Читать книгу Mund der Wahrheit - Johannes Peter Zimmermann - Страница 8

Es wäre nichts

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Und hätt’ ich alle Güter und Reichtümer der Welt

Besässe Macht und Anseh’n, besässe Gut und Geld

Hätte ich tausend Leben, wär’ prächtig, ewig, klug

Besässe Königreiche, besässe Schwert und Pflug

Was wäre so ein Leben, was wär’ die Welt für mich?

Würde es Dich nicht geben, nur wertlos ohne Dich

Mühsam quält sich die silberne Ellipse des Frühlingsmondes träge durch die letzten hellgrauen Nachtwolken, um sich gleich wieder hinter einem dunstigen Schleier zu verstecken. Es ist bereits früher morgen und ein frischer Tau hat seine ersten silbernen Wassertropfen wie kleine Kristallmurmeln auf die Knospen der Linden und die vereinzelten handförmig gefächerten Blattwedel des einsamen und noch rotbraun gefärbten Kastanienbaums gelegt, der sich von der anderen Flussseite am Münsterberg einigen sanften Windböen entgegenräkelt. Ein paar tief fliegende Boten des sich verabschiedenden Winters zwitschern mir aus den kargen Ästen ihren schrillen Gesang durch das weit geöffnete Fenster zu und ein einsamer Schillerfalter flattert aufgeregt im blassen Licht der flirrenden Morgenröte als zelebriere er im Flug einen ersten Tanz in Erwartung des nahenden Frühlings. Viel zu früh hat ihn das Leben in die feuchte Kälte eines klaren Märzmorgens hineingeboren und seine blau-braun gemusterten Flügel aus dem wohligen Kokon entlassen. Auch heute haben mich meine verstörenden Träume mehrfach aufgeweckt und wieder habe ich mich in Phantasien und konfusen Gedankentunneln verstiegen. Nach einer Nacht mit wenigen kurzen Schlaf- und vielen langen Wachphasen, nach einer ganzen Flasche Whiskey und unzähligen Erinnerungssplittern findet mein Geist langsam den Weg aus einem Labyrinth an Bildern hinein in den sich ankündigenden Tag. Bald wird wieder die Betriebsamkeit des Tages die friedliche Ruhe der Dunkelheit verdrängt haben. Schon bald wird die Strassenreinigung die Trottoire und Plätze vom Unrat der Nacht befreien und das Leben zurückkehren in die Restaurants am Oberen Rheinweg, in die Geschäfte der Freien Strasse, ins Bankenquartier und auf den Marktplatz vor dem prachtvollen roten Rathaus. Das hektische Treiben wird wieder seinen alltäglichen Gang gehen. Angestellte hasten in ihre Büros, Verkäuferinnen in ihre Läden und die Strassenbahnen der Baseler Verkehrsbetriebe werden wieder unablässig und pünktlich ihren vorgezeichneten Routen folgen. Wie eh und je werden wohl auch heute wieder an den Marktständen vor dem Rathaus mancherlei Schweizerische und internationale Spezialitäten angeboten, wie Korbwaren und frisches Obst, Gemüse, Bergkäse oder das typische Basler Ruchbrot. Wochenmärkte und besonders dieser haben für mich immer ein ganz spezielles Flair, eine altmodische Romantik, ohne dass ich es genau ausmachen könnte, was es genau ist. Es ist vielleicht das Traditionelle und Ursprüngliche was ich hier geniesse. Im Zeitalter, wo sich Menschen ihre Äpfel im Internet bestellen, entdecke ich auf einem Markt ein längst verlorenes, nostalgisches Lebensgefühl wieder. Hier in Basel liegt es aber gewiss auch an der historischen Kulisse der alten Gebäude, die den Marktplatz stilvoll einfassen. Gerade an diesem geschichtsträchtigen Ort im Zentrum Basels vor dem gut fünfhundert Jahre alten Rathaus mit seinem einzigartigen Innenhof und den kostbaren Statuen und Wandmalereien ist es die Seele einer Stadt, die man förmlich einatmen kann. Unterhalb des Münsterhügels inhaliert man zwischen Singerhaus und Falknerstrasse Basels Savoire-Vivre. Die phantastische Akustik des Rathausinnenhofes nutzen regelmässig Sänger, Musikanten und Chöre für ein kleines Potpourri ihrer Fähigkeiten und geniessen die kurze Aufmerksamkeit der vielen Passanten und Marktbesucher.

Mitten unter Menschen habe ich hier nach all den Wirren und Wendungen, nach all den Sünden und Sühnen meinen sicheren Hafen gefunden vor denen, die mir nicht gut getan haben und denen ich wohl vermutlich auch nicht gut getan habe. Ich habe Zuflucht gefunden vor mir selbst und vor der einen, die mir alles war. Ich habe Zuflucht gefunden auch vor denen, deren Einfalt und Dummheit, deren Egoismus und Herzlosigkeit mir mein Leben zerstört haben. Obwohl so vieles so nah erscheint, ist das Meiste doch so unendlich weit weg von mir und meiner Gegenwart. Mein selbstgewähltes Exil lebe ich gewiss nicht in einer abgeschiedenen Enklave oder Einöde fernab der Zivilisation, sondern vielmehr wie eine Zuschauer, wie in einem Theater oder Kino. In den täglichen Premieren, die das Leben für mich aufführt, betrachte ich das Spektakel des Alltäglichen als einer, der in sicherer Distanz mitfühlt, mitlebt, mitleidet und mitliebt ohne jemals ein Teil der eigentlichen Geschichte zu sein. So bleibe ich verschont von neuen Verletzungen und neuen Wunden. Ich nehme am Leben teil als Voyeur in sicherer und respektvoller Entfernung zu den Menschen, ihren Eitelkeiten und den ihnen so unendlich wichtigen Habseligkeiten. Ich halte Abstand zu den profanen Problemen ihres Alltags, ihren geschäftigen Belanglosigkeiten, gesellschaftlichen Konventionen, den übersteigerten Geltungsbedürfnissen, den altvertrauten Neurosen und Profilierungssüchten. Ihre Einfalt und ihre Zerbrechlichkeit sind mir vermutlich viel bewusster als ihnen selbst. Ich hege keinen Groll gegen die Menschen an sich, aber ich halte stets Abstand zwischen Ihnen und mir. Nie wieder will ich, dass mich menschliches Schicksal berührt. Nie wieder soll die Hilflosigkeit und Not anderer mich so selbstzerstörerisch berühren. Mein Schicksal berührt auch niemanden, ausser Gerry vielleicht, einem inzwischen Freund gewordenen früheren Bandkollegen, der mittlerweile in Berlin lebt und zu dem mich eine stetig wachsende Freundschaft verbindet. Auch ihn werde ich bald wiedersehen. Endlich. Aber hier in Basel bin ich ein Voyeur des Lebendigen. Ich bin da und sehe dem Leben zu wie es sich mir zeigt, ohne Rührung und ohne Teilhabe.

Gelegentlich beobachte ich von einem Strassen-Café oder von einer Parkbank aus die umtriebigen Geschäftigkeiten der Yuppies und modernen „Business People“, ihren selbstgewählten Tätigkeitstaumel auf der ewigen Jagd nach Anerkennung, Geld und Prestige. Nur selten beobachte ich ihre Musse. Und selbst in den Momenten der Zerstreuung verweilen die meisten von ihnen scheinbar nicht im Augenblick, sondern bearbeiten mit hektischem Daumen die Displays ihrer Smartphones und Tablets, unfähig im analog Lebendigen zu sein. Da ist es in Basel nicht anders wie in London, Berlin, Sao Paulo oder Tokio. Es ist wohl ein weltweites Phänomen zu sein, die ich gerne mit „digitalem Autismus“ bezeichne. Mir ist es fremd und es mutet wie einen Krankheit an, wenn sich Menschen ausgerüstet mit überdimensionalen Kopfhörern und grossformatigen Smartphones von der Aussenwelt abkapseln. Wen wundert da die wachsende Isolation, Bindungsängste und rücksichtslose Fokussierung auf den eigenen Vorteil im Sinn einer erbarmungslosen Selbstverwirklichung - immer hip, trendy und den neusten Werbeversprechen und Trendvorgaben aus dem digitalen Kosmos hirnlos Folge leistend? Unser digitaler Big-Brother hat viele von uns komplett umdressiert und unsere Existenz vollumfänglich berechenbar gemacht und ökonomisiert. Vielleicht gelingt es ja eines Tages einem allmächtigen Computer-Virus diesem gigantischen Irrsinn ein Ende zu bereiten. Wäre ich begabt in der Welt der Informationstechnologie, dann würde ich mich diesem hehren Ziel widmen: der Entwicklung eines globalen Computervirus, der uns in unsere menschliche Bestimmung zurückkatapultiert. Nun, ich werde weder den Baslern noch dem Rest der Welt mit meinen minimalen IT-Kenntnissen dieses Glück bescheren können. Ausserdem ist heute meine alljährliche Reise das, was mich mehr umtreibt als das analoge und digitale Leben da draussen.

Basel hat mich in all den Jahren vieles gelehrt. Es hat mir Trost gespendet, wenn ich betrübt war. Es hat mir zugelächelt, wenn ich verzweifelt war und mich jeden Morgen wachgeküsst, wenn ich nicht mehr aufstehen wollte. Aber erst bei meinen Ausflügen in die Schweizer Bergwelt habe ich etwas viel bedeutungsvolleres gelernt: Demut.

Ich habe die tiefe Bewusstheit der eigenen Endlichkeit erfahren und die kältestarrenden Viertausender haben mir meine eigenen Unzulänglichkeiten und Verfehlungen vor Augen geführt. Die beeindruckende Bergwelt der hochalpinen Gebirgsketten mit ihren gigantischen Basalt- und Kalksteinmassiven, den majestätischen Gletschern und schroffen Felsformationen hat mich seit jeher fasziniert. Wo ist man sonst dem Himmel und seiner eigenen Vergänglichkeit so nah? Die Endlichkeit aller Dinge ist in all den Jahrmillionen alten Felsen komprimiert, fühlbar, geradezu greifbar und körperlich erfahrbar. Einer dieser Sehnsuchtsorte ist das Jungfraumassiv im Berner Oberland. Am Ende des Lütschentales öffnet sich weit oben ein beeindruckender Talkessel mit seinen mächtigen Viertausendern, den grossen Gletschern, Fels und Firn. Ich stehe inzwischen noch etwas wacklig mitten in meinem Zimmer und stelle mir mit geschlossenen Augen die Farben des Himmels beim Sonnenaufgang über den Gipfelgraten vor. Dieser zauberhafte Ort gilt wohl zu Recht als einen der schönsten Bergdörfer der Welt. Grindelwald, Wengen und Mürren und das ganze Berner Oberland hatten mich schon als junger Mann unzählige Male zum Wandern, Klettern, Ski-Fahren willkommen geheissen. In der Tat: Eiger, Mönch und Jungfrau thronten wie Kathedralen des Übermenschlichen über dem Talkessel und ragten mit ihren schneebedeckten Gipfeln hoch bis in die Wolken. Unverrückbar waren sie da wie eh und je, auch wenn Wind und Wetter seit Jahrtausenden an ihnen zerrten. Mir geht es ähnlich wie den kältestarrenden Felsen mit meiner Liebe zu Anna. Etwas zerrt seit Jahren an mir. Geduldig und stur rüttelt etwas an meiner Kruste. Etwas Unausweichliches fordert mich heraus und nagt an meiner Seele. Meine Liebe zu dieser Frau reibt an mir, zehrt an mir und ist allgegenwärtig bis heute. Der langsam auftauende Permafrost, der kalte Wind über den Kämmen, die Wasserfälle an den Flanken erodieren das steinerne Gesicht der Berge und nagen unablässig und erbarmungslos an ihnen. An mir knabbert auch etwas; jede Stunde, jeden Tag. Meine Liebe weiss seit jenen Ereignissen weder wohin sie soll, noch wozu sie überhaupt da ist. Sie ist nur noch ein bohrender Schmerz, überflüssig, unnötig, sinnlos. Und sie krebst am mir. Sie ist unablässig da, nicht ausschaltbar, nicht stillbar. Sie ist präsent, unbarmherzig, allumfassend, leidenschaftlich und grausam, genau wie Wind und Wasser an diesen Gneis- und Basaltfelsen wühlen. Doch nicht minder gegenwärtig ist auch mein Hass auf die, die mir alles genommen hatten.

Ehrfürchtig denke ich auch jetzt wieder an diese eine heilige, spektakuläre Felswand. Die brutale, ewige Wand des Eiger. Die Wand der Dramen und Triumphe, des Überschwangs und des Todes. Allmächtig überwältigt mich mein Zauberberg jedes Mal, wenn ich an ihn denke oder den Eiger-Trial entlang wandere. Auch Anna und ich, wir waren hier einmal ungetrübt glücklich vor vielen Jahren. Unzählige Male hatte ich ihr von der Magie dieses Ortes vorgeschwärmt solange, bis dass wir eines Tages hinfuhren. Sie war elektrisiert vom Panorama und der Kraft, die diese Berge versprühen. Ich hatte ihr bei einer Wanderung die einzelnen Gipfel, Fluchten und Gletscher der umliegenden Gebirgsketten beschrieben und erzählt, was ich wusste und fühlte. Gerade jetzt fühlt es sich wieder an als wäre es gestern gewesen, obwohl es eine halbe Ewigkeit her ist. Wir hatten bei einer unserer spätsommerlichen Bergtouren auf einer verlorenen, nach Wildblumen duftenden Alpenwiese pausiert und man hatte von dort aus einen phantastischen Rundumblick auf das gewaltige Jungfrau Massiv, die First und das Wetterhorn.

Wohl fast eine Stunde hatten wir damals stumm nebeneinander gesessen. Zwei Falken hatten ihre Flügel ausgebreitet und segelten im Wind und von ferne hörte man ein leises Grollen aus der Gletscherschlucht des oberen Grindelwaldgletschers, wo regelmässig ein paar kleinere Muren ins Hochtal abgingen. Dann hatte Anna ganz leise zu mir gesagt:

„Fühlst du das, Peter? Spürst du es auch? Hier an diesem Ort? Hier ahnt man es, oder? Hier ahnt man, dass es etwas Göttliches gibt in dieser Welt. Wenn du diese gewaltigen Berge siehst, die Felsen, Gipfel und Grate, wenn du den Bergwind fühlst, das Eis riechst, dann weiss man es doch, oder Peter? Dann erkennt man Gott und sich selbst in den Dingen. Dann erfährt man, wie klein wir eigentlich sind und wie unglaublich überheblich. Du spürst es doch auch Peter! Man ahnt …“ , sie stockte kurz. „Man ahnt …. ‚Ewigkeit‘. Die Ewigkeit, die keine Uhr mehr messen kann, keine Wissenschaft mehr ergründen und kein Geist mehr fassen kann.“ Jedes ihrer Worte hatte sich in diesem Augenblick in meine Seele gefräst. In dem Moment wusste ich, dass sie mein Leben ist. Ich griff nach ihrer Hand und hielt sie ganz fest. Tief sah ich in ihre klaren braunen Augen. „Anna, so ewig wie diese Berge hier ist auch meine Liebe zu Dir. Sie wird alles überdauern, selbst diese Felsen und Gletscher wir sie überdauern.“ Ihre Augen hatten geleuchtet und sie lächelte nur, geradeso wie immer, wenn ich ihr wieder einmal zu gefühlsduselig geworden war. „ Du alter Romantiker!“, hatte sie verzeihend gesagt und gab mir einen langen warmen Kuss.

Nur wenige Monate später sollten die Berge diese Liebe überlebt haben.

Nur wenige Monate später sollte unsere friedliche Zweisamkeit und unsere ganze kleine private Welt darin kollabieren.

Am Ende war ich nur ein Mensch, nur Peter. Ich war nicht stark genug für einen Kampf, den ich nicht gewinnen konnte. Ich war nur Peter von Bergen, ein Mann, den ich schon seit über vierzig Jahren zu kennen glaubte und dessen Eigenarten und Absonderlichkeiten ich seit über vier Jahrzehnten mit mir herumschleppe.

Der Peter, dessen Blut zirkuliert, obwohl er sein Herz nicht mehr fühlen will.

Der Peter, der atmet, obwohl er nicht mehr wissen will wozu.

Der Peter, der lebt, obwohl er schon vor vielen Jahren gestorben ist.

Der Peter, der gestern Abend einmal mehr seine Existenz in einer Flasche Hochprozentigem ertrunken hat.

Traumbilder wollen wieder auftauchen. Immer wieder sehe ich sie in meinen Nacht- und Tagträumen. Immer wieder Anna mit ihren Anna-Augen, ihren Anna-Lippen, ihrem Anna-Gang.

Und ich hatte mich selbst gesehen, den sterbenden Hengst am Strand. Sein Tod kam aus dem Hinterhalt – wie bei mir, sein Sterben erlebente er wie eine Erlösung, eine Hoffnung.

Das Glockengeläut des Baseler Münsters läutet mich in die Wirklichkeit zurück.

Es ist schon sechs. Eigentlich müsste ich mich ranhalten; die Swiss-Maschine wird am Euroairport nicht auf mich warten.

Ich greife noch mit müdem Blick zur Fernbedienung und bemerke dabei, dass meine linke Hand wieder unbewusst das Tattoo mit den beiden geographischen Zahlenreihen auf meinem rechten Unterarm berührt. Es ist bereits sehr verblasst in den letzten Jahren.

41° 53’ 18’’ N 12° 28’ 53’’ O

40° 42’ 42’’ N 74° 0’ 45’’ W

Einundvierzig Grad, dreiundfünfzig Minuten, achtzehn Sekunden Nord

Zwölf Grad, 28 Minuten, dreiundfünfzig Sekunden Ost und die andere Vierzig Grad, zweiundvierzig Minuten, zweiundvierzig Sekunden Nord Vierundsiebzig Grad, null Minuten, fünfundvierzig Sekunden West.

Ich schalte schnell noch den Fernseher ein und wähle wie immer das Frühstücksfernsehen von ARD und ZDF. Gott-sei-Dank die Kölner sind dran. Sven Lorik vertreibt mir meine alltägliche Melancholie am frühen Morgen nach einer ätzend qualvoll langen Nacht. Es gelingt ihm mal wieder mich doch noch mit seiner den Menschen zugewandten Art zu motivieren, mir einen Kaffee zuzubereiten. Gedanken wechseln in meinem Kopf wie die Wellenbilder des Flusses da draussen. Gedanken verschwimmen wie die sich in seinem Wasser spiegelnden Lichter der Stadt.

Ich denke an die zu erledigenden Text-Aufträge aber es ist wie verhext: Mir fällt nichts mehr ein. Ich bin leer, mein Kopf ist tot, ohne Inspiration, ohne Esprit und ohne Witz. „Es wird Zeit für diese Reise“, denke ich bei mir, während Peter Grossmann wieder ein spannendes Fussballthema im Sportblock mit Professor Froböse ausdiskutiert. Ich tauche einmal mehr ab in eine Ablenkung, in die Komfortzone des Alltäglichen, die mich wie antrainiert daran hindert, Gedanken aufkeimen zu lassen, die immer wieder mein Herz zum Bersten bringen.

Mein mit unsauberer Schrift voll geschriebener Papierblock liegt noch offen auf dem alten Holztisch und ich überfliege noch einmal den namenlosen Brief, den ich gestern im Laufe des frühen Abends verfasst habe.

vom 26.März 2015

Geliebte,

sind wir von allen guten Geistern und auch von Gott verlassen? Oder war er überhaupt jemals da? Was ist los mit mir und dieser Welt? Ich hasse und liebe. Und oft das Gleiche gleichzeitig. Wie geht das nur zusammen ? Anna, mein Herz, meine Liebe!

Vielleicht aus Gewohnheit bete ich nach all den Jahren noch immer für Dich, dass es Dir gut gehen möge. Ich weiß nicht, ob das Beten ist, was ich da tue. Keine Ahnung. An was, an wen glaube ich eigentlich noch? Ich denke schon, dass ich glaube. Du hast es ja damals gesagt. Ich glaube immer noch an einen Schöpfer. Es muss etwas geben, dass uns begleitet. Ja etwas, das uns begleitet; Aber es beschützt uns auch nicht, bewahrt uns nicht. Es bestraft auch nicht. Aber es ist bei uns, wenn es dunkel wird um uns herum. Irgendetwas oder irgendjemanden gibt es da vielleicht. Etwas jenseits unserer Vorstellungskraft, das grösser ist als wir Menschen mit unseren Schwächen und unserer Einfalt.

Irgendwas oder irgendwer ? Ich weiß es nicht. Wer sind wir schon im galaktischen Treibsand der Jahrmillionen, dass wir so anmaßend und überheblich sind.

Was bleibt, wenn wir Menschen ganz bei uns sind; wenn wir ganz Mensch sind?

Was bleibt aber vom Menschen, wenn jeder nur noch nach dem eignen Vorteil strebt? Wenn Banker mit Nahrungsmitteln spekulieren? Wenn korrupte Vorstände Millionenbonifikationen abgreifen? Wenn fanatische Anhänger von Religionen Jets in Hochhäuser fliegen, ihre Nächsten abschlachten? Wenn selbst Gottes Diener Kinder missbrauchen? Wenn Millionäre ihre Dekadenz in den Medien zur Schau stellen? Wenn bestechliche Politiker Ehrensold und Vortragshonorare erhalten, um Menschen falsche Wahrheiten zu verkaufen? Wenn die Reichen immer gieriger werden und ihnen das Gemeinwohl einen Scheiss interessiert? Wenn Unternehmer Kunden und Partner über den Tisch ziehen, um sich und ihre Aktionäre maßlos zu bereichern? Wenn Medien mit ihrem ganzen Trash am Voyeurismus mit dem Primitiven verdienen?

Ist es recht, dass wir Flüchtlinge aus den Hunger- und Krisengebieten des Planeten die Türe vor den Augen zumachen, sie mit Waffengewalt von uns fern halten und zuschauen, wie das Mittelmeer zu einem gewaltigen Friedhof der Armen wird.

Anna, Gott !!! Was bleibt dann noch ?

Jetzt – am Ende der Moral – was bleibt ?

Geliebte, ich bete nicht mehr nur noch für dich sondern für uns alle, zum ersten Mal auch wieder einmal für mich.

Ich habe keine Ahnung zu wem, aber das ist jetzt auch egal.

Lieber Gott ! Bitte schicke endlich wieder deine Plagen über uns. Sende uns ein paar Katastrophen auf diesen Planeten – aber dieses Mal nicht zu den Ärmsten der Armen! Bringe uns die Erdbeben nach Frankfurt, die Tsunamis nach London, sende Stürme nach Zürich und lege Brände in Hongkong, Moskau, Dubai, New York und Peking.

Bitte beschere Eruptionen und Dürren denen, die keine Barmherzigkeit mehr kennen.

Beschere ein Armageddon all denen, die Geld mit Geld um des Geldes willen machen. Sende deinen Zorn den Zufriedenen und Satten, den Dekadenten und Arroganten, damit wir alle wieder Mensch werden. Vielleicht lernen wir dann endlich wieder das zu werden, was wir auch sein könnten; mögen wir lernen demütiger und dankbarer zu sein.

Bitte Gott! Bombe uns, die Kinder des Wohlstands, auf das Existenzielle zurück. So wie du es mit mir getan hast.

Ich glaube an Dich, Peter.

Beim Lesen dieser Zeilen beginne ich zu Zittern. Diese Zeilen habe ich vor ein paar Stunden unter Einfluss von meinem guten Freund Jack Daniels geschrieben. „Für einen Werbetexter ziemlich düsteres Zeug“, spreche ich mit mir selbst. Ich nehme das Blatt und falte es einmal. Ich gebe es in ein vergilbtes Couvert und schreibe das gestrige Datum darauf. 26.März 2015. Anschließend lege ich es in den großen braunen Umzugskarton in der Ecke zu den anderen zweitausenddreihundertachtundsiebzig Umschlägen. Einige davon sind versehen mit einem Datum aus der jüngsten Vergangenheit, von letzter Woche oder vom vergangenen Monat. Andere Umschläge tragen weitaus ältere Daten. Ich finde viele Daten, auch zufällig den 29.März - Annas Geburtstag. Oder Briefe vom 15. April 2003, 23. Juni 2011 , 1. November und der 24.Dezember 2009.

Ich wollte diese Briefe irgendwann einmal wieder lesen und sie zumindest mal in eine chronologische Reihenfolge bringen, wenn ich sie schon nicht an Anna adressieren kann. Eines Tages werde ich das tun.

Die soeben konsumierten extra starken Schmerztabletten schenken mir für ein paar Stunden Linderung, denn in meinem Schädel tobt immer noch das Chaos. Es galoppiert immer noch ein rastloses, wildes Pferd um sein Leben und zermartert mir trampelnd die linke Hirnhälfte, während sich meine rechte Gehirnhälfte immer noch mit tausenden Gedanken und einer betäubenden Melancholie beschäftigt.

Zwar hat sich inzwischen mein unkontrolliert pumpender Herzschlag auf eine erträgliche Frequenz zurückgeschraubt, so dass ich es wagen kann, einen flüchtigen Blick in den Spiegel zu werfen, doch Freude bereitet mir dieser Anblick auch am heutigen Morgen nicht. Ich besinne mich, dass ich Wichtiges zu tun habe.

„Heute ist es soweit. Heute fliege ich wieder hin!“ Ich strecke meinem Spiegel ein unrasiertes und ausgemergeltes Gesicht entgegen, prüfe die zahlreichen Falten und Furchen, die das Leben in den letzten Jahren hineingefräst hat und die tiefen dunklen Ränder unter den gebrochenen, rot unterlaufenen Augen. Aber aufrichtige Selbstkritik macht sich keine bei mir breit, sondern mehr eine nüchterne Gewissheit über meinen erbärmlichen Zustand bevor ich schliesslich doch noch andächtig beginne, ein mir gleichgültiges Gesicht zu rasieren.

„An die erlesene Ausstrahlung des Araberschimmels aus meinem Traum komme ich bei weitem nicht mehr heran, aber es interessiert ja auch niemanden mehr,“ entschuldige ich mein mangelhaftes Engagement bei der täglichen Körperpflege, während ich mich lieblos für meine bevorstehende Reise in die Welt ausserhalb meines abgeschotteten Territoriums präpariere.

Duschen, Zähne putzen, Haare bürsten, anziehen. Warum eigentlich dieser ganze Aufwand ? Wahrscheinlich pflege ich mein renovierungsbedürftiges Äusseres nur noch deshalb, um nicht bei meinen Kunden und Mitbürgern Mitleid zu erwecken. Ich hole mir die steinalte ausgewaschene 501 und stöbere in meinem Schrank nach etwas Brauchbaren. Ich zerre einen kaum getragenen hellgrauen Rollkragen-Pulli aus den Tiefen des Schranks. Den hatte ich schon Jahre nicht mehr an. „Dass ich den noch habe!“, wundere ich mich. Da! Wie gebannt blicke ich auf die weiche, hellgraue Wolle des vergessenen Kleidungsstücks. Wie vom Blitz getroffen erstarre ich voller Ehrfurcht und Unbehagen, voller Glückseligkeit und Scham.

Ein langes, dunkles Haar schlängelt sich auf dem gewebten Stoff. Annas Haar. Behutsam, wie bei einem Gottesdienst zelebriere ich das Aufsammeln des dunklen Haares. Ich nehme es vorsichtig wie ein Heiligtum zwischen meine zitternden Finger und peile minutenlang dieses Relikt aus einer anderen Epoche an. Ich halte es an meine Nase, um vielleicht noch etwas zu erriechen. „Es ist krank, was ich hier tue“, denke ich im Innersten. „Völlig krank, aber ich komme nicht raus aus diesem Irrgarten. Ich finde nicht heraus aus diesem Labyrinth.“

Prüfend und fragend drehe und wende ich das wertvolle Überbleibsel aus einer besseren Zeit vor meinen weit aufgerissenen Augen.

Bilder durchkreuzen meine Linse. Wieder bebt mein Herz. Wieder rast mein Puls.

Als hielte ich die Glückseligkeit der Menschheit in meinen Händen, die vor der Schlechtigkeit der Welt bewahrt werden muss, so verharre ich mit dem Haar in der Schale meiner zusammengelegten Hände.

Schliesslich fange ich mich wieder und gebe das Haar behutsam in einen leeren weissen Briefumschlag, falte diesen vorsichtig und nehme ihn an mich, bewahre ihn auf – wie einen Schatz, den niemand mir wegzunehmen in der Lage sein soll. „Du brauchst dringend professionelle Hilfe. So kann das nicht ewig weitergehen!“, rede ich leise zu mir selbst. Ja, ich bin krank. Anna, irgendwo da draussen lebst du hoffentlich ein glückliches Leben, hast einen liebevollen Mann, ein paar Kinder, ein Häuschen im Grünen. Hoffentlich hast du mich aus deinen Erinnerungen vertrieben und auch aus deinem Herzen verbannt. Meine Gedanken quälen mich.

„Es wird jetzt wirklich Zeit. Ich muss los. Ich muss jetzt endlich zum Flughafen!“, ermahnt mich mein Herz.

Rasch suche ich ein paar weitere ungebügelte Kleidungsstücke heraus, die ich für meine alljährliche Tortur mitnehmen möchte.

Eher hastig und unkonventionell packe ich die speckige braune Reisetasche und werfe artig die notwendigsten Toilettenartikel, den Schreibblock und meinen historischen Walkman hinein. Diesen allerdings lege ich ganz behutsam oben auf mein Reisegepäck in der Sorge, er könnte jederzeit in seine historischen Bestandteile zerfallen. Im Zeitalter des iPad wirkt dieser abgenutzte tragbare CD-Player aus den Achtzigern wie eine Antiquität aus den Zeiten von Thomas Alva Edison. Aber dieses alte Teil ist mir heilig. Ich mag es analog und eindimensional.

Ich mag es einfach und nicht, dass ich mehrere Dinge gleichzeitig machen kann oder muss. Für mich ist Multitasking Köperverletzung. Multitasking teilt Aufmerksamkeit. Geteilte Aufmerksamkeit für gespaltene Persönlichkeiten ?

Meine nicht für einen Daueraufenthalt ausgestattete, karg möblierte Bleibe ist ohne jede gemütliche Note eingerichtet, auch wenn die verputzten, weissen Wände und der Dielenboden eine Vertrautheit und Behaglichkeit ausstrahlen, die mir ein Hauch von Geborgenheit bescheren. Ich hatte mir nach meinem Einzug vor bald zehn Jahren nicht die Mühe gemacht, die paar Quadratmeter durch Dekorationsarbeiten aufzuhübschen.

Lediglich ein paar alte Fotos von meinen Eltern, unserem Cockerspaniel, meiner alten Rockband und Anna haften in schlichten Wechselrahmen an der sonst kargen Zimmerwand. Daneben hängt ein Poster mit dem Kölner Stadtwappen und dem „kölschen Grundgesetz“. Wieder einmal lese ich die ersten Paragraphen:

„Paragraph 1: Et ess wie et ess! Paragraph 2: Et kütt wie et kütt!

Paragraph 3: Et hätt noch emmer joot jejange! Ich breche die sporadische Lektüre des humoristischen Gesetzblattes ab. Nein. Es stimmt nicht. Es geht nicht immer gut. Manchmal endet es sogar in einer Katastrophe. Ich suche hastig noch eine wärmende Jacke. Im chaotisch sortierten IKEA-Kleiderschrank hängen noch immer ein paar braune, graue und schwarze Einreiher im uniformen Dresscode der Finanzwirtschaft direkt neben der speckigen, schwarz-braunen Lederjacke, die ich seit dem letzten Auftritt am Kölner Tanzbrunnen vor einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr getragen hatte.

„Was für ein Konzert! Was für ein Abend und was für eine Ende!“, geht mir durch den Sinn.

Ich belasse das geliebte, lederne Bekleidungsstück an seinem angestammten Platz im Kleiderschrank und verweile noch einen Moment in den lebendigen Erinnerungen an meine Zeit als ambitionierter Musiker wie ein sehnsuchtsvolles Gedankenpuzzle an Flower-Power, Woodstock und die Blumenkinder. Wieder schweifen meine Gedanken ab. Ach ja, die Blumenkinder. Irgendwie bin ich ja auch ein Blumenkind. Schliesslich bin ich im Blumengeschäft meiner Eltern neben Chrysanthemen, Gladiolen, Tulpen und Rosen aufgewachsen. Aber ich war wohl immer mehr ein Tannenbaumtyp als ein Blumenkind. Zum einen hatte ich seit jeher eine Liebe für den Duft von Kiefern, Fichten und Tannen und einen Hang zum Einfachen, Schlichten, zum Natürlichen, Archaischen. Da sind mir Bäume, insbesondere Nadelbäume immer näher gewesen als bunte Blumen. Zum anderen Christbaumtyp, weil ich in der Adventszeit im Geschäft meiner Eltern regelmässig für den Verkauf der Weihnachtsbäume verantwortlich war. Mein Vater lehrte mich alles über Blau- und Nordmanntanne, mit und ohne Wurzelballen und besonders deren Pflege in den warmen Wohnstuben meiner Kunden während der Weihnachtszeit. Er lehrte mich die Kniffe und Tricks von der Haarlackbehandlung über konservierende Glycerinbehandlungen bis hin zur optimalen Giessfrequenz des Wurzelballens. Weihnachten! Noch so ein Melancholie und Wehmut erzeugendes Wort. Die Sehnsucht Weihnachten heisst noch immer Sehnsucht nach Unbeschwertheit, Frieden und Vergangenheit für mich und das Heimweh nach einer besseren Zeit.

„Wenn ich doch damals besser wie mein Vater und Grossvater ein zufriedener, glücklicher Landschaftsgärtner geworden wäre“, reisse ich wieder einen alten Gedanken auf, den ich schon hatte, als ich mich noch als Banker durch die Hierarchien geschleimt hatte. Ich verlasse diese chaotische Gedankenkette schnell wieder und besinne mich auf meine Reise.

Automatisiert schlüpfe ich in mein dunkelbraunes Cordjackett.

„Sieht aus wie immer das Spiegelbild- bis auf die dunklen Augenringe vielleicht!“, sagen mir meine halbwachen Pupillen. Ich erbarme mich eines kleinen Mini Size-Fläschchens lauwarmen Whiskeys, der noch in der Jackentasche steckt und mich verführerisch und fröhlich darum bittet, dass ich mich seiner annehme.

„Es wird immer früher“, denke ich beim Genuss des ersten Betäubungsalkohols um halbsieben Uhr morgens. Noch schwelge ich in einem unspezifischen Trauma aus Briefen, sterbendem Pferd, Rockkonzerten und Tannenbaumverkauf als plötzlich der Radiowecker seinen unerbittlichen Weckruf von sich gibt, um mich daran zu erinnern, dass bald ein weisses Flugzeug in ein paar Stunden abheben wird und ich nun doch langsam aufbrechen sollte.

Ich zerre wild am Kabel, um den Stecker aus der Steckdose zu ziehen. Ich erlöse mich und den krächzend Lautsprecher vom eifrigen Moderator des regionalen Radiosenders Basilisk. Leider habe ich satt des Steckers direkt die ganze Fassung aus der Wandverankerung gerissen, ohne dass die Jokes im typischen Baseldütsch des Schweizer Hochrheingrabens verstummen. Doch die rot-blauen Kabel versorgen das Gerät hartnäckig mit Energie. „Halt endlich die Klappe“, rufe ich dem Rundfunkmoderator entgegen, der mir aber ohne Reaktion weiter aus dem Lautsprecher entgegenplappert. Abermals zupfe ich wild am Kabel. Dann herrscht endlich Ruhe.

Es wird Zeit loszufahren. Auch am heutigen Tag wie auch in all den Jahren zuvor quillt nicht für eine Sekunde die Frage durch meinen Sinn, diese alljährliche Reise nicht anzutreten. Auch nach all der Zeit finde ich zwar keine befriedigende Antwort, warum ich diesen Trip auf mich nehme, aber selbst jetzt gibt es keine Spur eines Zweifels daran, dass ich ihn antreten muss.

Vielleicht reise ich nur noch aus Gewohnheit, aus einer zur Selbstverständlichkeit gewordenen alljährlichen Routine heraus. Vielleicht reise ich, weil ich etwas finden will auf der Suche nach einer Vergangenheit, die ich idealisiere und verherrliche. Ich reise als wäre es eine Zeitreise in eine Epoche „ Anna“, eine untergegangene Zeit, ein verlorenes Paradies. Unabhängig von dieser Reise war es aber auch noch eine andere Liebe, die mich am Leben gehalten hat. Eine ewig junge, immer neue Liebe voller Lust und Leidenschaft. Meine allererste und wohl auch meine allerletzte Liebe. Diese erste große Liebe hatte einen klangvollen Namen. Diese ewig junge, wunderbare Schönheit hieß „Musik“. Aber auch sie alleine hätte mich nicht all die Zeit im selbstgewählten Exil überstehen lassen können, in der freudlosen, monotonen Distanz zu dem Menschen, den man liebt. Es waren beide Sehnsüchte, die mir Lebenskraft geben und gaben bis zum heutigen Tag. Bei Gott, ich werde meine beiden hübschen, sechs-saitigen Freundinnen in den nächsten Wochen vermissen.

Die braune Reisetasche in der Hand werfe ich einen letzten skeptischen Blick umher durch die Stube, auf die einfachen Holzstühle, den alten Tisch mit dem nicht gesäuberten Geschirr der letzten vier Tage und die noch nicht entsorgten leeren Flaschen Alkohol in der Ecke vis-a-vis des grünen Sofas. Der Zustand meiner Wohnung ist beklagenswert. Überall liegen noch nicht entsorgte Zeitungsberge und Paketkartons herum, der Boden ist staubig und einige Shirts, Hosen und Socken fliegen in den Ecken umher. Ich sehe noch einmal die Silhouetten meine beiden Gitarren und die Fotos an der Wand.

Dann schliesse die Tür und eile die wenigen Stufen das Treppenhaus empor. Ich lege den Schlüssel unter die Fussmatte vor Davids Wohnung, der mir versprochen hatte, in meiner Abwesenheit nach dem Rechten zu sehen und meine Post einzusammeln. Ich muss mich beeilen. An Pierrettes Wohnung und dem Bellen ihrer Hündin vorbei trete ich durch den kleinen Flur ins Freie und lasse die schwere Eichentüre mit ihren Eisenbeschlägen hinter mir langsam ins Schloss fallen. Meine Hände werden feucht und ich kann eine gewisse Aufregung nun dann doch nicht unterdrücken, denn schliesslich warten die letzte Ruhestätte meiner Eltern und zweitausend Jahre alte Ruinen unter einem rosafarbigen Firmament auf mich.

Ich laufe die paar wenigen Schritte bis zum Schaffhauserrheinweg, wo ich regelmässig mein Auto parke. Mit einer mässig eleganten Armbewegung befördere ich die halbvolle Reisetasche auf die Rücksitzbank meines achtzehn Jahre alten olivgrünen Landrover Defender. Das alte Stück mit seinen kaputten Sitzen, den vielen Beulen und wenigen Roststellen ist mir ans Herz gewachsen, selbst wenn er fast alles an Komfort eines modernen Motorfahrzeugs vermissen lässt.

Ich lasse meine 88 Kilogramm in die gerissene Kunstledersitzschale fallen und zünde den Dieselmotor. Halbnüchtern und noch immer mit den noch nicht abklingenden Kopfschmerzen fahre mit dem verbeulten, in der Schweiz seltenen dunkelgrünen Rechtslenker die kurze Strecke zum Euroairport Basel-Freiburg-Mulhouse. Kurzfristig entscheide ich mich für die Route durch die Stadt. Der murrende Motor des Defenders knattert laut dieselnd über den Claragraben durch das Klingental-Viertel. In der Webergasse warten schon zu dieser recht frühen Stunde die Liebesdienerinnen aus aller Herren Länder auf kaufkräftige Kundschaft. Die Tramstationen an der Greiffengasse sind bereits gefüllt mit Menschen auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule oder Universität. In den Tramlis lesen die Passagiere ihre 20min-Zeitschrift. Die mittlere Rheinbrücke ist wieder einmal beflaggt mit dem Wappensymbol Basel dem „Baselstab“ und der Schweizer Nationalflagge. Etwas ruckelig quert der Landi die Gleise der Tramlinie 14 und wir passieren rechter Hand das prächtige Hotel „Les Trois Rois“, die eindrückliche Luxusresidenz „Dreikönig“ eines der phantastischen Hotels der ganzen Schweiz. Ich hatte jüngst die Ehre von einem Kunden zu einem Business-Lunch hierhin eingeladen worden zu sein und die köstliche Küche und die einzigartige Atmosphäre des Hauses geniessen zu dürfen. Auch wenn ich mir selber ein solches Vergnügen nicht leisten würde und könnte, war ich doch geschmeichelt in so einem edlen Ambiente dinieren zu dürfen.

Vielleicht lag meine Zugewandtheit zum „Les Trois Rois“ auch daran, dass mir im Laufe dieses Mittagessens dann auch noch den Auftrag für die textliche Ausgestaltung einer neuen Kampagne eines lokalen Kosmetikunternehmens erteilt wurde. Aber auch für diesen Auftrag fehlte mir bis heute die notwendige Idee. Ich fahre am grossen Portal des Dreikönig vorbei und mein Defender sieht neben den hoteleigenen Gefährten vor dem Eingang des Hotels wie ein Schrotthaufen aus.

Aber in Basel falle ich mit meinem Schrotthaufen glücklicherweise nicht negativ auf, im Gegensatz zum versnobten Zürich. Ich freue mich eigentlich nicht auf meine Reise und doch wächst meine Aufregung immer mehr je näher ich dem Flughafen komme, während ich durch das St.-Johann- Quartier fahre. Nur noch ein kurzes Stück durch den Kreisverkehr am Kannenfeldpark, über die Flughafenstrasse am Grand Casino Basel vorbei und ich bin endlich da. Ich stelle meinen alten grobbereiften Gefährten ab und begebe mich über die Rolltreppe zum Check-in- Bereich im kleinen Terminal des Dreiländer-Airport.

Ich atme durch. Die Unausweichlichkeit des Schicksals umarmt mich wieder.

Es ist so weit.

Mund der Wahrheit

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