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Wie soll ich das schaffen?

Jede Familie befindet sich in einer ganz speziellen Situation, und keine kann auf genau die gleichen Ressourcen zurückgreifen wie eine andere. Doch glauben wir, dass alle Familien und Individuen, einfach weil sie Menschen sind, über immense innere Ressourcen verfügen, die sie nutzen und weiterentwickeln können, unabhängig von den Umständen, in denen sie sich befinden. Diese Ressourcen können uns bei unserem Bemühen, wichtige Entscheidungen für unser eigenes Leben und für unsere Familie zu treffen, in ungeheurem Maße helfen.

Es gibt Menschen, die stets Möglichkeiten finden, das Wohl ihrer Kinder an die erste Stelle zu setzen, so schwierig ihre persönliche oder ökonomische Situation auch sein mag. Wir meinen, dass Kinder es in jedem Fall verdienen, im Leben ihrer Eltern an erster Stelle zu stehen. Aber was heißt es, Kinder an die erste Stelle zu setzen? Es lohnt sich, darüber nachzudenken. Was auch immer es für Sie bedeutet, es wird sich ändern, während Ihre Kinder älter werden, und es kann für jedes Kind etwas anderes sein. Ganz bestimmt bedeutet es nicht, von unseren Kindern besessen zu sein und ständig wachsam über ihnen zu schweben (was in dem Schlagwort „Helikopter-Eltern“ zum Ausdruck kommt). Es bedeutet auch nicht, dass Sie Ihre eigenen Bedürfnisse auf eine Art opfern müssen, die im Grunde unklug und für alle Beteiligten potenziell ungesund ist. Achtsamkeit bedeutet nicht, auf ein Kind dermaßen fokussiert zu sein, dass Sie sich selber verlieren. Der Dreh- und Angelpunkt für alles heißt „Balance“. Achtsamkeit hilft uns dabei, unser Lebensgefühl eines buchstäblich „leibhaftigen“ Gewahrseins weiterzuentwickeln und zu vertiefen, die gelebte Erfahrung, im Körper und im Leben geerdet zu sein.

Wie bei einem Staffellauf, bei dem in einer Übergangsphase der Stab weitergereicht wird – sprich: wenn sie volljährig sind –, ist es unsere Aufgabe als Eltern, unseren Kindern eine gute Ausgangsposition zu verschaffen, damit sie ihre „Solo-Runden“ erfolgreich laufen können. Um das zu ermöglichen, müssen wir ihnen in der Zeit, in der wir neben ihnen herlaufen, alles geben. Dazu gibt es viele Möglichkeiten. Es gibt nicht nur einen einzigen richtigen Weg, und es gibt kein Patentrezept. Es geht auch nicht nur um ein „Machen“. Im Gegenteil: Auf lange Sicht gesehen, könnte es mehr um unser „Da-Sein“ gehen als um unser Tun. Ganz gleich, unter welchen Umständen wir leben, wenn der Wille, die Motivation und das Interesse da sind, können wir lernen, die inneren Ressourcen von Stärke und Weisheit, Kreativität und Fürsorglichkeit zu nutzen, die in uns allen schlummern. Noch mehr: Jeder Augenblick gibt uns dazu aufs Neue Gelegenheit, und deshalb ist es wichtig, dass wir einen Rhythmus finden und verstehen, dass wir sanft zu uns sein müssen, denn wir haben einen weiten Weg vor uns. Und das ist es, was die Praxis der Achtsamkeit uns Eltern bietet.

Die Praxis der Achtsamkeit in der Familie fordert Eltern Energie und Engagement ab, so wie das auch für jede andere intensive spirituelle Praxis und für jede Bewusstseinsdisziplin gilt. Vielleicht werden wir uns hin und wieder fragen, ob wir wirklich in der Lage sind, eine solche Aufgabe auf uns zu nehmen, deren Erfüllung unser ganzes Leben in Anspruch nehmen kann. Vielleicht fragen Sie sich: „Wie soll ich das denn zusätzlich zu all dem anderen, was ich schon tue, auch noch schaffen?“ Vielleicht unterstützt und inspiriert es Sie dann, wenn Sie entdecken, dass Sie aufgrund Ihrer Funktion innerhalb der Familie bereits mit wichtigen Aspekten systematischer Disziplin und mit Methoden der Achtsamkeit vertraut sind. Achtsamkeit als innere Disziplin zu praktizieren ist Eltern möglich, weil sich diese Art der Anwesenheit ganz natürlich aus den Erfahrungen und Anforderungen entwickelt, denen wir innerhalb der Familie Tag für Tag gegenüber stehen.

Wir müssen als Eltern ohnehin ständig aufmerksam und diszipliniert sein. Wir bringen uns dazu, jeden Morgen rechtzeitig aufzustehen, dafür zu sorgen, dass auch unsere Kinder aufstehen und frühstücken, so dass sie rechtzeitig zur Schule aufbrechen, und dann, falls wir nicht zu Hause arbeiten, uns selbst für die Arbeit bereitzumachen und rechtzeitig loszugehen. Es fordert Disziplin und Aufmerksamkeit, die komplizierten Zeitpläne unserer Kinder und unsere eigenen Termine aufeinander abzustimmen, und auch bei der Planung und Ausführung tagtäglicher Verrichtungen wie Einkaufen, Kochen, Waschen und Putzen sind diese Faktoren wichtig.

Wir haben bereits erstaunliche Fähigkeiten entwickelt. Wir betreiben Tag für Tag Krisenmanagement, jonglieren mit unterschiedlichen, oft miteinander konkurrierenden Anforderungen an unsere Zeit und Energie, und wir setzen jenen unglaublichen sechsten Sinn ein, den wir als Eltern sehr schnell entwickeln und der uns in jedem Augenblick sagt, wo unsere Kinder sind und ob ihnen Gefahr droht. Wir sind auch geübt darin, ein Gespräch zu führen, während wir andere Dinge erledigen, sowie darin, uns trotz unzähliger Unterbrechungen nicht von einem bestimmten Gedankengang abbringen zu lassen. Andere Menschen mögen sich zuweilen verletzt oder abgespeist fühlen, weil sie das Gefühl haben, dass wir ihnen nicht unsere volle Aufmerksamkeit schenken. Doch als Eltern können wir unsere Aufmerksamkeit gleichzeitig auf viele Dinge richten: Wir können uns mit jemandem unterhalten und dabei auf unser Kind aufpassen, eine Jacke zuknöpfen oder das Kind rasch auf den Arm nehmen, bevor etwas Gefährliches passiert. Solche Fähigkeiten entwickeln Eltern zwangsläufig. Je mehr wir sie nutzen und entwickeln – und das müssen wir als Eltern ohnehin –, umso besser werden wir darin. Sie gehen uns in Fleisch und Blut über.

Bei unseren Bemühungen, als Eltern Achtsamkeit zu praktizieren, können wir diese bereits vorhandenen Fähigkeiten sowie die Disziplin, die das Familienleben erfordert, überaus gut einsetzen. Das eine ist die natürliche Erweiterung des anderen. Um im Umgang mit unseren Kindern Achtsamkeit zu entwickeln, müssen wir einen Teil unserer Energie und Disziplin und Fürsorglichkeit nach innen richten, auf unseren eigenen Geist und Körper; auf unsere Erfahrungen und unser Bemühen, uns systematischer um das innere und äußere Leben unserer Kinder zu kümmern, ihre seelischen und ihre physischen Bedürfnisse gleichermaßen – etwa Kleidung, Nahrung und ein angenehmes Zuhause.

Wir können in jeden Augenblick Achtsamkeit einbringen, ganz gleich, wie kurz er ist oder wie gestresst wir sind oder wie „zu“ wir uns fühlen mögen. Doch um Achtsamkeit zu kultivieren, ist es erforderlich, dass wir uns tagtäglich engagieren.

Die meisten der vielen tausend Teilnehmer des auf der Achtsamkeitspraxis basierenden Anti-Stress-Programms, das an der Stress Reduction Clinic des Medizinischen Zentrums der Universität Massachusetts angeboten wird, sind Eltern. Viele von ihnen kommen mit schweren und manchmal lebensbedrohlichen Gesundheitsproblemen zu uns und haben oft auch noch erhebliche soziale, ökonomische und persönliche Probleme. Manche haben in ihrer Kindheit selber schreckliche Dinge erlebt. In ihrem Bemühen, mit ihrer extrem schwierigen Situation in der Gegenwart und mit ihren Problemen aus der Vergangenheit fertig zu werden, leisten viele dieser Menschen tagein, tagaus Erstaunliches. Während des achtwöchigen Kursprogramms versuchen sie, in ihrem Leben Achtsamkeit zu entwickeln, wobei sie auf dem aufbauen, was sie ohnehin bereits für ihr eigenes Wohlbefinden und für das Wohl ihrer Familien tun. Im Laufe dieses Kurses verändern sich die Einstellungen dieser Menschen sowie die Art, wie sie andere Menschen einschließlich ihrer Kinder sehen und wie sie zu ihnen in Beziehung treten, oft tiefgreifend und dauerhaft. Trotz der Schwierigkeiten, die es mit sich bringt, im Alltagsleben Achtsamkeit zu entwickeln und aufrechtzuerhalten, berichten viele Kursteilnehmer, dass sie sich aufgrund der für sie neuartigen Aufmerksamkeit sowohl zu Hause als auch bei der Arbeit entspannter, positiver und besser in der Lage fühlen, mit Schwierigkeiten fertig zu werden, und dass ihr innerer Friede und ihr Selbstvertrauen stabiler sind. Die Anwendung der Achtsamkeitspraxis eröffnet ihnen neue Möglichkeiten. Manche Teilnehmer berichten, dass sie sich innerlich freier und sicherer fühlen, als sie es je zuvor für möglich gehalten hätten – sie haben nicht mehr das Gefühl, den Umständen ihres Lebens hilflos ausgeliefert zu sein.

In diesem klinischen Programm erläutern Kursleiter den Teilnehmern die verschiedenen Aspekte der Meditationspraxis und geben ihnen außerdem Tipps, wie sie diese Methoden in problematischen Alltagssituationen anwenden können. Im Laufe des Programms merken die Teilnehmer weitgehend selbst, wie sie Achtsamkeit sinnvoll auf ihre spezielle Alltagssituation anwenden können. Dieser kreative und sehr intuitive Prozess entwickelt sich ganz natürlich aus der Achtsamkeitsübung selbst.

Ebenso verhält es sich mit der Anwendung der Achtsamkeit in der Familie. Wir haben nicht vor, Ihnen in diesem Buch konkret zu sagen, was Sie tun oder lassen sollten. Nur Sie selbst können das entscheiden, weil nur Sie Ihr Leben genau kennen und nur Sie wissen können, was Ihre spezifische Situation in einem bestimmten Augenblick erfordert. Sogar die Frage, wie Sie die Achtsamkeitspraxis anwenden können, behandeln wir nur in ganz allgemeiner Form. Wie Sie dabei im Detail vorgehen und welche spezifischen Entscheidungen Sie treffen sollten, kann sich nur aus Ihrer eigenen Motivation ergeben, jeden einzelnen gegenwärtigen Augenblick zu würdigen, indem Sie ihm Ihr volles Gewahrsein schenken – und aus der Sehnsucht Ihres eigenen Herzens. Wenn Sie so handeln, werden sich aus den Situationen, die Sie mit Ihren Kindern erleben, Entscheidungen entwickeln, die vom Geist der Achtsamkeit geprägt sind. Diese werden aus Ihrer eigenen Kreativität, Vorstellungskraft und Liebe, aus Ihrer persönlichen Genialität erwachsen, denn diese Ressourcen in Ihrem Inneren sind praktisch unerschöpflich.

Außerdem gibt es heute eine nahezu unübersehbare Vielfalt von Familiensituationen: alleinerziehende Mütter und Väter; Paare, die sich zwar getrennt haben, ihre Kinder aber trotzdem gemeinsam erziehen; Paare, die spät in ihrem Leben noch einmal Kinder bekommen, obwohl sie bereits erwachsene Kinder haben; Paare, die Kinder adoptieren oder als Pflegeeltern die Verantwortung für Kinder übernehmen; Großeltern, die die Kinder ihrer Kinder aufziehen; ältere Paare, die zum ersten Mal Kinder bekommen; gleichgeschlechtliche Paare; Paare, die sich bezüglich der Kindererziehung völlig einig sind, und Paare, die sich praktisch nie einig sind und die über ihre elterlichen Aufgaben völlig unterschiedliche Ansichten haben; Paare, bei denen die Beteiligung am Erwerbsleben und an der Erziehung der Kinder völlig ungleich verteilt ist; Familien, in denen beide Eltern einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen oder sogar zusätzlich noch Überstunden machen; Familien mit einem Kind, das an einer lebensbedrohlichen Krankheit, einer körperlichen Behinderung oder einer Entwicklungsstörung leidet; Familien mit vom Alter her schnell aufeinander folgenden oder aber sehr weit auseinander liegenden Kindern, mit Zwillingen oder gar Drillingen; Familien von sehr unterschiedlicher Größe; Familien mit Kindern gleichen Geschlechts oder mit Kindern verschiedenen Geschlechts … Angesichts dieser Vielfalt von unterschiedlichen Familiensituationen kann es einfach keinen einzig richtigen Weg und kein allgemeingültiges Wissen geben, das unter allen Umständen relevant und nützlich ist.

Doch eben, weil Achtsamkeit uns keine standardisierten Formeln liefert; weil sie etwas mit der Qualität unserer Erfahrung als menschliche Wesen zu tun hat sowie damit, wie weit wir in unserem Leben zur Aufmerksamkeit fähig sind, hat sie einen tatsächlich universalen Anwendungsbereich und ist praktisch in allen Situationen sinnvoll. Jeder von uns hat einen Geist; jeder Mensch hat einen Körper, jeder vermag seine Aufmerksamkeit bewusst auf etwas zu richten; und das Leben eines jeden Menschen entfaltet sich in einer Folge einzelner Augenblicke. Achtsamkeit gibt uns keine Ratschläge, was wir tun sollten, sondern sie lehrt uns, auf unser Inneres zu hören, genau auf das zu achten, was wir selbst für wichtig halten, und unsere Vorstellungen darüber zu erweitern, was in einer bestimmten Situation und unter den verschiedensten Umständen angemessen sein könnte.

Als Eltern und als Menschen und ganz gleich, welchen Problemen wir uns in unserem persönlichen Leben gegenübersehen, sind wir alle zu erstaunlichem Wachstum und zu tiefgehenden Transformationen fähig, wenn wir lernen, unsere inneren Ressourcen zu erkennen, sie zu nutzen und einen Weg zu finden, der unseren persönlichen Werten entspricht und dem, was unser Herz uns sagt. Natürlich erfordert dies Arbeit, aber auch nicht viel mehr Arbeit, als wir ohnehin schon leisten. Vor allem erfordert es eine grundlegende Umorientierung unseres Bewusstseins, so dass wir lernen, auf jene tiefe Weise zu sehen, die aus dem Gewahrsein des gegenwärtigen Augenblicks erwächst und das Beste in uns selbst und in unseren Kindern zutage fördert.


Um nun in die Welt der elterlichen Achtsamkeit und davon, was sie von uns fordert und uns zu bieten hat, einzutreten, werden wir eine Geschichte erzählen. Wir werden für einen Augenblick in das Reich der Mythen und der Seele eintauchen. Vielleicht gibt uns das eine Ahnung davon, was es bedeuten könnte, tiefer in die Dinge hineinzuschauen und unserem eigenen Herzen zu vertrauen. Dabei können wir alle Personen in der Geschichte als verschiedene Aspekte unseres eigenen Seins auffassen und Männlichkeit und Weiblichkeit, Schönheit und Hässlichkeit, Güte und Hartherzigkeit als Eigenschaften verstehen, über die wir alle in unterschiedlichem Maße verfügen.

Mit Kindern wachsen

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