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Siebzehnter Brief.
Saint-Preux an Milord Eduard.

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Inhaltsverzeichnis

Ich will Ihnen, Milord, von einer Gefahr Bericht geben, welche wir in diesen Tagen zu bestehen hatten, und wobei wir zum Glück mit dem Schrecken und etwas Anstrengung weggekommen sind. Dies verdient einen besondern Brief; Sie werden aus ihm sehen, was mich bestimmt, ihn Ihnen zu schreiben.

Sie wissen, daß das Haus der Frau von Wolmar nicht weit vom See ist, und daß sie gern auf dem Wasser fährt. Vor drei Tagen veranlaßte uns die Unbeschäftigtheit, in welcher wir uns durch die Abwesenheit ihres Mannes befinden und die Schönheit des Abends, eine solche Fahrt für den andern Tag zu verabreden. Um Sonnenaufgang begaben wir uns an das Ufer, nahmen einen Kahn mit Zeug zum Fischen, drei Ruderer, einen Bedienten und schifften uns, mit einigen Vorräthen zum Mittagessen, ein. Ich hatte eine Flinte mitgenommen, um Besolets [Ein Zugvogel auf dem Genfersee. Der Besolet ist nicht gut zu essen.] zuschießen; aber Frau v. Wolmar machte mir Vorwürfe, daß ich Vögel ohne allen Zweck und blos aus Zerstörungslust tödten wollte. Daher belustigte ich mich nur damit, von Zeit zu Zeit Gros-Sifflets, Tiu-Tius, Crenets, Sifflassons zu locken [Verschiedene Vögel auf dem Genfersee. alle sehr gut zu essen. R. — Was ich durch ,,locken“ übersetzt habe, beißt im Original rappeler. Ich habe weder im Dict. de l'Academie noch in anderen mir zu Gebote stehenden Wörterbüchern eine Bedeutung dieses Wortes, die hierher paßte, angeführt gefunden, und die obige auf gut Glück gewählt. — Die Grebe (grèbe) ist eine Taucherart, unser Steißfuß oder Ruch, podiceps. Der Taucher ist übrigens bekanntlich unter allen Umständen schwer zu schießen, wenn auch die Hypothese der Jäger lächerlich ist, daß er den Blitz von der Pfanne sehe und geschwind untertauche ehe ihn die Schrote erreichen. D. Ueb.] und schoß nur ein einziges Mal bei sehr weiter Distanz auf eine Grebe, die ich fehlte.

Wir brachten ein oder zwei Stunden mit Fischen hin, und zwar fünfhundert Schritte vom Ufer. Der Fang war gut; aber mit Ausnahme einer Forelle, die einen Schlag mit dem Ruder bekommen hatte, ließ Julie Alles wieder in's Wasser werfen. Die armen Thiere ängstigen sich, sagte sie, schenken wir ihnen die Freiheit; genießen wir des Vergnügens, das sie haben werden, der Gefahr entronnen zu sein! Die Ausführung dieses Befehls geschah langsam und mit Widerstreben, auch nicht ohne einige Gegenvorstellungen, und ich konnte leicht bemerken, daß unseren Leuten der Fisch, den sie gefangen hatten, lieber gewesen wäre, als die Moral, die ihm das Leben schenkte.

Wir fuhren dann auf's hohe Wasser und als ich, aus einer jugendlichen Lebhaftigkeit, von der es Zeit wäre endlich zurückzukommen, mich daran gemacht hatte. zu „fahren" — [Nager im Originale. Kuustausdruck der Schiffer auf dem Genfersee, welcher das Führen desjenigen Ruders bezeichnet, womit der Kahn gelenkt wird. D. U.], steuerte ich so mitten in den See hinein, daß wir bald mehr als eine Lieue vom Ufer entfernt waren — [Was? Es fehlt viel, daß der See, Clarens gegenüber, zwei Lieues breit sei.]. Dort erklärte ich Julien alle Punkte des prachtvollen Horizonts, der uns umgab. Ich zeigte ihr von ferne die Mündung der Rhone, die in ihrem ungestümen Laufe Plötzlich eine Viertelmeile vom See inne hält, als ob sie sich scheute, seinen klaren, blauen Spiegel mit ihrem schlammigen Wasser zu besudeln. Ich ließ sie die Stufenlagen des Gebirges bemerken, dessen einander entsprechende und gleichlaufende Schichten in dem Raume, welcher sie von einander trennt, ein Bett bilden, das des Flusses, welcher ihn ausfüllt, würdig ist. Von unseren Gestaden ab, lenkte ich ihren bewundernden Blick mit Freuden auf die reichen reizenden Ufer des Waadtlandes, wo die Menge der Ortschaften, die unglaublich dichte Bevölkerung, die grünen, schmuckreichen Gelände überall ein entzückendes Gemälde bilden, wo das Land rings angebaut und fruchtbar, dem Ackersmann, dem Hirten, dem Weinbauer eine sichere Frucht ihrer Arbeit schenkt, die kein habgieriger Zollpächter verschlingt. Dann zeigte ich ihr Chablais auf dem entgegengesetzten Ufer, ein Land, das von der Natur nicht weniger begünstigt ist, und dennoch nur ein Schauspiel des Elends darbietet, und ich machte ihr bemerklich, wie verschieden der Einfluß der beiden Verwaltungssysteme auf Reichthum, Volksmenge und Glück der Bewohner ist. So, sagte ich, öffnet die Erde ihren fruchtbaren Schooß, und spendet ihre Schätze den glücklichen Völkern, welche sie für sich selbst bebauen; sie scheint zu lächeln, und sich kräftiger zu regen bei dem süßen Anblick der Freiheit; sie ernährt die Menschen gern; dagegen verkündigen die elenden Hütten, Haide und Dorngestrüpp, wovon ein halbwüstes Land bedeckt ist, schon von fern, daß ein abwesender Herr dort herrscht, und daß die Erde seinen Sklaven nur mit Widerstreben einige kümmerliche Erzeugnisse liefert, von denen sie keinen Nutzen haben.

Während wir so angenehm damit beschäftigt waren, unsere Augen über die umliegenden Gegenden schweifen zu lassen, erhob sich ein Séchard, welcher uns querüber nach dem entgegengesetzten Ufer hintrieb, und frischte beträchtlich. Als wir wieder wenden wollten, fand sich der Widerstand so stark, daß es unserm gebrechlichen Fahrzeuge unmöglich war, ihn zu überwinden. Bald wurden die Wellen furchtbar, wir mußten die savoyische Küste zu gewinnen und bei dem Dorfe Meillerie Land zu fassen suchen, welches uns gerade gegenüber lag und an dieser Küste fast der einzige Ort ist, wo der flache Strand eine bequeme Landung zuläßt. Aber der Wind, der umgesetzt hatte und stärker geworden war, machte die Anstrengungen unserer Ruderer vergeblich, und trieb uns tiefer unten gegen eine Reihe steiler Felsen, wo man keine Zuflucht mehr findet.

Wir griffen alle zu den Rudern, und fast in demselben Augenblicke hatte ich den Schmerz, zu sehen, daß Julien übel wurde, und daß sie ohnmächtig am Bord des Fahrzeugs hinsank. Zum Glück war sie von Natur für das Wasser gemacht, und dieser Zustand ging schnell vorüber. Indessen wuchsen unsere Anstrengungen mit der Gefahr; von Hitze, Arbeit und Schweiß waren wir ganz erschöpft und außer Athem; da erfrischte Julie, die ihren ganzen Muth wiederfand, den unsrigen durch ihre mitleidigen Liebkosungen; sie trocknete Allen ohne Unterschied das Gesicht ab, und gab den Erschöpftesten der Reihe nach Wein zutrinken, den sie, damit Niemand berauscht würde, in einer Schale mit Wasser mischte. Nein, niemals strahlte Ihre anbetungswürdige Freundin so leuchtend, als in dem Augenblicke, da die Hitze und die Aufregung ihrer Farbe eine höhere Glut gab, und noch mehr steigerte es ihren Reiz, daß man an ihrer gerührten Miene so deutlich sah, wie ihre Bemühungen weniger aus Furcht für ihr Leben, als aus Mitleid mit uns entsprangen. Nur in einem Augenblicke, als zwei Planken, bei einem Stoße, der uns ganz mit Wasser überschüttete, auseinanderwichen, glaubte sie, daß das Fahrzeug geborsten sei, und in dem Schrei dieser zärtlichen Mutter unterschied ich deutlich die Worte: o meine Kinder! soll ich euch nicht wiedersehen? Ich, dessen Einbildungskraft immer das wirklich vorhandene Uebel überfliegt, glaubte, obwohl ich die Gefahr vollkommen gut zu beurtheilen verstand, von Augenblick zu Augenblick das Fahrzeug verschlungen, diese so rührende Schönheit mit den Wellen ringen und von der Blässe des Todes die Rosen ihres Gesichtes überzogen zu sehen.

Endlich mit vieler Arbeit kamen wir wieder nach Meillerie hinauf, und nachdem wir länger als eine Stunde zehn Schritte vom Ufer gekämpft hatten, gelang es uns, Land zu fassen. Als wir an's Ufer gestiegen, war alle Noth und Angst vergessen; Julie nahm die Erkenntlichkeit für alle Mühe, die sich jeder gegeben hatte, auf sich, und während sie in der größten Gefahr nur an uns gedacht, schien es ihr auf dem Lande, als habe man nur sie gerettet. Wir aßen mit dem Appetit, den man bei angestrengter Arbeit gewinnt. Die Forelle wurde zubereitet. Julie, die sie außerordentlich gern ißt, nahm wenig davon, und ich merkte, daß ihr, um unseren Leuten den Verdruß über das Opfer, das sie gebracht hatten, in Vergessenheit zu bringen, dies Mal nicht gerade daran gelegen war, auch mich viel von dem Fische essen zu sehen. Milord, Sie haben es tausend Mal gesagt, stets malt sich im Kleinen wie im Großen diese liebevolle Seele.

Nach dem Essen schlug ich, da das Wasser noch immer hoch ging und das Fahrzeug ausgebessert werden mußte, einen Spaziergang vor.

Julie wandte mir den Wind, die Sonne ein, und sprach auch von meiner Müdigkeit. Ich hatte meine Absichten; daher ließ ich nichts von dem Allen gelten. Ich bin, sagte ich, von Kindheit auf an anstrengende Uebungen gewöhnt; weit entfernt meiner Gesundheit zu schaden, befestigen sie dieselbe, und meine letzte Reise hat mich noch mehr abgehärtet. Was Sonne und Wind betrifft, so haben Sie Ihren Strohhut; wir werden Gehölz und geschützte Orte erreichen; es ist nur darum zu thun, ein wenig zwischen die Felsen zu gehen, und Sie, die Sie ja die Ebene nicht lieben, werden sich dieser kleinen Anstrengung gewiß gern unterziehen. Sie that meinen Willen, und wir gingen, während unsere Leute aßen.

Sie wissen, daß ich nach meinem Walliser Exil vor 10 Jahren nach Meillerie kam, um dort die Erlaubniß zu meiner Rückkehr abzuwarten. Dort war es, wo ich so traurige und so köstliche Tage zubrachte, einzig mit ihr beschäftigt, und von dort schrieb ich ihr jenen Brief, von welchem sie so gerührt war. Ich hatte immer gewünscht, den einsamen Ort wieder zu sehen, der mir im eisigen Winter zur Freistätte gedient, und wo sich mein Herz darin gefallen hatte, sich in sich selbst mit dem Geliebtesten, was es auf der Welt hat, zu unterhalten. Die Gelegenheit, diesen so theuern Ort in einer angenehmeren Jahreszeit zu besuchen, und mit ihr, deren Bild ihn damals mit mir bewohnte, war das, was mich im Geheimen zu diesem Spaziergange antrieb. Ich machte mir eine Lust daraus, ihr alte Denkmäler einer so beständigen und so unglücklichen Leidenschaft zu zeigen.

Wir hatten eine Stunde bis hinauf zu gehen, aber auf einem gewundenen und anmuthig frischen Fußpfade, der, zwischen den Bäumen und Felsen unmerklich aufwärtssteigend, nichts Unbequemes hatte, als die Länge des Weges. Als wir uns der Stelle näherten, und ich meine alten Zeichen wieder erkannte, war mir fast ohnmächtig zu Muthe; aber ich überwand mich, verbarg meine Unruhe und wir langten an. Es war diese einsame Stätte ein gar öder und wilder Ort, aber voll von Schönheiten jener Art, die nur empfindsamen Seelen gefallen und anderen grausig scheinen. Ein Gießbach, den der schmelzende Schnee gebildet, wälzte zwanzig Schritte von uns sein trübes Wasser nieder, und führte Schlamm, Sand und Steine mit sich. Hinter uns trennte eine Kette von unzugänglichen Felsen den Vorsprung, auf welchem wir standen, von jenem Theile der Alpen, den man Les Glacières nennt, weil ungeheuere Eiskuppen, die unaufhörlich wachsen, sie von Anbeginn der Welt bedecken [Diese Berge sind so hoch, daß ihre Gipfel noch eine halbe Stunde nach dem Untergang der Sonne von ihren Strahlen erleuchtet sind, deren Röthe auf den weißen Zinken eine schöne Rosenfarbe hervorbringt, welche man weithin steht.]. Schwarze Tannenwälder bildeten eine schwermüthig düstere Masse zu unserer Rechten. Ein großer Eichenforst befand sich zur Linken jenseit des Gießbachs. Unter unseren Füßen der gewaltige Wasserspiegel des Sees im Schooße der Alpen, der uns von den reichen Gestaden des Waadtlandes trennte, und hinter diesen die majestätischen Gipfel des Jura, das Bild bekrönend.

Mitten unter diesen großartigen und prachtvollen Gegenständen entfaltete das kleine Plateau, auf welchem wir uns befanden, die Reize eines lachenden, ländlichen Aufenthalts; einige Bächlein rannen zwischen den Felsen hervor, und in Krystalladern über das Grün hin; einige wilde Obstbäume hingen mit ihren Wipfeln auf unsere Häupter nieder; der feuchte, frische Boden war mit Kräutern und Blumen bedeckt. Diese liebliche Insel erschien, im Vergleiche mit den schauerlichen Gegenständen rings um sie her, wie das Asyl zweier Liebenden, die allein dem Umsturz der Natur entronnen.

Als wir die Stätte erreicht und ich sie einige Zeit betrachtet hatte, sagte ich zu Julie, indem ich sie mit thränenden Augen ansah: Wie, sagt Ihnen Ihr Herz hier nichts, und fühlen Sie nicht eine geheime Bewegung beim Anblicke eines Ortes, der so voll von Ihnen ist? Dann, ohne ihre Antwort abzuwarten, führte ich sie zu den Felsen, und zeigte ihr ihren Namenszug an tausend Stellen eingegraben, und manche Verse von Petrarca und Tasso, die sich auf die Situation bezogen, in welcher ich mich damals befand, als ich sie einschnitt. Als ich sie selbst nach so langer Zeit wiedersah, empfand ich, wie mächtig der unmittelbare Anblick von Gegenständen die heftigen Gefühle, von denen man bei ihnen bewegt war, wieder aufzuregen vermag. Ich sagte zu ihr mit einigem Ungestüm: O Julie, ewiger Zauber meines Herzens! hier ist die Stätte, wo einst um dich der treuste Liebhaber seufzte: dies der Aufenthalt, wo dein theures Bild sein einziges Glück war, und ihn auf das größere vorbereitete, das ihm endlich von dir selbst zu Theil ward. Man sah damals hier weder diese Früchte, noch dieses Laub; kein Teppich von Gras und Blumen deckte diese Gefilde, diese Bäche theilten sie nicht in Felder, diese Vögel ließen ihren Gesang nicht hören; nur der raubgierige Sperber, der todkrächzende Rabe, der furchtbare Alpenadler weckten mit ihrem Geschrei das Echo dieser Felsgrotten; ungeheuere Eisklumpen lagerten auf allen diesen Felsen, Schneefestons waren der einzige Schmuck dieser Bäume; Alles athmete die Strenge des Winters und den Schauer des Frostes: nur das Feuer meines Herzens machte mir diesen Ort erträglich, und ganze Tage brachte ich hier damit hin, an dich zu denken. Siehe, dies ist der Stein, auf welchem ich saß, um aus der Ferne deinen glückseligen Aufenthalt zu betrachten; auf diesem da wurde der Brief geschrieben, der dein Herz rührte; diese spitzigen Kiesel dienten mir statt Meißels, um deinen Namenszug einzugraben; hier sprang ich durch den eisigen Gießbach, um einen deiner Briefe wieder zu holen, den mir ein Wirbelwind entrissen hatte; dort las ich und küßte tausendmal den letzten, den du mir geschrieben hast; dort ist der Rand, wo ich mit düsteren, gierigen Blicken die Tiefe dieser Abgründe maß; hier endlich war es, wo ich vor meiner traurigen Abreise dich als Sterbende beweinte, und schwor, dich nicht zu überleben. O du, mit allzu großer Beständigkeit geliebtes Mädchen, du, für die ich geboren war, muß ich mich mit dir hier an demselben Orte wiederfinden und mir die Zeit zurücksehnen, die ich da mit Seufzern um deine Abwesenheit verbrachte! .... Ich wollte fortfahren; aber Julie, die, da sie mich näher an den Rand treten sah, erschrocken meine Hand ergriffen hatte, drückte sie mir, ohne ein Wort zu sagen, und blickte mich nur mit Zärtlichkeit an, indem sie einen Seufzer mit Mühe zurückhielt. Dann plötzlich die Augen abwendend, und mich beim Arme nach sich ziehend, sagte sie zu mir mit bewegter Stimme! Kommen Sie fort! die Luft dieses Ortes ist nicht gut für mich. Ich ging mit ihr, ächzend, und ohne ihr zu antworten, und schied auf immer von dieser Trauerstätte, nicht anders, als ich von Julien selbst geschieden sein würde.

Auf einigen Umwegen gingen wir langsam dem Landeplatze zu; dort angelangt, trennten wir uns. Sie wollte allein bleiben, und ich wandelte weiter, ohne recht zu wissen, wohin ich ging. Als ich zurückkam, und der Kahn noch nicht fertig, auch das Wasser noch nicht ruhig war, speisten wir traurig zu Abend, die Augen gesenkt, in Gedanken verloren, aßen wenig und sprachen noch weniger. Nach dem Abendbrod setzten wir uns auf den Strand, um zu warten, bis wir abfahren könnten. Leise ging der Mond auf; das Wasser wurde stiller, und Julie wünschte zu fahren. Ich reichte ihr die Hand, um ihr in den Kahn zu helfen, und mich neben sie setzend, dachte ich nicht mehr daran, ihre Hand loszulassen. Wir verharrten in tiefem Schweigen. Der einförmige, taktmäßige Schlag der Ruder forderte zum Träumen auf. Der ziemlich muntere Ruf der Becassinen, der mich an die Freuden meiner Jugend mahnte, machte mich traurig, statt mich zu erheitern. Immer mehr fühlte ich die Schwermuth zunehmen, von welcher ich befallen war. Der heitere Himmel, die Frische der Luft, der sanfte Strahl des Mondes, das silberne Flimmern des Wassers um uns her, das Zusammentreffen der angenehmsten Eindrücke, selbst die Gegenwart dieser geliebten Person, nichts konnte aus meinem Herzen tausend schmerzliche Betrachtungen verbannen.

Ich fing an, mir eine ähnliche Fahrt zurückzurufen, die ich einst in der reizendsten Zeit unserer ersten Liebe mit ihr gemacht hatte. Alle köstlichen Gefühle, die damals meine Seele erfüllt hatten, wachten wieder in ihr aus, um meinen Schmerz noch zu vergrößern; alle Begebenheiten unserer Jugend, unsere Studien, unsere Unterredungen, unsere Briefe, unsere heimlichen Zusammenkünfte, unsere Freuden,

E tanta fede e sì dolce menorie E sì lungo costume.

[„Und soviel Glaub' und süßes Andenken, Und lange Gewohnheit —“.]

diese Menge kleiner Gegenstände, die mir das Bild meines vergangenen Glückes vorhielten, Alles stellte sich, mein gegenwärtiges Elend zu vermehren, in meiner Erinnerung ein. Es ist vorbei! sprach ich bei mir; diese Zeiten, diese glücklichen Zeiten sind nicht mehr; sie sind dahin auf ewig. Ach! sie werden nicht wiederkehren; und wir leben, und wir sind beieinander, und unsere Herzen sind noch immer vereinigt! Es schien mir, daß ich ihren Tod oder ihre Abwesenheit ruhiger ertragen haben würde, und als hätte ich während der ganzen Zeit, die ich fern von ihr zubrachte, weniger gelitten. Als ich in der Ferne seufzte, erleichterte die Hoffnung, sie wiederzusehen, mein Herz; ich schmeichelte mir, daß ein Augenblick ihrer Gegenwart alle meine Schmerzen verwischen würde; ich sah wenigstens in der Möglichkeit einen weniger grausamen Zustand vor mir. Aber sich bei ihr zu befinden, aber sie zu sehen, sie zu berühren, mit ihr zu sprechen, sie zu lieben, sie anzubeten und fast noch sie besitzend sie auf ewig für mich verloren zu fühlen, dies, dies jagte in mir einen Zorn, eine Wuth auf, die sich bis zur Verzweiflung steigerte. Bald fing ich an, in meinem Geiste unheilvolle Gedanken zu wälzen, und in einem Aufruhr, der mich schaudern macht, indem ich daran zurückdenke, war ich in heftiger Versuchung, sie mit mir in die Wellen hinabzustürzen und dort in ihren Armen mein Leben und meine langen Qualen zu enden. Diese gräßliche Versuchung wurde am Ende so stark, daß ich genöthigt war, ihre Hand plötzlich fahren zu lassen, um vor an die Spitze des Kahnes zu treten.

Dort begann meine gewaltige Aufregung sich zu legen; ein sanfteres Gefühl stahl sich nach und nach in meine Seele, die Wehmuth übermannte die Verzweiflung, ich fing an Ströme von Thränen zu vergießen, und dieser Zustand war, mit jenem verglichen, der ihm vorangegangen, nicht ohne ein gewisses Vergnügen; ich weinte heftig, lange, und fühlte mich erleichtert. Als ich ganz wieder zu mir gekommen war, kehrte ich zu Julien zurück, und ergriff ihre Hand von Neuem. Sie hielt ihr Taschentuch darin, ich fühlte, daß es sehr naß war. Ach! sagte ich leise zu ihr, ich sehe, daß unsere Herzen nie aufgehört haben, sich zu verstehen! Es ist wahr, sagte sie mit bebender Stimme; aber sei es das letzte Mal, daß Sie in diesem Tone gesprochen haben. Wir fingen dann an, ruhig zu plaudern, und nach einer Stunde langten wir ohne weitern Zufall zu Hause an. Als wir eingetreten waren, sah ich beim Scheine der Lichter, daß ihre Augen roth und sehr angeschwollen waren; sie kann die meinigen nicht in besserem Zustande gefunden haben. Nach den Anstrengungen dieses Tages war sie der Ruhe sehr bedürftig; sie zog sich zurück, und auch ich ging schlafen.

Dies, mein Freund, sind die Ereignisse eines Tages in meinem Leben, an welchem ich ohne Ausnahme die lebhaftesten Bewegungen erfahren habe. Ich hoffe, es wird die Krisis gewesen sein, die mich vollständig mir selbst wiedergiebt. Uebrigens muß ich Ihnen sagen, daß dieses Abenteuer mich mehr als alle Beweisgründe von der Freiheit des Menschen und dem Werthe der Tugend überzeugt hat. Wie Viele werden nur schwach versucht, und erliegen! Was Julie betrifft, meine Augen sahen es, und mein Herz fühlte es, sie bestand an diesem Tage den härtesten Kampf, den eine menschliche Seele bestehen kann, sie siegte jedoch. Was habe ich aber gethan, daß ich so weit hinter ihr zurückbleiben muß? O Eduard! als du, verlockt von deiner Geliebten, zugleich über deine und ihre Begierden zu siegen wußtest, warst du da ein bloßer Mensch? Ohne dich wäre ich vielleicht verloren gewesen. Hundertmal an diesem gefahrvollen Tage hat das Andenken an deine Tugend mir die meinige wiedergegeben.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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