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Das Licht der Nacht

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Du verdrängst die dunklen Schatten,

die der Tag mir übrig lässt.

als die Sterne Sehnsucht hatten,

warst Du es, die mich nicht verlässt.

In der Leere schwarzer Hülle,

In der Tiefe stiller Fülle,

In des Lebens kaltem Schacht,

Bist du das Licht – in meiner Nacht.

Ungläubig reibe ich mir die Augen. Auf dem Sofa sitzend muss ich wohl eingeschlafen sein. Es ist Mitternacht und ich habe vielleicht anderthalb Stunden geschlafen. Ein traumloser Zustand der Schwerelosigkeit hatte mir für eine kleine Weile ein wenig Ruhe geschenkt . Mein Blick schweift vorsichtig über eine leere und eine halbvolle Flasche Jim Beam, das Notebook, das grosse Bündel mit den unzähligen Briefen, die ich nie abgeschickt hatte und das Flugticket der Swiss, welches vor mir auf dem Tisch liegt. Ich schliesse meine müden Augen. Sie freuen sich über eine weitere kurze Pause, die Ihnen meine geschlossenen Pupillen verschaffen, bevor ich sie wieder öffne. Ich presse die Lider fest zusammen und dann….. dann sehe Anna. Wie immer. Ich sehe ihr unfassbares Lächeln, ihre noblen Gesichtszüge, den verheissungsvollen Wimpernaufschlag und die dunklen und so unergründlichen Pupillen. Ich sehe sie direkt vor mir. Es waren ihre verborgenen Aussergewöhnlichkeiten, ihre ganz eigenen Besonderheiten, die sie für mich so zauberhaft und einzigartig machten: Ihre unnachahmliche Art, sich die Nase zu putzen und ihren selbstkritischen Blick in den Spiegel. Dieses unschuldige Blinzeln immer kurz nachdem sie aufgewacht war und all die anderen unzähligen Kleinigkeiten, die ausser mir wohl kaum jemandem aufgefallen waren. Selbst ihr leises Schnarchen, wenn sie einmal mehr neben mir auf dem Sofa eingeschlummert war, habe ich noch im Ohr. Unverwechselbar waren ihre zur Gewohnheit gewordenen Bewegungsabläufe, wenn sie an verregneten Novemberabenden ihren Schwarztee zubereitete oder sich beim für mich völlig überflüssigen, aber akribischen Schminken die dunkelbraunen Augen so detailverliebt begutachtete. Stets zog sie den Lidstrich ein paar Millimeter über das Ende der mandelförmigen Augen hinaus und streifte mit einer geschmeidig-routinierten Bewegung die Mascara-Bürste immer nur einmal über die vollendet geschwungenen langen Wimpern. Ja, es waren all diese ihr so eigenen Absonderlichkeiten, die sie für mich so attraktiv und atemberaubend machten. Für mich waren es eben nicht die auffälligen, für jeden erkennbaren Vorzüge ihrer Proportionen, die dunkelbraunen Rehaugen, die hübsche Nase über den vollen Lippen und der schlanke Hals. Es war auch nicht das lange ebenholzfarbene Haar, das ihre hohen Wangenknochen umspielte. Es war so viel mehr als das.

Immer und immer wieder schwebt mir ihr Bild vor mir, wenn ich meine Augen schliesse. Zittrig streichelt meine linke Hand streichelt meinen rechten Unterarm auf und ab.

Ich greife nach der Whiskeyflasche und nehme einen grossen Schluck aus der Flasche. Mich schüttelt es vom Hochprozentigen. Wieder kreisen meine Gedanken um Vergangenes, Verlorenes, Verschollenes. Meine Sehnsüchte klammern sich an die Whiskeyflasche und dem Bündel Briefe, die meine Hände fest umschlossen halten. Ich stehe auf, wanke vorsichtig über die alten Holzdielen und knie mich vor die schwere Truhe in der Zimmerecke. Noch ein Schluck Whiskey und ich nehme wieder einmal allen Mut zusammen und öffne vorsichtig den mächtigen, hölzernen Deckel. Meine feuchten Augen finden Bilder und Briefe, Postkarten und Fotos, hunderte Fotos von mir, von ihr, von uns. Eine einsame Träne tropft über meine Nasenspitze auf eine Aufnahme von Anna an der Reling eines Circle-Line-Cruises Schiffes vor New Yorks Wahrzeichen der Statue of Liberty, der Freiheitsstatue. Ich erinnere mich genau. Das Bild hatte ich sechszehn Stunden vor jenen Minuten gemacht, die alles veränderten. Eine weitere Träne fiel auf die Zeugnisse der Vergangenheit in die Truhe. Dann noch eine bis sich meine ganze Trauer und Wut in die hölzerne Kiste voll mit Devotionalien eines verlorenen Lebens ergiesst. Rasch schlage ich den gusseisenbeschlagenen Deckel zu und ertaste die Flasche Alkohol neben mir. Meine Lippen erflehen den betäubenden Saft, der gierig meine Kehle herunterrinnt. Ich trinke die ganze Flasche leer, wische mir mit den Ärmeln meines Pullis die Tränen aus den Augen und von den Wangen. Anna! Orientierungslos blicke ich durch meine kleine Behausung; dann überkommt mich erneut ermattende Müdigkeit und endlich, mit Mühe und erheblicher Anstrengung knipse ich das einsame Glühlämpchen aus.

Meinen Körper bette ich nach einem letzten leerenden Schluck aus der Pulle auf das Sofa und starre zum Fenster hin, hinter dem der Wind mit den Ästen des Lindenbaumes spielt. Mir fallen die bleiernen Augen zu und sehe …. Anna. Wie immer. Phantasien fahren Karussell in meinem Kopf und ich kann nicht aufhören an sie zu denken. „Wo auch immer du sein magst… Gute Nacht, meine Schöne. Schlaf gut, Anna!“, brabbele ich trunken vor mich hin. Entfernt hört man das Rauschen des Wassers vom grossen Strom. Unbeeindruckt von meinem Gebet fliesst der Fluss draussen vorbei an Häusern, Menschen und ihren Schicksalen. Es ist dunkel und kalt, im Zimmer und tief in meiner Seele.

Mund der Wahrheit

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