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Freundschaft

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Es gilt nichts zu beweisen

Es gilt auch nichts zu zeigen

Wahrhaftigkeit im Leisen

Belastbarkeit im Schweigen

Es gibt nichts zu begründen

Es gibt auch nichts zu schämen

trotz aller unsrer Sünden

in festen Sockeln wähnend

der echte Freund hält stille Wacht

wenn es die Welt längst nicht mehr macht

Das Lommerzheim in Köln Deutz ist wohl die ursprünglichste aller Kölschen Kneipen.

Sowohl die Fassade, als auch das ganze Interieur haben für den Besucher scheinbar seit den Fünfzigern keine Veränderung erfahren. In dem nur gut fünfzig Quadratmeter grossen Schankraum scheint die Zeit stillzustehen und man fühlt sich zurückversetzt in eine andere Epoche. Es ist mal wieder übervoll und ich sehe Gerry, wie er sich durch den beengten Eingang quält. Wir lächeln uns an und er drückt mich fest, als er sich endlich zu mir durchgekämpft hat. „Schön dich zu sehen, Peter“, lächelt er mich an und ich nicke nur gerührt. Ich drücke ihm sein erstes Kölsch in seine warme Hand und hebe mein Glas: „Auf dich, Gerry. Danke, dass du Zeit hast!“.

„Für dich doch immer, Peter“, antwortet er bevor wir beide einen kräftigen Schluck vom Obergärigen geniessen.

„Du siehst beschissen aus, wenn ich das sagen darf“, flüstert mir Gerry zu.

„Ich weiss. Du nicht!“, grinse ich zurück. „Alles gut zu Hause und im Geschäft?“

„Ein ewiges auf und ab. Du kennst es ja“, antwortet er mit hochgezogenen Augenbrauen. Die laute Atmosphäre des Lokals, die sonst sicher aufregend uns spannend ist, stört uns heute ein wenig.

Nachdem wir ein zweites und drittes Kölsch vernichtet haben, beschliessen wir, uns lieber bei einem Spaziergang an der Rheinpromenade der „Schäl Sick“ in einem ruhigeren Umfeld zu unterhalten. Vom „Lommi“ in der Siegesstrasse bis zur Rheinparkweg am Kennedyufer dauert es eine knappe halbe Stunde, vorbei an der Lanxess-Arena, dem Deutzer Bahnhof und dem eindrucksvollen Luxushotel Hyatt, bis dass man auf das immer wieder beeindruckende Panorama meiner zweiten gefühlten Heimatstadt blicken kann. Der illuminierte Dom hinter der Hohenzollernbrücke und die pittoresken Altstadthäuser mit Gross St. Martin sehen heute Abend besonders einladend aus und die Wehmut in mir wird nur gemildert durch die Anwesenheit des Freundes an meiner Seite.

Gerry unterbricht meine stillen Gedanken beim Blick auf die vorbeifahrenden Schiffe auf dem still dahinfliessenden Rhein: „Du kommst nie drüber weg, oder?“ Ich schaue auf die vertraute Silhouette der Kölner Altstadt und senke meinen Blick auf das Funkeln von tausenden Lichtern im dahinplätschernden Strom.

„Weiss nicht!“, antworte ich knapp. „Weisst du, Gerry. Du kanntest sie ja nicht, aber es ist nicht nur der unglaubliche Verlust, der mich quält. Es ist viel mehr als nur das.

Wir haben uns geliebt, als wir uns trennten, verstehst Du. Es war die Angst um sie, es war die Ohnmacht, nicht kämpfen zu können weder für etwas noch gegen jemanden. Weisst du es gibt da einen Spruch: Das Paradies gibt sich erst dann zu erkennen, wenn man aus ihm vertrieben wurde. Das stimmt nicht. Ich liebte mein Paradies; ich wusste von Beginn an, wie gesegnet ich mit ihr war! Ich zermartere mir den Kopf bis heute auch nach all diesen Jahren, was ich hätte anders machen können oder gar müssen. Aber mir fällt nichts ein. Und bis heute ist es besser, dass ich nicht mehr in ihrem Leben bin. Sie hat mehr verdient als mich. Sie hat Glück verdient. Mein grösster Wunsch wäre es, wenn sie inzwischen ihr Leben befreit und glücklich leben kann. Das geht nur ohne mich. Auch wenn ich nicht weiss wo sie heute lebt, mit wem und wie. Sie ist in meinem Herzen und ich bekomme sie da einfach nicht raus. Vielleicht hast du Recht. Vielleicht komme ich nie darüber hinweg!“ Meine kalten Augen blicken auf die Züge, die die Hohenzollernbrücke überqueren, ankommen und abfahren.

„Wo auch immer meine Reise hinführen wird, wo auch immer sie enden wird, Gerry.

Du bist mir der einzige Mensch in den letzten drei Jahren, dem ich mich überhaupt öffnen konnte. Dafür danke ich dir von ganzem Herzen.“

Er zog mich zu sich und schloss mich in die Arme. „Ich kann sie für dich finden!“, flüstert er mir ins Ohr. Er hatte das schon oft angeboten, aber ich hatte ihm verboten irgendwas in diese Richtung zu unternehmen. „Nein, Gerry! Immer noch nicht. Du weisst, dass das nicht geht! “, sagte ich ihm mit starrem Blick in seine Augen. „Nichts und niemand darf ihr Leben gefährden! Weder Du noch ich, niemand hörst du !“

Gerry nickte: „Ich würde dir so gerne helfen, Peter. Aber du willst es nicht und ich weiss nicht, ob das überhaupt noch jemand kann. Eins sollst du aber auf jeden Fall wissen. Ich bin da, wenn du mich brauchst. Egal wann, egal wo, egal wie.“

Ich entgegne ihm: „Danke, mein Freund. Das bedeutet mir sehr viel. Aber lass uns das Thema wechseln.“

Wortlos gehen wir den Rheinparkweg entlang. Wir atmen den Geruch des Stroms der unsere langsamen Schritte begleitet. Kühl weht es vom Rhein zu uns herüber.

Nach einer ganzen Weile des Schweigens öffnet auch Gerry sein Herz: „Peter, ich habe Angst. Ich komme nicht mehr mit. Es geht mir alles zu schnell. Als Musiker hat es nicht geklappt, zwar läuft mein Grafikbüro in Berlin ganz gut, aber ….“ Er hielt kurz inne: „Ich krieg es nicht mehr auf die Reihe, Peter. Dieses Tempo, dieser ganze alltägliche Wahnsinn macht mich krank. Ich komme mir vor, als wäre unsere ganze Existenz in einem Highspeed-Modus und ich verliere den Anschluss. Es ist nicht nur der berufliche Turbo, der mich fertig macht, es ist das permanente Gefühl, Möglichkeiten zu verpassen und Chancen zu versäumen. Es ist das Gefühl der Leere in Momenten voller Aktivität. Mir scheint als passiert da gerade etwas mit uns und wir haben keine Ahnung in welche Richtung wir da abdriften. Facebook, Twitter, Google, Amazon, Instagram, Pinterest, Apps, überall erreichbar, alles verfügbar, alles vergleichbar, berechenbar, austauschbar. Ich dreh noch durch! Hast du nicht

Auch das Gefühl, dass da etwas mächtig schief läuft gerade? Hast du nicht auch den Eindruck, dass wir zu reinen Konsumenten-Wesen und reinen Produktionsfaktoren degeneriert werden? Ich habe Angst, Peter. Angst, dass uns das allen irgendwann mal um die Ohren fliegt.“

In der Tat hatte ich in letzter Zeit immer mehr ein Unbehagen erfühlt, wie unsere digitalisierte Welt den Menschen nur noch nach ökonomischen Kriterien betrachtet. Es gibt kaum ein Entkommen mehr aus dieser „Verwirtschaftung unserer gesamten menschlichen Existenz“ wie es Gerry einmal in einem Brief ausdrückte. Dieses unkritische Vertrauen in die Allmacht der Ökonomie und den ungebändigten Glauben an den Fortschritt durch Technik hatte ich längst verloren. So wie die Finanzwirtschaft sich in den letzten zwei Dekaden komplett von der Realwirtschaft abgekoppelt hatte, so entkoppelt seit ein paar Jahren die Informationstechnologie den Menschen von seinen moralischen und humanistischen Leitplanken.

„Wo mag das alles hinführen, mein Freund?“ gebe ich meine Gedanken frei. „Glaubst du, dass wir selbstfahrende Autos oder Paketlieferungen per Drohne brauchen? Entfremdet uns das nicht alles von unserem Mensch-Sein und macht uns zu reine Spielbällen des Konsums? Ich weiss es nicht! Ich bin nur froh, dass ich nicht mehr in der Bank arbeite und nur noch schreibe. Aber selbst als Werbetexter bin ich Teil dieses Systems.“

„Hast recht“, wirft Gerry ein. „Jeder ist Teil des Systems. Wird uns nicht Glückseligkeit versprochen durch Konsum und am Ende erleiden wir die grosse Einsamkeit, weil unsere Erkenntnis viel zu spät kommt? Ich möchte jedenfalls an meinem Lebensende nicht da stehen und mir denken: Du hattest aber ein schönes Auto, ein tolles Haus, teure Uhren, phantastische Essen und viele willige Gespielinnen, die ohnehin nur mit meinem Portemonnaie und nicht mit mir gevögelt haben!“ Wir sehen uns an und lachen.

„Ich will demnächst wieder Musik machen“, erwähne ich wie beiläufig. „Super. Na das ist mal eine gute Nachricht! Cool. Wie kommt es?“ fragt Gerry aufgeregt.

„Weiss nicht; einfach so! Kann es nicht mehr sehen wie meine Klampfen an der Wand eingestaubt werden“, lache ich.

„Ich hab dich früher beneidet, weiss du das eigentlich? Ich habe dich beneidet um deine Stimme und um deine Kreativität beim Song schreiben. Deine Stücke waren zwar nicht immer meine Mucke, aber die Breite, Melodik und die Texte waren echt gelungen.“

„Danke, Gerry! Und ich habe dich beneidet um deine Fingerfertigkeit auf den Saiten.

Dagegen war ich immer ein Stümper! Vielleicht machen wir mal wieder was zusammen, wenn ich zurück bin“, schlage ich vor.

„Ja. Das wär’s doch. Fliegst du wieder hin morgen?“, fragt er und bleibt stehen.

„Ja. Übermorgen ist doch Annas Geburtstag. Dann muss ich doch da sein.“, sage ich und meine Hand streichelt unwillkürlich das Tattoo unter dem linken Ärmel meiner Jacke

Gerry schüttelt lächelnd den Kopf: „Du bist so ein Verrückter. So ein beneidenswert Verrückter!“

Wir schliessen uns lange in die Arme mit dem Gefühl, einander wieder mit Leben und Vertrauen betankt zu haben.

Mund der Wahrheit

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