine, ich weiß nicht, was für leere Schreckbilder mir in Betreff seines Herkommens den Geist benebelt hatten, und ich schäme mich jetzt, daß ich mich so heftig dagegen sträubte Je mehr ich das Wiedersehen fürchtete, desto mehr würde es mir nun leid sein müssen, wenn ich ihn nicht gesehen hätte; denn seine Gegenwart hat die Furcht zerstreut, welche mich noch innerlich quälte, und die leicht zu einer gegründeten hätte werden können, wenn ich mich weiter in Gedanken mit ihm beschäftigt hätte. Die Anhänglichkeit, welche ich für ihn habe, beängstigt mich jetzt so wenig, daß ich glaube, ich würde mir weniger trauen, wenn ich fände, daß er mir weniger theuer wäre; aber ich liebe ihn so zärtlich wie jemals, ohne ihn jedoch auf dieselbe Weise zu lieben. Aus der Vergleichung dessen, was ich jetzt bei seinem Anblicke empfinde, und was ich ehemals empfand, schöpfe ich die Ruhe über meinen gegenwärtigen Zustand, und in diesen so verschiedenartigen Empfindungen ist der Unterschied um so fühlbarer, je größer ihre Lebhaftigkeit ist.

Was ihn betrifft, so habe ich ihn zwar im ersten Augenblicke erkannt, habe ihn aber doch sehr verändert gefunden, und, was ich mir früher nicht hätte möglich denken können, in vieler Hinsicht, wie mir scheint, zu seinem Vortheil. Den ersten Tag ließ er einige Verlegenheit blicken, und ich selbst hatte Mühe, ihm die meinige zu verbergen, aber es währte nicht lange, so nahm er den festen Ton und die offene Miene an, die seinem Charakter angemessen sind. Ich hatte ihn immer ängstlich und schüchtern gesehen; die Furcht, mir zu mißfallen und vielleicht die geheime Scham über eine Rolle, die eines Mannes von Ehre wenig würdig ist, gaben ihm vor mir etwas Demüthiges und Knechtisches, worüber du mehr als einmal mit Recht gespottet hast. Anstatt der sklavischen Unterwürfigkeit zeigt er jetzt das achtungsvolle Benehmen eines Freundes, der die Person zu ehren weiß, welche er werthschätzt; er spricht mit Anstand und mit Sicherheit; er hat nicht zu besorgen, daß seine moralischen Grundsätze seinen Interessen widerstreiten; er hat nicht Furcht, sich zu schaden oder mich zu beleidigen, wenn er lobt, was lobenswürdig ist, und man merkt an Allem, was er sagt, das Selbstvertrauen eines geraden und gesinnungsvollen Mannes, dem sein eigenes Gefühl den Beifall spendet, welchen er sonst nur in meinen Blicken suchte. Ich finde auch, daß das Leben in der Welt und die Erfahrung ihm jenen absprechenden und pedantischen Ton abgestreift haben, welchen man sich in der Studirstube aneignet, daß er weniger geschwind bei der Hand ist, über Menschen zu urtheilen, seit er mehr beobachtet hat, weniger eilig, allgemeine Sätze aufzustellen, seit er so viele Ausnahmen erfahren hat, und daß ihn überhaupt die Liebe zur Wahrheit von dem systematischen Tik geheilt hat; kurz, sein Gespräch ist weniger blendend, aber vernünftiger, und man lernt weit mehr von ihm, seit er nicht mehr so gelehrt ist.

Auch sein Aeußeres ist verändert und nicht weniger vortheilhaft; sein Gang ist fester, seine Bewegung freier, seine Haltung stolzer; er hat von seinen Kampagnen ein gewisses martialisches Wesen heimgebracht, das ihm um so besser steht, als er in seinen Geberden, die lebendig und sprechend sind, wenn er lebhaft wird, übrigens gemessener und gesetzter ist, als ehemals. Er ist ein Seemann geworden, der in seiner Haltung phlegmatisch und kalt ist, aber im Sprechen rasch und feurig. Jetzt, nach zurückgelegtem dreißigsten Jahre, ist sein Gesicht das eines vollendeten Mannes und vereinigt mit dem Feuer der Jugend den Adel des reifen Alters. Seine Farbe ist nicht wieder zu kennen; er ist schwarz wie ein Mohr und hat starke Pockennarben. Liebe, ich muß dir Alles sagen, diese Narben sind mir ein Bißchen peinlich anzusehen, und ich ertappe mich oft darauf, daß ich sie wider Willen ansehe.

Ich glaube, zu bemerken, daß ich nicht nur ihn betrachte, sondern daß er mit nicht geringerer Aufmerksamkeit mich betrachtet. Nach einer so langen Trennung ist es natürlich, daß man sich mit einer gewissen Neugier ansieht; aber wenn in dieser Neugier etwas von unserer alten Lust zu liegen scheint, welch ein Unterschied dennoch in dem Wesen, wie in dem Grunde derselben! Wenn unsere Blicke sich weniger oft begegnen, sehen wir uns dafür mit mehr Freiheit an. Es ist, als ob eine stillschweigende Uebereinkunft zwischen uns bestände, uns wechselweise zu betrachten. Jeder fühlt gleichsam, wann die Reihe an ihm ist, und sieht weg, wann des Andern Reihe kommt. Kann man ohne Freude, wenn auch die innere Aufregung weg ist, wiedersehen, was man einst so zärtlich liebte, und noch mit so reiner Liebe umfaßt? Wer weiß, ob nicht hierbei die Eigenliebe thätig ist, die begangenen Verirrungen bei sich zu entschuldigen? Wer weiß, ob nicht jeder von Beiden nun, da ihn die Leidenschaft nicht mehr blind macht, sich gern noch sagen möchte: ich hatte nicht so übel gewählt? Wie dem auch sei, ich schäme mich nicht, es noch einmal zu sagen, ich trage für ihn noch süße Gefühle in mir, die so lange dauern werden als mein Leben. Weit entfernt, mir diese Gefühle zum Vorwurfe zu machen, bin ich stolz darauf; wenn ich sie nicht hätte, würde ich mich dessen schämen, wie eines Charakterfehlers und eines Beweises von einem schlechten Herzen. Was ihn betrifft, so darf ich glauben, daß, nächst der Tugend, ich Dasjenige bin, was er auf der Welt am meisten liebt. Ich fühle, daß er es sich zur Ehre rechnet, mir werth zu sein; ich rechne es mir ebenso zur Ehre, daß ich ihm werth bin, und werde verdienen es zu bleiben. Ach, wenn du sähest, mit welcher Zärtlichkeit er meine Kinder liebkost, wenn du wüßtest, wie viel Vergnügen es ihm macht, von dir zu sprechen, Cousine, so würdest du erkennen, daß ich ihm noch theuer bin.

Mein Vertrauen auf die gute Meinung, die wir Beide von ihm haben, wird dadurch bestärkt, daß Herr von Wolmar sie theilt, und daß er, seit er ihn gesehen hat, selbst so viel Gutes von ihm denkt, als wir ihm nur immer gesagt hatten. Er hat mit mir diese beiden Abende viel über ihn gesprochen: er wünschte sich Glück, so gehandelt zu haben, wie er gethan hat, und schalt mich, daß ich mich dawider gesträubt hatte. Nein, sagte er gestern zu mir, wir dürfen einen so wackern Mann nicht in Zweifel über sich selbst lassen: wir werden ihn besser auf seine eigene Tugend bauen lehren, und vielleicht werden wir eines Tages reichere Frucht, als Sie denken, von den Bemühungen ernten, die wir ihm zuwenden wollen. Für den Augenblick will ich Ihnen nur sagen, daß mir sein Charakter gefällt, und daß ich ihn sonderlich von einer Seite schätze, wo er es gewiß nicht vermuthet, nämlich wegen seiner Kälte gegen mich. Je weniger Freundschaft er mir bezeigt, desto mehr Freundschaft gewinnt er mir ab; ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich Schmeicheleien von ihm fürchtete. Dies war die erste Probe, auf die ich ihn stellen wollte. Es muß sich noch eine zweite finden [Der Brief, in welchem von dieser zweiten Probe die Rede war, ist nicht in die Sammlung gekommen; aber ich werde nicht unterlassen seiner Zeit darauf hinzuweisen.], und nach dieser werde ich ihn nicht mehr beobachten. Was diese erstere betrifft, sagte ich zu ihm, so beweist sie nichts weiter, als die Offenheit seines Charakters; denn auch früher hat er sich nie entschließen können, ein unterwürfiges und schmeichelndes Wesen gegen meinen Vater anzunehmen, so viel ihm auch daran liegen mußte, ihn zu gewinnen, und so inständig ich ihn darum gebeten hatte. Es that mir weh, daß er sich dieses einzigen Mittels beraubte, und doch konnte ich ihm nicht zürnen, daß er es nicht über sich vermochte, im Kleinsten falsch zu sein. — Das ist ein ganz anderer Fall, versetzte mein Mann; zwischen Ihrem Vater und ihm bestand eine natürliche Antipathie, welche auf dem Widerspruche ihrer Grundsätze beruhte. Ich, der ich weder ein festes System, noch vorgefaßte Meinungen habe, bin überzeugt, daß er mich nicht von Hause aus haßt; ein leidenschaftloser Mann kann Niemanden Abneigung einflößen. Aber ich habe ihm sein Gut geraubt, das wird er mir nicht so bald vergeben. Er wird mich nur desto zärtlicher lieben, sobald er inne geworden sein wird, daß mich das Böse, das ich ihm zugefügt, nicht abhält, ihm freundlich gesinnt zu sein. Wenn er jetzt Liebe zeigte, so wäre er ein Schuft; wenn er es nie über sich gewönne, so wäre er ein Ungeheuer.

So weit also sind wir, Clärchen, und ich fange an zu glauben, daß der Himmel die Redlichkeit unserer Herzen und die wohlwollenden Absichten meines Mannes segnen werde. Aber wie gut bin ich doch, daß ich dir so umständlich erzähle. Du verdienst es nicht, daß ich so gern mit dir plaudere. Ich habe mir auch vorgenommen, dir nichts mehr zu sagen, und wenn du mehr wissen willst, so komm nur und hole dir's.

N. S. Ich muß dir aber doch noch sagen, was mir mit diesem Briefe begegnet ist. Du weißt, mit welcher Nachsicht Herr von Wolmar das späte Geständniß aufnahm, welches diese unerwartete Rückkunft mir abzwang. Du hast gesehen, mit welcher Güte er meine Thränen zu trocknen und meine Scham zu zerstreuen wußte. Sei es, daß ich ihm nichts Neues sagte, wie du mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit vermuthet hast, sei es, daß er in der That gerührt war von einem Schritte, den nur die Reue veranlaßt haben konnte, nicht nur fuhr er fort, mit mir ganz so wie zuvor umzugehen, sondern er scheint seine Aufmerksamkeiten, sein Vertrauen, seine Achtung gegen mich noch zu verdoppeln und durch sein Betragen die Beschämung gut machen zu wollen, welche mir dieses Geständniß verursacht hat. Du kennst mein Herz, Cousinchen; du kannst dir denken, welchen Eindruck eine solche Handlungsweise auf mich machen muß!

Sobald ich ihn entschlossen sah, unseren alten Lehrer kommen zu lassen, entschloß ich mich meinerseits die beste Vorsichtsmaßregel gegen mich zu gebrauchen, die mir zu Gebote stand, nämlich, meinen Mann selbst zum Vertrauten zu wählen, keine Unterredung unter vier Augen zu haben, deren Inhalt er nicht erführe, und keinen Brief zu schreiben, den er nicht sähe. Ich machte es mir sogar zum Gesetz, jeden Brief so zu schreiben, als ob er ihn nicht sehen würde, und ihn ihm dann zu zeigen. Du wirst in diesem hier eine Stelle finden, welche auf solche Art entstanden ist, und wenn ich mich auch nicht verhindern konnte, beim Schreiben daran zu denken, daß er den Brief sehen würde, so gebe ich mir doch das Zeugniß, daß ich deswegen auch nicht ein Wort anders gesetzt habe. Als ich ihm aber meinen Brief bringen wollte, hat er mich ausgelacht, und hat nicht die Gefälligkeit gehabt, ihn zu lesen.

Ich gestehe dir, daß mir seine Weigerung ein wenig empfindlich war, gleich als hätte er mir nicht zugetraut, daß es mir mit meinem Anerbieten Ernst wäre. Diese Regung ist ihm nicht entgangen, und der offenste und edelste der Menschen beschwichtigte mich bald. Gestehen Sie, sagte er zu mir, daß Sie in diesem Briefe weniger von mir gesprochen haben als gewöhnlich. Ich gab es ihm zu. Wäre es schicklich gewesen, viel von ihm zu sagen, wenn ich im Voraus wußte, daß er das, was ich sagte, sehen würde? Nun wohl, entgegnete er lächelnd, ich will lieber nicht wissen, was Sie über mich sagen, und daß Sie mehr von mir sprechen. Dann fuhr er mit ernsterem Tone fort: die Ehe ist ein zu wichtiger, zu hoher Stand, um jede kleine Herzenseröffnung zu vertragen, die der zärtlichen Freundschaft ganz wohl ansteht. Dieses letztere Band mildert oft zur gelegenen Zeit die ausnehmende Strenge des anderen, und es ist gut, daß eine sittsame und verständige Frau bei einer treuen Freundin Trost, Aufschluß, Rath suchen kann, den sie vielleicht über manche Gegenstände bei ihrem Manne nicht suchen mag. Obgleich ihr nie unter einander Etwas sprechet, was Sie mir nicht willig mittheilen würden, so hüten Sie sich doch, sich hieraus ein Gesetz zu machen, damit diese Pflicht Ihnen nicht zu einem Zwange werde, und daß nicht eure Vertraulichkeit, aus ihrer Enge gerissen, an Reiz verliere. Glauben Sie mir, die Ergießungen der Freundschaft stocken vor einem Zeugen, wer er auch sei. Es giebt tausend Geheimnisse, die drei Freunde wissen müssen, und die sie sich nur zu zweien und zweien sagen können. Sie theilen wohl das Nämliche Ihrer Freundin und Ihrem Gatten mit, aber nicht auf die nämliche Art; und wenn Sie das eine mit dem anderen vermengen wollen, so wird die Folge davon sein, daß Sie Ihre Briefe mehr an mich, als an sie schreiben, und sich mit keinem von uns beiden wohl fühlen; sowohl in meinem eigenen Interesse, als in dem Ihrigen sage ich Ihnen das. Sehen Sie nicht, daß Sie schon die gerechte Scham fürchten, mich in's Gesicht zu loben? Warum wollen Sie uns beiden etwas rauben, sich das Vergnügen, Ihrer Freundin zu sagen, wie theuer Ihnen Ihr Mann ist, und mir das Vergnügen, zu denken, daß Sie in Ihren geheimsten Eröffnungen gerne Gutes von ihm reden? Julie, Julie, setzte er hinzu, indem er mir die Hand drückte und mich liebevoll ansah, wollen Sie sich so erniedrigen, daß Sie zu Vorsichtsmaßregeln greifen, die Ihrer so wenig würdig sind, und wollen Sie sich nie nach Ihrem Werthe schätzen lernen?

Liebe Freundin, ich weiß kaum zu sagen, wie dieser unvergleichliche Mann es anfängt, aber es ist mir vor ihm nicht mehr möglich, mich meiner zu schämen. Wie sehr ich dazu Ursache haben mag, er erhebt mich über mich selbst, und ich fühle, daß er durch sein Vertrauen zu mir, mich dahin bringt, dasselbe wirklich zu verdienen.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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