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Ahnung

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Es modert, gärt unter der Rinde

viel verdrängt und nebenher

Borke brechend mit dem Winde

fleht im Herz ein altes Kind

und findet keine Heimat mehr.

Muss raus, gibt unfein zu verstehen

was die Seele noch nicht nennt

bis sie sich ins Auge sehen

zur wahren Wirklichkeit bekennt.

Die wackere Maschine der SWISS setzt am frühen Vormittag holprig auf der regennassen Landebahn des Flughafens Köln-Bonn augflächen des Airbus A320-300 und neugierig blicke ich durch das kleine Bullauge des Fliegers. Neugierig betrachte ich die grossen und kleinen Maschinen aus aller Herren Länder, die an den Gates auf neue Passagiere warten. Fliegen macht mir nichts mehr aus, auch wenn ich nur noch selten in ein Flugzeug steige. Ich spüre keine Angst mehr, trotz allem was passiert ist. Unbewusst reibt meine linke Hand die Innenseite meines rechten Unterarms, wo sich unter meiner Kleidung mein altes Tattoo versteckt.

41° 53’ 18’’ N 12° 28’ 53’’ O

40° 42’ 42’’ N 74° 0’ 45’’ W

Trotz all des Grauens und all des unermesslichen Abgrunds an menschlichem Wahnsinn bin ich inzwischen flugangstfrei. Nein- ich fürchte weder das Fliegen, noch das Landen; ich fürchte weder Tod noch Teufel, denn ich habe beide schon kennengelernt.

Kaum hat das Flugzeug seine Parkposition eingenommen, lösen die wenigen Passagiere, vor allem Geschäftsleute hektisch ihre Sicherheitsgurte, quetschen sich aus ihren engen Sitzen und fokussieren sich wortlos darauf, wer nun als erstes sein Handgepäck aus den Ablagefächern hervorzerren darf, um so schnell wie möglich aus dem Flugzeug herauszukommen. Wie schon hundertmal vorher beobachte ich dieses hastige, eigenwillige Ritual und wundere mich immer neu über diese Spielart eines kollektiven Fluchtinstinkts. Endlich nehme auch ich mein übersichtliches Handgepäck auf und lasse mich nicht vom hektischen, irrationalen Herdentrieb um mich herum anstecken. Wie immer danke ich der Stewardess für ihren Service während des kurzen Fluges und steige vorsichtig die nasse Treppe der Gangway hinunter. Kalter köstlicher Regen prasselt mir erfrischend ins hagere Gesicht. Heimat. Endlich wieder Heimatluft. Gerührt und ein wenig feierlich setze ich meinen Fuss wieder auf rheinische Muttererde, beziehungsweise „Mutterasphalt“ , wenn auch nur für diese flüchtigen Stunden.

Als ich damals als New York zurückkehrte war das dann doch noch etwas anderes gewesen. Wie ein Schiffbrüchiger, der den rettenden Strand erreicht, war ich damals niedergesunken und habe den heimatlichen Boden mit den Händen berührt, damals im September 2001. Ich nehme einen tiefen Luftzug rheinisch-regnerischer Luft. Es riecht nach Schmutz und Staub, nach Kerosin, Müll und Abgas und vielleicht sogar mit viel Phantasie nach einem Glas Kölsch. Sicherlich ist dieser Duft für die meisten eher unappetitlich im Vergleich zum Duft der Natur, den ich so gerne in meinen geliebten Schweizer Bergen einatmen darf. Und doch… Es ist ein vertrauter Geruch.

An den Gepäckbändern und Flughafenshops vorbei bemühe ich mich, möglichst rasch zum Ausgang zu kommen und den Flughafen verlassen zu können. Das Terminal ist rappelvoll mit Menschen. Meine besondere Eile ist nicht unbegründet, denn es ist Beginn der Osterferien in Nordrhein-Westfalen und ich möchte tunlichst vermeiden, dass mich hier irgendjemand aus meinem früheren Leben per Zufall entdeckt. Ich habe keine Lust auf Kommunikation mit der Vergangenheit und kein Interesse am Aufreissen alter Wunden. Es hat unendlich lange gedauert, dass dünne Narben über die tiefen Wunden wuchern. Nichts und niemand soll diese zarte Heilung, diesen rissigen Schutzfilm wieder einreissen.

Schnell tausche ich an einer Wechselstube ein paar Schweizer Franken in Euro. „Auch nicht mehr das, was es mal war“, kommentiere ich den Umrechnungszettel, den mir der Angestellte gemeinsam mit den bunten Geldnoten durch den Glasschlitz schiebt. Der Kurs des Euro ist eine Bankrotterklärung. Schon damals hatte ich mich gefragt, wie man Länder mit so unterschiedlichen Wirtschafts- und Sozialsystemen, diametral auseinander liegenden Mentalitäten in eine Währung zusammenpferchen kann, ohne dass irgendwer, irgendwann daran zu Grunde geht. Wie lange mag das wohl noch gut gehen?

Aber Finanzwirtschaft ist nicht mehr meine Baustelle. Sollen sich doch die schlauen Leute in Brüssel und Frankfurt bei der Europäischen Zentralbank den Kopf über diesen Unsinn zerbrechen.

Ich habe nicht viel Geld, lebe von den Hand in den Mund, darum macht mir das Fiasko um Griechenland, Italien, Spanien und demnächst wohl auch Frankreich keine Sorgen.

Am Sixt-Schalter bedient mich ein junger Mann mit schwarzgefärbten Haaren und einem Stimmfall, der mir eindeutig bestätigt: „Ja, ich bin in Köln. Hauptstadt der Toleranz, Heimstatt unterschiedlichster Kulturen und das Woodstock homosexueller Orientierungen, wie im Fall des charmanten Sixt-Mitarbeiters. Ich miete mir einen Leihwagen der preisgünstigsten Kategorie und fahre bereits wenige Minuten später zu meiner grossen Überraschung mit einem flammneuen schwarzen Volvo XC 60 in Richtung nördliche Eifel. An so viel Komfort in einem Auto kann ich mich nur schwer gewöhnen, denn mein alter Land Rover Defender erinnert doch mehr an eine landwirtschaftliche Zugmaschine als an einen handelsüblichen Personenkraftwagen. Nach etwas Umgewöhnung auf den Linkslenker und einigen zähen Kilometern über die inzwischen weitgehend ausgebaute A4 mit ihrer Allee „Baum des Jahres“ passiere ich die Stadtgrenzen meiner eigentlichen Heimat im Dreiländereck Niederlande, Belgien, Deutschland. Ich bin wieder in Aachen.

„Oche,“ dringt es mir in angestaubten Dialekt ehrerbietend über die Lippen, als ich im dunklen Mietwagen den großen Brunnen des Europaplatzes mit seiner haushohen Fontäne direkt zweimal umkreise.

So beschaulich und dörflich wie ich das verträumte Städtchen in Erinnerung habe, ist es wohl auch nach einjähriger Abwesenheit geblieben. Selbst den zahlreichen Wochenendtouristen aus ganz Europa und der immens gestiegenen Zahl internationaler Studenten der Eliteuniversität RWTH gelingt es seit Jahrzehnten nichts und niemandem, die Ruhe und Eleganz aus dem mittelalterlichen Flair der pittoresken Altstadt zu vertreiben.

Seit jeher zeichnet sich Aix-la-Chapelle, so der mir lieb gewordene französische Name Aachens, aufgrund seiner geographischen Lage und historischen Wurzeln bis zurück zum Kaiser Karl aus durch Weltoffenheit, Internationalität aber auch respektabler Provinzialität. Gerade so als wäre es dann doch eine Mischung aus Basel und Köln. Ich bin ein Fremder geworden für und in dieser Stadt. Niemand erwartet mich mit einem Orden „Wider den tierischen Ernst“, kein Komitee steht Spalier, um mir den „Karlspreis“ anzudienen und erst recht ist kein handverlesenes Gremium gekommen, um mir eine Schleife für einen Sieg beim CHIO ans Ohr zu Heften. Zum Glück. Meine Ankunft auch in der geliebten Heimat bleibt unbeachtet und unbemerkt. So wie mein ganzes Leben unbeachtet verläuft – zum Glück.

In einer kreativen Gärtnerei in unmittelbarer Nähe zum Waldfriedhof bindet mir eine junge, adrette Floristin einen prachtvollen voluminösen Strauss weisser Lilien mit zwei roten Rosen, genauso wie auch Anna ihn immer liebte. Mit einem herzlichen Dankeschön und einem grosszügigen Trinkgeld für die attraktive Blumenfrau verlasse ich den schmucken Laden und haste ohne Eile zum Friedhofseingang. Der Aachner Waldfriedhof liegt im Süden des Stadtteils Burtscheid und ist um die dreissig Hektar gross. Seine Grösse geht zurück auf die im Raum Aachen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts grassierende Choleraepidemie, die hunderten Aachenern und Burtscheidern das Leben kostete. Zum Friedhof mit seinem alten Baumbestand gehört ein Ehrenfriedhof, auf dem unzählige gefallen Soldaten des Ersten und Zweiten Weltkrieges ihre letzte Ruhe fanden. In beiden Weltkriegen traf die Wut der Alliierten auf das Deutsche Reich Aachen immer mit am härtesten als westlichste deutsche Stadt. Ich rieche den Duftmix aus frischen Rosenblättern und Lilienblüten und schleiche bewegt und zielstrebig vorbei an Grabmälern und Kreuzen hin zum schlicht wirkenden Grab meiner geliebten Eltern. An der Stelle, wo die beiden Menschen, die mir die besten Eltern der Welt gewesen waren, ihre letzte Ruhestätte gefunden haben, hocke ich nieder. Ihre zeitlose und selbstlose Unterstützung, ihr bedingungsloses Vertrauen und ihre unabdingbare Liebe zu einem nicht immer einfachen Sohn haben ein so unzerstörbares Band zwischen uns geknüpft, dass selbst der Tod dies nicht lösen konnte. Ich weiss sie ganz gewiss bei ihrem Schöpfer und danke dem Universum für ihre Nachsicht und Geduld mit mir. Auch wenn ich zweifle und nicht an den gleichen Gott glauben kann wie sie, so bete ich doch zu irgendwem, dass er ihnen in ihrem Himmel vergelten möge, was sie mir waren. Die frischen weissen Lilien mit den beiden roten Rosen drapiere ich liebevoll in einer mit Patina grün angelaufenen Messinggrabvase, die schon lange keine frischen Blumen mehr gesehen hatte. Ungläubig fällt mir auf, dass wohl vor einigen Tagen eine einzelne Rose unverhüllt und liebevoll dort abgelegt worden war. Sie liegt an der fussseitigen Umrandung des schlichten Grabes. Mir kommt niemand in den Sinn, der die Blume erst vor kurzem dort abgelegt hätte können. Ich wende mich fragend und ängstlich um, suche wer sie dort hätte platzieren können, aber ich sehe niemanden. Die Blume erscheint frisch. Ich belasse sie ehrfürchtig an ihrem Platz und füge sie nicht zu meinem Strauss hinzu.

Als einziges Kind einer Gärtnerfamilie wusste ich wie sehr meine Mutter, aber auch Anna Rosen und Lilien mochten. Sie symbolisierten ihnen beiden stets Reinheit und Schönheit, aber auch nie enden wollende Liebe. Komisch, aber die beiden mir liebsten Frauen in meinem Leben hatten die gleichen Blumen gemocht. Anna liebte weisse Lilien, weil sie in ihr zeigten, wie wertvoll der Augenblick ist und wie kostbar die Gegenwart, weil in ihr schon die Vergänglichkeit angelegt ist, ähnlich einer Lilie, die in all ihrer Kraft und Schönheit auch schon das Stadiums des Verblühens und Welkens in sich birgt. Kaum ein Tag, wo es zuhause damals nicht nach Lilien geduftet hätte. Und zum Geburtstag am neunundzwanzigsten März schenkte ich ihr stets einen grossen Strauss weisser Lilien mit zwei einsamen roten Rosen darin. Mir war grade so als stünde Anna gemeinsam mit meinen geliebten Eltern mit kritischem, sachverständigem Blick professioneller Floristen hinter mir, ob ich den grossen, duftenden Strauss auch hübsch genug in der Messingvase arrangiere. Ich betrachte selbstkritisch mein bescheidenes Kunstwerk und bin zuversichtlich ihren Ansprüchen zu genügt zu haben. Ich fühle mich meinen Eltern an diesem Ort so unerklärbar nah, als könnte ich noch einmal mit ihnen reden, ihnen sagen, was mich bewegt und wie sehr sie mir fehlen. Ich trage sie in meinem Herzen immer bei mir, aber hier ist es so, als wären ihre Seelen gegenwärtig.

Immer wieder drehe ich mich um. Aufmerksam lausche ich den Stimmen und Gesprächen der wenigen Passanten, wende meinen besorgten Blick stets ab von den ihnen, um möglichst unerkannt zu bleiben. „Pass bloss auf, dass dich niemand sieht, der dich noch kennt“, mahnen mich mein Kopf und mein Herz.

Vor drei Jahren hatte ich draussen auf dem Friedhofsparkplatz per Zufall Gerry getroffen, der hier wohl einen verstorbenen Freund besuchen wollte. Er hiess eigentlich Gerald aber dieser Name passte wohl weniger gut zu einem exzellenten Gitarristen und eingefleischten Hard Rocker, den ich vor zig Jahren eher oberflächlich kennengelernt hatte. Gerry hatte uns mal bei ein paar Auftritten ausgeholfen, als der Lead-Gitarrist unserer damaligen Cover-Band mit gebrochener Hand für eine längere Zeit ausgefallen war, aber wir hatten trotz spürbarer Sympathie füreinander nur wenige persönliche Berührungspunkte und Begegnungen. Er lebte schon lange nicht mehr in Aachen und war nach Berlin gegangen, um dort sein Glück als Musiker und Grafiker zu versuchen. Er war damals nicht weniger überrascht als ich, als wir uns vor genau drei Jahren hier wiedergesehen hatten. Ich erinnere mich genau, wie ich auf den Parkplatz noch versucht hatte, ihm auszuweichen und der Begegnung mit ihm zu entkommen. Ich hatte so getan, als hätte er mich verwechselt, sein Rufen nicht vernommen und mich uninteressiert aber übertrieben schnell zu meinem Auto hinbewegt.

„Peter?“, hatte er völlig entgeistert damals mehrmals in meine Richtung gerufen.

„Peter? Bist du das?“ Schüchtern und beschämt hatte ich an jenem Tag aufgeblickt und ihm scheu zugewinkt.

Im Gegensatz zu den vielen anderen Menschen hatte er es nicht verbergen wollen,

dass es mich kannte und sich sehr über unser Wiedersehen freute.

Schnell war er auf mich zugeeilt: „Mensch Peter ! Du ? Hier ? Wie geht’s Dir? Peter!

Lass dich anschauen. Alles in Ordnung bei Dir? Mensch Alter, wie lange ist das her? Ich freue mich so dich zu sehen. Peter! Mann! Ich habe nur flüchtig einmal etwas davon gehört, was damals da alles abgegangen ist bei Dir! Was war das für eine verfuckte Scheisse damals! Lass dich drücken, Kerl! Machst du noch Mucke?“ Er war überschwänglich gewesen, doch ich hatte nicht ein Wort für ihn in diesem Moment. Es war über mich gekommen und hatte bitterlich zu Weinen angefangen. Er drückte mich brüderlich an sich. „Alter, was ist denn los?“, fragte er besorgt. „Beruhige dich doch, Peter! Alles okay!“ Als ich mich wieder etwas gefasst hatte, brachte ich nur heraus: „Gerry, schön dich zu sehen! Du siehst gut aus! Sorry wegen der Heulerei und dass ich dich vorhin nicht wahrnehmen wollte. Mir geht’s grad nicht so toll. Ist halt immer so wenn ich hier bin. Ich bin aber sonst einigermassen stabil. Zumindest im Grossen und Ganzen.“

Gerry hatte mich an beide Oberarme gepackt und mich mit seinen klaren blauen Augen, die aus einem warmherzigen, freundlichen Gesicht herausstrahlten angesehen. Seine langen gelockten Haare hatten im kühlen Märzwind geweht. Er war trotz unserer sehr überraschenden und tränenreichen Umarmung völlig aus dem Häuschen über diese unerwartete Begegnung mit mir auf dem menschenleeren Friedhofsparkplatz gewesen.

Gerry war das, was man hinlänglich einen Freigeist nennt. Er hatte nie etwas auf Konventionen gegeben und weder in seinem Tun noch in seiner Haltung hatte er auf Meinungen Anderer, Getratsche oder Gerüchte etwas gegeben. Es tat mir unsagbar gut in ihm einen Menschen zu gefunden zu haben, der im Umgang mit mir unbelastet und unvoreingenommen war. An jenem Tag unseres Wiedersehens hatten wir versprochen uns zu schreiben oder zu telefonieren und seit jener Begegnung tun wir das bis heute unregelmässig aber stetig. Wir waren damals keine Freunde, eher gute Bekannte doch im Laufe der letzten drei Jahre ist er zu einem Freund geworden; zum einzigen Freund von vielen, der mir geblieben ist. Inzwischen weiss ich, dass er eigentlich der einzige Freund ist, den ich je hatte und für diese Freundschaft bin ich dankbar. Ein wahrer Freund ist wohl ein kostbares Geschenk, das man nicht allzu oft im Leben geschenkt bekommt. Dieser eine ist mir kostbar. Lieber einen von diesem Wahrhaftigen als Hunderte virtuelle Freunde, lieber einen kritischen Gefährten als Tausende Schulterklopfer, lieber einen mit Herz als Millionen mit Verstand. Auch für den heutigen Abend haben wir uns in einer Kneipe in der Nähe meines Hotels verabredet und ich freue mich auf das Wiedersehen mit diesen tapferen Getreuen. Noch immer stehe ich am nüchternen Grab meiner Eltern. Ich streichle den kalten vielfarbigen Marmor, auf dem ich die mir vertrauten Namen Josefine und Johann in bronzenen Lettern wiederfinde. Bilder aus meiner Kindheit und Jugend tauchen auf, wie wir das erste Mal nach Domburg an die niederländische Nordseeküste in Urlaub fuhren oder wie ich beim Krippenspiel im Kindergarten den sprachlosen Josef gab. Ich sehe mich mit dem Kettcar über den Hof der Gärtnerei fahren oder bei dem wöchentlichen Autoputzen des ockergelben Opel Rekord, damals der ganze Stolz meines Vaters. Ich habe glücklicherweise unzählige glückliche Kindheitserinnerungen. So viele Bilder und Episoden trage ich in meinem Herzen, die mich an meine unbeschwerte Kindheit erinnern: Ferien auf Baltrum, Ausflüge ins Phantasieland, Besuch eines Spiels vom 1.FC Köln und weitere hunderte Fragmente aus den Niederungen meiner Erinnerung. Die Augen werden mir feucht. Nach einer weiteren, gefühlten Ewigkeit wird es Zeit für mich zu gehen.

Ich rieche noch einmal an den weissen Lilien und atme ihren Duft ein, als wäre es der Geruch nach Anna. Zuletzt entzünde ich eine grosse Grabkerze und beginne unter jetzt purzelnden Tränen ein letztes, stilles „Vater unser“ für meine beiden an den Gott, den ich nicht mehr erkenne. „ Vater unser, der du bist im Himmel. Geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.“ Dein Wille geschehe ? Mir stockt der Atem, aber ich kämpfe mich weiter durch die in Kinderzeiten auswendig gelernten Sätze. „Unser tägliches Brot gib uns heute und vergib mir meine Schuld….“ . Ich muss schlucken mit trockener Kehle. Meine ohnehin nur flüsternde Stimme versagt. Ich reisse mich zusammen und setze das Gebet fort: „… wie auch ich versuche meinen Schuldigern zu vergeben!“ Es geht nicht mehr. Ich bringe keinen Hauch, keinen winzigen Laut mehr heraus. Fluchs wische ich mir eine weitere verlorene Träne von der Wange und sehe noch einmal auf das Grab. Ich sehe Bilder von meinem lachenden Vater, meiner fürsorglichen Mutter und dann… von Anna. Wie wir alle beisammen sitzen im Frühlingsgarten zu Ostern. Wie Anna und mein Vater über Fussball streiten oder meine Mutter ihr beibringt uns die geliebten Miesmuscheln „Rheinischer Art“ zuzubereiten. Meine Eltern liebten Anna wie mich ihren Sohn und manchmal sogar ein bisschen mehr. Doch war uns am Ende dann doch nur eine kurze Zeitspanne der Freude und Glückseligkeit vergönnt. Ich war gewiss nicht der Sohn, den ich meine Eltern hätte sein müssen, bei aller Mühe, die ich mir stets gegeben hatte. Meine Unangepasstheit, mein Streben nach Glück, meine Musik, meine Naivität all das waren schwere Klippen in unserer Beziehung, die wir immer wieder neu umschiffen mussten und nach der einen oder anderen Kollision nur mühsam hatten reparieren können. Ich war stets bemüht ihnen zu gefallen, aber ich war nie der, den sie sich gewünscht hatten. Ihrem Rat folgend hatte ich eine Ausbildung zum Bankkaufmann absolviert und wurde nicht Geowissenschaftler oder Archäologe, wie ich es eigentlich wollte. Es hat sehr lange gedauert, aber irgendwann musste etwas Aufbrechen und Transformieren in mir. Zu sehr war ich beseelt vom Wunsch nach Freiheit und der Streben danach nicht angepasst zu sein, nicht im Mainstream mitzuschwimmen, sondern das zu leben was mein Herz mir riet und nicht mein Versand oder meine Eltern. Dennoch liebten wir einander, ehrlich, aufrichtig und kompromisslos. So waren sie mir die Art Eltern, die sich jedes Kind wünschen sollte, trotz all ihrer Befangenheit und Begrenztheit. Selbst jetzt noch fühle ich ihre Wärme und Geborgenheit. Ein Friedhof hatte für mich früher immer etwas wie ein Menetekel. Man bekommt vor Augen geführt, wie endlich wir Menschen doch sind. Doch inzwischen ist ein Friedhof für mich eher wie ein Ort der Beseeltheit, ein Vorhof des Friedens und der Freiheit. Früher war ich nach einem Besuch von Grabstätten immer etwas traurig und apathisch. Heute ist mir ein Friedhofsbesuch eher wie der Besuch einer wohligen Heimstatt, hoffend, dass wir all die Menschen, die wir lieben und geliebt haben eines Tages wo auch immer wiedersehen. Auch wenn ich gottlos geworden bin nach all den Schicksalsschlägen, so suche ich doch Trost in dem Gedanken, dass wir irgendwann wieder mit denjenigen in Liebe vereint sein werden, die uns alles waren, mit Papa, mit Mutti und mit Anna. Doch Anna lebt ja hoffentlich noch, glücklich in einer besseren Welt als die, die ich ihr damals bereitet hatte. Wieder bebt mein Herz.

Schweren Herzens und mit einer gehörigen Portion aufkeimenden Heimwehs nach Vergangenem breche ich mit wieder erwachten hämmernden Kopfschmerzen auf. Ich kann nicht bleiben. Ich darf nicht bleiben. Ich muss gen Süden, in die Heimat meines Herzens, in die Stadt meiner Sehnsucht.

Ich verlasse den Friedhof mit einem letzten Blick auf den Strauss weisser Lilien und die helle Flamme der Kerze auf der Grabstätte meiner Eltern.

Es ist mir schwer ums Herz und es fällt mir nicht leicht von hier wegzugehen, aber der weitaus schmerzlichere Teil meiner Reise steht mir erst noch bevor.

Mund der Wahrheit

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