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Sechster Brief.
Saint-Preux an Milord Eduard.

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Inhaltsverzeichnis

Ich stehe mitten in der Nacht auf, um Ihnen zu schreiben. Ich kann keinen Augenblick Ruhe finden. Mein bewegtes, entzücktes Herz vermag sich nicht zu halten; es bedarf der Ergießung. Sie Theurer, der Sie es so oft vor Verzweiflung behütet haben, nehmen Sie in das Ihrige die ersten Freuden auf, die es seit so langer Zeit geschmeckt hat. Ich habe sie gesehen, Milord. Meine Augen haben sie erblickt. Ich habe ihre Stimme gehört; ihre Hände haben die meinigen berührt; sie hat mich erkannt, sie hat Freude blicken lassen, mich zu sehen; sie hat mich ihren Freund, ihren lieben Freund genannt; sie hat mich in ihr Haus aufgenommen; glücklicher als je in meinem Leben wohne ich mit ihr unter einem und demselben Dache, und jetzt, indem ich Ihnen schreibe, bin ich dreißig Schritte von ihr.

Meine Gedanken sind zu lebhaft, um einander zu folgen; sie kommen alle zugleich, sie zerstören sich gegenseitig. Ich will eine Pause machen und Athem schöpfen, um zu versuchen, ob ich dann einige Ordnung in meinen Bericht bringen kann.

Kaum hatte ich mich, nach so langer Abwesenheit, der ersten Freude meines Herzens hingegeben, indem ich meinen Freund, meinen Befreier, meinen Vater umarmte, als Sie an die Reise nach Italien dachten. Sie machten sie mir zu etwas Wünschenswerthem durch die Hoffnung, die Sie mir erregten, mir endlich einmal die Last abzunehmen, daß ich Ihnen so unnütz bin. Da Sie die Geschäfte nicht so bald abthun konnten, welche Sie noch in London festhielten, machten Sie mir den Vorschlag, vorauszureisen, um hier, indem ich Sie erwartete, länger bleiben zu können. Ich fragte an, ob ich kommen dürfte, erhielt die Erlaubniß, reiste ab, und obwohl Julie bei dem Gedanken, daß ich mich ihr wieder nahen sollte, in meiner Seele wieder in den Vordergrund trat, fühlte ich doch Schmerz, mich von Ihnen zu trennen. Milord, wir sind quitt, dieses Gefühl allein hat Ihnen Alles abgetragen.

Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß ich auf dem ganzen Wege mit nichts Anderem beschäftigt war, als mit dem Gegenstande meiner Reise; aber ein bemerkenswerther Umstand ist es, daß ich anfing, diesen Gegenstand, der mir nie aus dem Herzen gekommen war, unter einem anderen Gesichtspunkte zu betrachten. Bis dahin hatte ich mir Julie immer vorgestellt, glänzend wie ehedem, in allen Reizen ihrer ersten Jugend; ich hatte immer ihre schönen Augen beseelt gesehen von der Glut, die sie in mir angefacht hatte; ihre geliebten Züge boten meinen Blicken nur Bürgen meines Glückes dar; ihre Liebe und die meinige vermischten sich so mit ihrer Gestalt, daß ich sie nicht davon trennen konnte. Jetzt sollte ich Julie verheiratet sehen, Mutter, eine mir gleichgültige Person. Ich dachte mit Unruhe daran, wie in acht Jahren ihre Schönheit gelitten haben könnte. Sie hatte die Pocken gehabt; sie war schon dadurch entstellt: wie viel mehr konnte sie es nicht seitdem sein? Meine Einbildungskraft wollte sich durchaus nicht dazu verstehen, mir Flecken auf diesem reizenden Gesichte zu zeigen, und sobald ich mir eine Pockennarbe darauf dachte, so war es nicht mehr Juliens Gesicht. Dann dachte ich an das Zusammentreffen, welches wir haben würden, an den Empfang, den sie mir bereiten würde. Dieses erste Begegnen stellte sich meiner Seele in tausend verschiedenen Bildern dar, und der kurze Augenblick, der mir in ihm bevorstand, kam mir tausend Mal des Tages in den Sinn.

Als ich die Berge erblickte, schlug mir das Herz heftig, indem ich zu mir sagte: dort ist sie! Dasselbe war mir auf dem Meere begegnet, als ich die Küsten Europas erblickte. Dasselbe war mir schon damals in Meillerie begegnet, als ich das Haus des Barons v. Étange entdeckte. Die Welt ist für mich in zwei Regionen getheilt, die, wo sie ist, und die, wo sie nicht ist. Die erstere dehnt sich aus, wenn ich mich entferne, und zieht sich zusammen, je näher ich komme, wie ein Ort, den ich nie erreichen soll. Sie ist jetzt in die Mauern von Juliens Zimmer eingeschlossen. Ach! die ganze übrige Welt ist leer.

Je näher ich der Schweiz kam, desto mehr fühlte ich mich bewegt. Der Augenblick, da ich von den Höhen des Jura den Genfersee erblickte, war ein Augenblick der Begeisterung und des Entzückens. Der Anblick meines Vaterlandes, dieses heißgeliebten Landes, wo Wonne in Strömen mein Herz überflutet hatte, die Alpenluft, so gesund und rein, die süße Luft des heimischen Landes, süßer als die Wohlgerüche des Orients, dieser reiche fruchtbare Boden, diese einzige Landschaft, die schönste, die je ein menschliches Auge gesehen hat, diese herrliche Gegend, die ich auf der Welt, die ich umreiste, nicht ähnlich gefunden habe, der Anblick eines glücklichen und freien Volkes, die Lieblichkeit der Jahreszeit, die Heiterkeit des Himmelstriches, tausend köstliche Erinnerungen, die alle Gefühle wieder erweckten, welche ich je genossen hatte, das Alles versetzte mich in ein Entzücken, welches ich nicht beschreiben kann, und schien mir den Genuß meines ganzen Lebens in Einen Punkt zu sammeln.

Als ich abwärts stieg gegen das Ufer hin, empfand ich einen neuen Eindruck, von dem ich noch keine Vorstellung gehabt hatte, eine seltsame Bangigkeit, die mir das Herz zusammenzog, und mich wider Willen ängstigte. Diese Bangigkeit, deren Ursache ich mir nicht klar machen konnte, wuchs, je näher ich der Stadt kam; sie hemmte meinen Eifer die Stadt zu erreichen, und nahm endlich so zu, daß ich mich jetzt eben so sehr über die Geschwindigkeit der Fahrt beunruhigte, als zuvor über die Langsamkeit derselben. Als ich in Vevay ankam, war die Empfindung, die ich hatte, nichts weniger als angenehm; ich wurde von einem heftigen Herzklopfen befallen, welches mir den Athem benahm; ich sprach mit unsicherer, zitternder Stimme. Ich hatte Mühe mich verständlich zu machen, als ich nach Herrn von Wolmar fragte; denn seine Frau zu nennen, getraute ich mir gar nicht. Er wohne, sagte man mir, in Clarens. Diese Nachricht nahm mir ein Gewicht von fünfhundert Pfunden von der Brust, und indem ich die zwei Lieues, die ich nun noch zu machen hatte, für eine Frist nahm, freute ich mich über eine Sache, die mich zu einer andern Zeit in Verzweiflung gebracht hätte. Mit wahrem Kummer aber erfuhr ich, daß Frau v. Orbe in Lausanne wäre. Ich ging in ein Wirthshaus, um wieder Kräfte zu sammeln; es war mir unmöglich, einen einzigen Bissen herunter zu bringen, das Getränk erstickte mich, und ich mußte mehrmals ansetzen, um ein Glas zu leeren. Mein Angstgefühl verdoppelte sich, als ich die Pferde wieder vorlegen sah. Ich glaube, ich würde Alles in der Welt darum gegeben haben, wenn ein Rad unterwegs gebrochen wäre. Ich sah nicht mehr Julie; meine verstörte Einbildungskraft zeigte mir nur verworrene Gegenstände; meine Seele war ganz und gar in Aufruhr. Ich kannte Schmerz und Verzweiflung; diesem schauderhaften Zustande würde ich sie vorgezogen haben. Genug, ich kann sagen, daß ich nie in meinem Leben in einer schrecklicheren Aufregung gewesen bin, als auf diesem kurzen Wege, und ich bin überzeugt, daß ich sie einen ganzen Tag lang nicht würde ausgehalten haben.

Als ich anlangte, ließ ich am Gitter halten, und da ich mich außer Stande fühlte, einen Schritt zu thun, schickte ich den Postillon hinein, um zu sagen, daß ein Fremder Herrn v. Wolmar zu sprechen wünsche. Er war auf dem Spaziergange mit seiner Frau. Die Meldung wurde ihnen gemacht, und sie kamen von einer andern Seite, während ich, die Augen auf die Allee geheftet, wartete und in Todesangst war, Jemanden kommen zu sehen.

Julie erblickte mich kaum, als sie mich erkannte. Mich sehen, aufschreien, laufen, sich in meine Arme werfen, war die Sache eines Augenblicks. Bei dem Tone ihrer Stimme bebe ich zusammen; ich wende mich um, ich sehe sie, ich fühle sie. O Milord, o mein Freund .... ich kann nicht reden fort Zittern, fort Angst, Bangigkeit, Menschenfurcht. Ihr Blick, ihr Schrei, ihre Geberde geben mir in einem Augenblick Vertrauen, Muth und Kräfte wieder. In ihren Armen gewinne ich Wärme und Leben, und bebe vor Freude, sie mit den meinigen umschließend. Ein heiliger Schauer hält uns lange in schweigender, enger Umarmung, und erst nach dieser süßen Regung fangen unsere Stimmen an, sich zu verschmelzen, und unsere Augen ihre Thränen zu vermischen. Herr v. Wolmar war da; ich wußte es, ich sah es. Aber was hätte ich zu sehen vermocht? Nein, wenn die ganze Welt sich gegen mich vereinigt hätte, wenn Marterwerkzeuge mich umdroht hätten, ich hätte mein Herz nicht der kleinsten dieser Liebkosungen entwunden, den zärtlichen Erstlingsfrüchten einer reinen heiligen Freundschaft, die wir mit in den Himmel nehmen werden.

Als der erste Ungestüm nachließ, nahm mich Frau v. Wolmar bei der Hand, und sich zu ihrem Manne wendend, sagte sie zu ihm mit einer Unschuld und lauteren Anmuth, wovon ich mich durchdrungen fühlte: Obgleich er mein alter Freund ist, stelle nicht ich ihn Ihnen vor, ich empfange ihn von Ihnen, und nur wenn ihn Ihre Freundschaft beehrt, wird er in Zukunft die meinige besitzen. — Wenn neuen Freunden die Wärme alter fehlt, sagte er, mich umarmend, so werden doch auch sie einmal alte werden und jenen nichts nachgeben. Ich ließ mich umarmen, aber ich ließ es nur, mein Herz war erschöpft.

Nach diesem kurzen Auftritt bemerkte ich, von der Seite schielend, daß man meinen Koffer abgeschnallt hatte, und meine Chaise in die Remise schob. Julie nahm mich unter den Arm, und ich ging mit ihnen dem Hause zu, fast erdrückt von Freude, als ich sah, daß man Besitz von mir nahm.

Nun erst, da ich mit mehr Ruhe dieses angebetete Gesicht betrachtete, welches ich entstellt zu finden geglaubt hatte, sah ich mit einer bitter und süß gemischten Ueberraschung, daß es wirklich schöner und strahlender war denn je. Ihre reizenden Züge haben sich noch vollkommner ausgebildet; sie hat etwas mehr Fülle, wodurch ihre blendende Weiße gewonnen hat. Die Pocken haben auf ihren Wangen nur einige leichte, fast unmerkliche Spuren hinterlassen. Statt jener schmachtenden Verschämtheit, in welcher sie sonst unaufhörlich die Augen niederschlug, sieht man das Selbstgefühl der Tugend sich in ihrem züchtigen Blick mit Sanftmuth und Empfindung galten; ihre Haltung, ohne weniger sittsam zu sein, ist weniger schüchtern; ein sicheres Wesen und eine freie Anmuth sind an die Stelle jener mehr befangenen, aus Zärtlichkeit und Scham gemischten Manieren getreten, und wenn sie in dem Gefühl ihres Fehltrittes damals etwas Rührenderes hatte, so giebt ihr das Gefühl ihrer Reinheit jetzt etwas Himmlischeres.

Kaum waren wir in dem Salon, als sie verschwand und einen Augenblick darauf wieder erschien. Sie kam nicht allein. Was meinen Sie, daß sie mitbrachte? Milord, ihre Kinder! Ihre beiden Kinder, schön wie der Tag und schon auf ihren kindlichen Gesichtern die Anmuth und den Liebreiz ihrer Mutter tragend. Wie ward mir bei diesem Anblick! Das läßt sich nicht sagen, nicht fassen: man muß es fühlen. Tausend streitende Gefühle standen zugleich in mir auf: tausend schmerzliche und selige Erinnerungen theilten sich in mein Herz. O Anblick, o Trauer, ich fühlte mich zerrissen von Schmerz und entzückt von Freude. Ich sah Die, welche mir so theuer war, gleichsam vervielfältigt. Ach! ich sah in demselben Augenblicke den zu lebendigen Beweis, daß sie mir nichts mehr war, und meine Verluste schienen sich mit ihr zu vervielfältigen.

Sie führte sie mir zu. Da, sagte sie zu mir, mit einem Tone, der mir durch die Seele drang, das sind die Kinder Ihrer Freundin; sie werden einst Ihre Freunde sein: seien Sie von heute an der ihrige. Sogleich drängten sich die beiden kleinen Geschöpfe an mich, faßten mich bei den Händen, und wandelten durch ihre unschuldigen Liebkosungen alle meine Gefühle in Rührung. Ich nahm sie beide in meine Arme und, sie an mein bewegtes Herz pressend, sagte ich mit einem Seufzer: Theure, liebenswürdige Kinder, ihr habt eine große Aufgabe zu erfüllen. Möchtet ihr denen ähnlich werden, von denen ihr das Leben habt! Möchtet ihr ihre Tugenden nachahmen, und eines Tages durch die eurigen der Trost ihrer unglücklichen Freunde werden! Entzückt fiel mir Frau von Wolmar zum zweiten Male um den Hals, und schien mir die Liebe, mit der ich ihre beiden Söhne herzte, mit ihren Liebkosungen vergelten zu wollen. Aber welcher Unterschied zwischen der ersten Umarmung und dieser! Ich empfand es mit Erstaunen. Es war eine Mutter, die ich umarmte; ich sah sie umringt von ihrem Gatten und ihren Kindern; diese Umgebung flößte mir Ehrfurcht ein. Ich fand auf ihrem Gesichte einen Ausdruck von Würde, der mir bis dahin noch nicht aufgefallen war; ich fühlte mich gedrungen, ihr eine neue Art Achtung entgegenzubringen; ihre Traulichkeit war mir fast eine Last; so schön sie mir schien, würde ich mit freudigerem Herzen den Saum ihres Kleides, als ihre Wange geküßt haben: kurz, von Augenblick an erkannte ich, daß sie oder ich verändert sein mußte, und ich begann, mir in allem Ernste Gutes von mir vorherzusagen.

Herr von Wolmar nahm mich darauf bei der Hand, und führte mich in die für mich bestimmte Wohnung. Dies ist Ihr Zimmer, sagte er, als wir eintraten: Es ist kein Fremdenzimmer, es wird keinen Änderen mehr beherbergen, und künftig leer stehen, wenn Sie es nicht inne haben. Sie können denken, ob mir dieses Compliment angenehm war; aber ich verdiente es noch nicht genug, um es ohne Verwirrung anzuhören. Herr von Wolmar ersparte mir die Verlegenheit einer Antwort. Er lud mich ein, einen Gang durch den Garten mit ihm zu machen. Dort wußte er es so anzustellen, daß mir bald leichter wurde: er sprach in dem Tone eines Mannes, der von meinen alten Verirrungen unterrichtet, aber voll Vertrauen auf meine Rechtschaffenheit ist, sprach wie ein Vater zu seinem Kinde, und machte es mir durch die Hochschätzung selbst, die er mir bezeigte, unmöglich, sie zu Schanden zu machen. Nein, Milord, er hat sich nicht getäuscht; ich werde nicht vergessen, daß ich die seinige und die Ihrige zu rechtfertigen habe. Warum auch muß sich mein Herz bei seinen Wohlthaten zusammenziehen? Warum muß ein Mann, den ich zu lieben gezwungen bin, Juliens Mann sein?

Dieser Tag schien ausersehen, mich jeder möglichen Prüfung zu unterwerfen. Als wir wieder zu Frau von Wolmar gekommen waren, wurde ihr Mann abgerufen, und ich blieb mit ihr allein.

Ich befand mich nun in einer neuen Verlegenheit; es war die peinlichste und unvorhergesehenste von allen. Was ihr sagen? Womit anfangen? Sollte ich es wagen, sie an unsere alte Verbindung zu erinnern, an die Zeiten, die meinem Gedächtnis; so gegenwärtig sind? Sollte ich die Meinung erregen, daß ich diese Zeiten vergessen hätte oder mir nichts mehr daraus machte? Welche Folter, Die wie eine Fremde zu behandeln, die man tief in's Herz geschlossen trägt! Wie schändlich, die Gastfreundschaft zu mißbrauchen, um ihr Dinge zu sagen, die sie nicht mehr hören darf! In dieser peinlichen Lage verlor ich alle Fassung; die Glut stieg mir in's Gesicht, ich wagte weder zu sprechen, noch die Augen aufzuschlagen, noch ein Glied zu rühren, und ich glaube, daß ich in diesem gequälten Zustande bis zur Rückkunft ihres Mannes geblieben sein würde, wenn sie mich nicht daraus befreit hätte. Sie selbst schien es in keiner Weise befangen zu machen, daß wir uns mit einander allein befanden. Sie änderte ihre Haltung, ihr Benehmen nicht, sie sprach in dem vorigen Tone fort; nur glaubte ich zu bemerken, daß sie versuchte, noch mehr Heiterkeit und Ungezwungenheit hinein zu legen, und dabei einen Blick anzunehmen, nicht schüchtern noch zärtlich, aber sanft und liebevoll, wie wenn sie mir Muth machen wollte, mich zu fassen und einen Zwang abzulegen, der ihr nicht hatte entgehen können.

Sie fing von meinen langen Reisen an: sie wollte das Nähere wissen, besonders in Betreff der Gefahren, die ich zu bestehen gehabt, der Leiden, die ich erduldet hatte; denn sie wüßte wohl, sagte sie, daß ihre Freundschaft sie mir zu vergüten hätte. Ach, Julie! sagte ich betrübt, erst einen Augenblick bin ich bei Ihnen, wollen Sie mich schon wieder nach Indien schicken? Keineswegs, versetzte sie lachend, ich vielmehr will ja jetzt hin.

Ich sagte ihr, daß ich für Sie einen Bericht über meine Reise auf gesetzt und ihr eine Abschrift davon mitgebracht hätte. Sogleich erkundigte sie sich angelegentlich nach Ihnen. Ich erzählte ihr von Ihnen, und das konnte ich nicht, ohne ihr den Kummer zu schildern, den ich gelitten und den ich Ihnen verursacht hatte. Sie war gerührt davon. Sie nahm einen ernsteren Ton an, indem sie auf ihre eigene Rechttfertigung einging, und mir zeigte, daß sie durchaus so hatte handeln müssen, wie sie gehandelt hatte. Herr von Wolmar trat ein, während sie noch mitten in ihrer Auseinandersetzung war. und es machte mich verwirrt, daß sie in seiner Gegenwart ganz so fortfuhr, als wäre er nicht dagewesen. Er konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, als er mir mein Erstaunen ansah. Als sie fertig war, sagte er zu mir: Sie haben da ein Beispiel von der Offenheit, welche hier bei uns herrscht. Wenn Sie aufrichtig tugendhaft sein wollen, so gewöhnen Sie sich auch daran; es ist das meine einzige Bitte, und die einzige Lehre, die ich Ihnen zu geben habe. Es ist immer der erste Schritt zum Laster, wenn man bei unschuldigen Handlungen die Heimlichkeit sucht; wer es liebt, sich zu verstecken, wird früher oder später nöthig haben, es zu thun. Eine einzige Moralvorschrift kann statt aller dienen, nämlich diese: Thue nie und sage nie Etwas, was du nicht die ganze Welt könntest sehen und hören lassen. Ich für mein Theil habe immer als den achtungswerthesten aller Menschen jenen Römer [Den Volkstribun Livius Drusus.] angesehen, der sein Haus so eingerichtet haben wollte, daß man Alles sehen könnte, was darin vorginge.

Ich habe Ihnen zwei Vorschläge zu machen, fuhr er fort: Wählen Sie in aller Freiheit, aber wählen Sie einen von beiden. Er ergriff darauf seiner Frau Hand und die meinige und sagte, indem er sie mir drückte: Unsere Freundschaft ist im Beginnen, hier ist das theure Band derselben; möge sie unauflöslich sein. Umarmen Sie Ihre Schwester und Freundin: behandeln Sie sie stets als solche; je traulicher Sie mit ihr umgehen werden, desto besser werde ich von Ihnen denken. Jedoch benehmen Sie sich, wenn Sie mit ihr allein sind, als ob ich gegenwärtig wäre, oder aber in meiner Gegenwart, als ob ich nicht da wäre; das ist Alles, was ich von Ihnen verlange. Wenn Sie den letzteren Weg vorziehen, so können Sie es ohne alle Furcht; denn da ich mir das Recht vorbehalte, Ihnen Alles, was mir mißfällt, ehrlich zu sagen, so werden Sie, solange ich nichts sage, die Gewißheit haben, daß mir nichts mißfallen hat.

Zwei Stunden früher würde mich diese Anrede sehr verlegen gemacht haben; aber Herr von Wolmar hatte bereits eine so große Autorität über mich zu gewinnen angefangen, daß ich fast schon daran gewöhnt war. Wir nahmen das Gespräch unter uns Dreien ruhig wieder auf, und so oft ich mich an Julie wendete, verfehlte ich nicht, sie Madame zu nennen. Sagen Sie mir aufrichtig, unterbrach mich endlich ihr Mann, haben Sie in der Unterredung von vorher auch Madame gesagt? Nein, sagte ich, etwas aus der Fassung gebracht; aber die Wohlanständigkeit .... Die Wohlanständigkeit, verletzte er, ist nur die Maske des Lasters; wo Tugend herrscht, ist sie unnütz; ich mag nichts von ihr wissen. Nennen Sie meine Frau in meiner Gegenwart Julie, oder auch, wenn Sie sie allein sehen, Madame, eines von beiden, mir gleich welches. Ich fing nun an, zu erkennen, mit was für einem Manne ich zu thun hatte, und ich nahm mir vor, mein Herz stets in solcher Verfassung zu erhalten, daß es offen vor ihm daliegen konnte.

Mein erschöpfter Körper bedurfte sehr der Erquickung und mein Geist der Ruhe; ich fand beides bei Tische. Nach so vielen Jahren der Abwesenheit und der Schmerzen, nach so langem Umherschweifen sagte ich in einer Art Entzücken zu mir selbst: Ich bin bei Julie, ich sehe sie, spreche mit ihr; ich bin mit ihr bei Tische, sie sieht mich ohne Unruhe, nimmt mich ohne Furcht bei sich auf; nichts stört die Freude unseres Beisammenseins. Süße, kostbare Unschuld, ich hatte deinen Reiz nimmer gekostet und erst heute beginne ich zu leben, ohne zu leiden.

Als ich mich am Abend zurückzog, ging ich an dem Zimmer der Hausherrschaft vorbei. Ich sah sie Beide mit einander hineingehen, schlich traurig nach dem meinigen, und dieser Augenblick war für mich nicht der angenehmste dieses Tages.

So, Milord, ist dieses so heiß ersehnte und so heilig gefürchtete Wiedersehen abgelaufen. Ich habe, seit ich allein bin, mich zu sammeln versucht, ich habe mich angestrengt, mein Herz zu sondiren, aber die Aufregung des verschwundenen Tages wirkt noch nach, und es ist mir unmöglich, schon jetzt über den wahren Zustand meines Innern zu urtheilen. Ich weiß nur so viel ganz gewiß, daß, wenn mein Gefühl für sie nicht anderer Art geworden, es wenigstens eine ganz andere Form angenommen hat, daß ich immer lebhaft wünsche, einen Dritten zwischen uns zu sehen, und daß ich das Alleinsein eben so sehr fürchte, als ich mich ehedem danach sehnte. Jch gedenke in zwei oder drei Tagen nach Lausanne zu gehen. Ich habe Julie nur erst halb gesehen, solange ich nicht ihre Cousine gesehen habe, diese liebenswürdige und theure Freundin, der ich so viel verdanke, die ewig meine Freundschaft, meine Theilnahme, meine Erkenntlichkeit und alle Empfindungen, deren mein Herz noch fähig ist, mit Ihnen theilen wird. Sobald ich zurückkomme, werde ich Ihnen unverzüglich Weiteres berichten. Ich bedarf Ihrer Rathschläge, und werde mich genau beobachten. Ich kenne meine Pflicht und werde sie erfüllen. Wie süß es mir ist, in diesem Hause zu wohnen, bin ich doch entschlossen, und schwöre, wenn ich merken sollte, daß es mir zu sehr darin gefällt, es augenblicklich zu verlassen.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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