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Prolog – jkz

Unser Sohn, gerade das erste Jahr im College, kommt um 1.30 Uhr in der Nacht auf Thanksgiving nach Hause. Ein Freund hat ihn gefahren. Als er am frühen Abend anrief und uns mitteilte, er schaffe es nicht, zum Abendessen bei uns zu sein – was wir eigentlich gehofft hatten –, waren wir alle enttäuscht, und einige Augenblicke lang hatte ich deutlich Verärgerung in mir gespürt. Wir hatten dann vereinbart, dass wir die Haustür offen lassen würden und dass er uns bei seiner Ankunft wecken sollte. Doch das war gar nicht nötig. Wir hörten ihn schon beim Betreten des Hauses. Selbst wenn er versucht, leise zu sein, ist seine junge und überschäumende Energie nicht zu überhören. Er kommt die Treppe herauf. Wir rufen ihn flüsternd, um seine Schwestern nicht aufzuwecken. Er kommt in unser dunkles Schlafzimmer. Wir umarmen uns. Er tritt an meine Seite des Bettes, lehnt sich quer über mich zu Myla hinüber und umarmt uns beide gleichzeitig, mit seinen Armen, und mehr noch: mit seinem ganzen Wesen. Er ist glücklich, wieder zu Hause zu sein. Als wäre es die natürlichste Sache der Welt, liegt er quer über mir. Jede Spur von Verärgerung über seine Verspätung, jede Enttäuschung darüber, dass er das gemeinsame Abendessen versäumt hat, ist augenblicklich verflogen.

Ich spüre, dass ein Glücksgefühl von ihm ausgeht, das weder übertrieben noch manisch ist. Er strahlt Freude, Zufriedenheit, Ruhe und Verspieltheit aus. Es ist, als würden alte Freunde einander wiedersehen, und mehr als das: wie ein Familienfest. Er ist jetzt zu Hause, hier, in unserem dunklen Schlafzimmer. Er gehört zu uns. Die Verbindung zwischen uns dreien ist spürbar. Ein Gefühl der Freude durchflutet mich, und ich sehe eine Folge von Bildern aus meinem Leben mit ihm, die die Fülle dieses Augenblicks widerspiegeln. Dieser große Neunzehnjährige, der quer über mir liegt und den ich so oft in meinen Armen gehalten habe, bis er sich von uns löste und in die Welt hinausging, der nun einen zerzausten Bart und starke Muskeln hat, ist mein Sohn. Ich bin sein Vater. Myla ist seine Mutter. Schweigend sind wir uns dessen bewusst. Während wir daliegen, baden wir in unseren Glücksgefühlen, die sich zu einer Einheit verbinden.

Nach einiger Zeit verlässt er uns, um sich einen Film anzuschauen. Er kann noch nicht schlafen, weil er zuviel Energie hat. Wir versuchen, wieder einzuschlafen, doch wälzen wir uns noch stundenlang im Bett herum, vor Erschöpfung wie betäubt. Ich überlege kurz, ob ich zu ihm in sein Zimmer hinübergehen soll, um mehr kostbare Zeit mit ihm zu verbringen, aber ich bleibe dann doch liegen. Es ist nicht notwendig, dass ich irgendetwas hinterherlaufe, weder ihm noch dem Schlaf, den ich eigentlich dringend brauche. Am nächsten Morgen breche ich zur Arbeit auf, lange bevor er aufwacht. Den ganzen Tag über begleitet mich das Bewusstsein, dass er am Abend bei meiner Rückkehr zu Hause sein wird und ich ihn sehen werde.


Solche Augenblicke machen den Segen und die Freude aus, die wir Eltern erleben können, wenn wir es nicht selbst verhindern, so wie ich es an jenem Tag fast durch meine anfängliche Verärgerung getan hätte. Ebenso leicht können solch glückliche Augenblicke vorübergehen, ohne dass wir sie überhaupt bemerken. Doch was ist das Besondere an ihnen? Spüren wir nur bei der ersten Heimkehr aus dem College, bei der Geburt, beim ersten Wort oder beim ersten Schritt eine so tiefe Verbindung zu unseren Kindern? Oder sind solche Augenblicke häufiger, als wir vermuten? Könnte es sein, dass sie eher häufig als selten sind, dass wir sie praktisch jederzeit erleben können, selbst in schwierigeren Situationen – sofern wir sowohl mit unseren Kindern als auch mit diesem Augenblick in Kontakt bleiben?

Meine Erfahrung ist, dass es solche Augenblicke im Überfluss gibt. Nur gehen sie leicht unbemerkt und ohne dass ich ihren Wert erkenne, vorüber, wenn ich nicht wach genug bin, sie zu sehen. Es erfordert eine gewisse Art von innerer Arbeit, sie wahrzunehmen, denn mein Geist lässt sich so leicht und durch so viele Dinge von der Fülle jedes Augenblicks ablenken.

Wir Eltern befinden uns auf einer mühsamen Reise, einer Art Odyssee, unabhängig vom Alter unserer Kinder, ob uns dies bewusst ist oder nicht, ob es uns gefällt oder nicht. Diese Reise ist natürlich nichts anderes als das Leben selbst mit all seinen Windungen, mit all seinem Auf und Ab. Wie wir die Fülle der Ereignisse unseres Lebens mit unserem Geist und unserem Herzen aufnehmen, entscheidet über die Qualität unserer Reise und deren Bedeutung für uns. Unsere Wahrnehmung beeinflusst, wohin wir gelangen, was auf unserem Lebensweg geschieht, was wir lernen und wie wir uns bei alldem fühlen.

Wenn wir das Abenteuer unseres Lebens wirklich voll auskosten wollen, so erfordert dies eine besondere Art des Engagements und der Präsenz, eine stetige Aufmerksamkeit, die zugleich sanft und offen ist. Oft lehrt die Reise uns, aufmerksam zu sein, und weckt uns auf. Manchmal lernen wir auf eine sehr schmerzhafte oder gar beängstigende Weise, die wir niemals selbst gesucht hätten. Wie ich es empfinde, besteht die Herausforderung der Elternschaft darin, jeden Augenblick so intensiv und bewusst wie möglich zu leben, unseren Weg so gut zu planen, wie wir können, unsere Kinder zu fördern und in diesem Prozess selbst zu wachsen. Unsere Kinder und die Reise, auf der wir uns mit ihnen zusammen befinden, bieten uns in dieser Hinsicht unendlich viele Möglichkeiten.

Das ist eindeutig eine Lebensaufgabe – eine Aufgabe, die wir um des Lebens willen auf uns nehmen. Wir alle wissen im Grunde, dass es nicht darum geht, höchste Perfektion zu erreichen oder alles immer „richtig zu machen“. Es geht mehr um die Suche selbst als darum, eine bestimmte Qualität zu erreichen. „Perfektion“ ist in diesem Zusammenhang einfach keine adäquate Kategorie – was immer dieser Begriff im Hinblick auf die Aufgabe von Eltern beinhalten könnte. Wichtig ist, dass wir authentisch sind, dass wir unseren Kindern und uns selbst soviel Respekt entgegenbringen wie nur möglich und dass wir an alles, was wir tun, mit der festen Absicht herangehen, zumindest keinen Schaden anzurichten.

Meiner Ansicht nach besteht unsere Aufgabe als Eltern vor allem darin, Augenblick für Augenblick so aufmerksam wie möglich zu sein, so bewusst wie möglich zu leben, auch und gerade im Umgang mit unseren Kindern. Wir wissen heute, dass unbewusstes Verhalten eines oder beider Elternteile zwangsläufig Leiden für die Kinder mit sich bringt, insbesondere, wenn es sich in Form starrer Ansichten, egozentrischer Verhaltensweisen und eines Mangels an Gewahrsein und Aufmerksamkeit manifestiert. Wenn Eltern sich so verhalten, ist das häufig ein Symptom dafür, dass sie selbst leiden, auch wenn sie ihr Verhalten niemals in diesem Licht sehen mögen, solange sie nicht selbst eine tiefe Erfahrung des Aufwachens machen.

Vielleicht sollten wir alle, jeder auf seine Weise, Rilkes Einsicht beherzigen, dass stets „unendliche Fernen“ sogar zwischen den einander nahestehendsten Menschen liegen. Wenn wir das wirklich verstehen und akzeptieren – so beängstigend es uns zuweilen erscheinen mag –, können wir uns vielleicht bewusst dafür entscheiden, so zu leben, dass sich Rilkes „wundervolles Nebeneinander-Wohnen“ entwickeln kann, indem wir die Distanz nutzen und lieben, die es uns ermöglicht, den anderen „in ganzer Gestalt und vor einem offenen Himmel zu sehen“.

Das ist, so meine ich, unsere Aufgabe als Eltern. Um sie zu erfüllen, müssen wir unsere Kinder fördern, schützen und sie so lange unterstützen und begleiten, bis sie selbstständig ihren eigenen Weg gehen können. Auch ist es sehr empfehlenswert, in unserem eigenen Leben Ganzheit anzustreben. Damit unsere Kinder, wenn sie uns anschauen, unsere Ganzheit vor dem Himmel betrachten können, müssen wir selbst völlig eigenständige Personen sein.

Das ist nicht immer leicht. Im familiären Alltag achtsam zu sein ist für Eltern harte Arbeit. Es bedeutet, dass wir uns innerlich gut kennenlernen und dass wir an jenem Berührungspunkt arbeiten, an dem unser eigenes inneres Leben und das Leben unserer Kinder zusammentreffen. Besonders hart ist diese Arbeit heute deshalb, weil die Kultur, in der wir leben, immer stärkeren Einfluss auf das häusliche Leben und auf das Leben unserer Kinder nimmt.

Ein Grund für meine regelmäßige Meditationsübung ist, dass ich auf diese Weise versuche, angesichts der ständigen ungeheuren äußeren Anforderungen mein inneres Gleichgewicht und meine geistige Klarheit zu erhalten. Außerdem hilft mir die Meditation, trotz aller Witterungsumschwünge, denen ich auf meiner Reise als Familienvater Tag für Tag ausgesetzt bin, einigermaßen „auf Kurs zu bleiben“. Dass ich mir jeden Tag, gewöhnlich am frühen Morgen, eine bestimmte Zeitspanne für das stille Sitzen reserviere, hilft mir, ruhiger und ausgeglichener zu bleiben, einen klareren und umfassenderen Blick zu bewahren, mir ständig dessen bewusst zu bleiben, was wirklich wichtig ist, und mich immer wieder neu dafür zu entscheiden, dass ich mein Leben von jenem Gewahrsein leiten lassen will.

Die Achtsamkeit, die ich beim stillen Sitzen und bei der Ausführung alltäglicher Aufgaben entwickle, ermöglicht es mir, den gegenwärtigen Augenblick aufmerksam zu erleben – was mir wiederum hilft, im Herzen ein wenig offener und im Geist ein wenig klarer zu bleiben und dadurch meine Kinder so sehen zu können, wie sie sind; ihnen geben zu können, was sie von mir am dringendsten brauchen, und ihnen den Raum zuzugestehen, den sie benötigen, um ihre eigene Art zu finden, wie sie in der Welt leben wollen.

Doch ist auch mein regelmäßiges Meditieren keine Garantie dafür, dass ich immer ruhig, freundlich, sanft und in der Gegenwart zentriert bin. Oft bin ich das ganz und gar nicht. Die regelmäßige Meditationsübung hat auch nicht automatisch zur Folge, dass ich immer weiß, was in einer Situation zu tun ist, oder dass ich mich nie verwirrt oder ratlos fühle. Allerdings hilft mir die durch die Übung verstärkte Achtsamkeit, Dinge zu sehen, die ich andernfalls vielleicht nicht gesehen hätte, und kleine, aber wichtige und manchmal entscheidende Schritte zu gehen, die ich andernfalls vielleicht nie gegangen wäre.

Nach einem Workshop, in dem ich den Anfang dieses Prologs (noch in Manuskriptform) vorgelesen hatte, erhielt ich von einem Mann in den Sechzigern einen Brief folgenden Inhalts:

Ich möchte Ihnen hiermit für ein ganz besonderes Geschenk danken, das Sie mir an jenem Tag gemacht haben … Die Beschreibung der Rückkehr Ihres Sohnes zu Thanksgiving hat mich sehr tief berührt. Das gilt insbesondere für Ihre Schilderung dessen, wie er Sie mit seinem Sein umhüllte, als er sich quer über Sie legte. Als ich das hörte, habe ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder liebevolle Gefühle meinem eigenen Sohn gegenüber gespürt. Ich weiß nicht genau, was geschehen ist, aber es ist, als hätte ich bisher immer das Gefühl gehabt, mein Sohn müsse anders sein, damit ich ihn lieben könnte, und das hat sich jetzt geändert.

Wenn sie niedergeschlagen oder enttäuscht sind, haben vielleicht alle Eltern hin und wieder das Gefühl, sie bräuchten eine andere Art von Kind, um es lieben zu können. Wenn wir dieses Gefühl nicht näher prüfen, kann es sich leicht von einem kurzlebigen Impuls in eine dauerhafte Enttäuschung verwandeln, und es kann sein, dass wir eine Sehnsucht nach etwas entwickeln, von dem wir glauben, wir hätten es nicht. Wenn wir dann später noch einmal genauer hinschauen, so wie dieser Vater es getan hat, stellen wir möglicherweise fest, dass wir die Kinder, die uns gegeben sind, verstehen und so lieben können, wie sie sind.

Jon Kabat-Zinn

Mit Kindern wachsen

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