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Selbstbestimmung

Schauen wir uns nun das geheimnisvolle Juwel im Herzen von Gawains Geschichte an: Selbstbestimmung, die Antwort auf die Rätselfrage: „Was begehren Frauen am meisten?“

Das Wissen von der Selbstbestimmung errettete König Arthur vor dem sicheren Tod. Doch erst das tiefe Gefühl für den Wert der Selbstbestimmung, das aus Sir Gawains Empathie gegenüber Lady Ragnell erwuchs, löste ein Dilemma, das allein mit Hilfe des Denkens nie hätte gelöst werden können: Indem er ihr die Entscheidung überließ, gestand er ihr Selbstbestimmung zu, und dadurch wurde die Transformation möglich.

Dies ist auch der Schlüssel, wenn wir Achtsamkeit in der Familie kultivieren wollen. Indem wir unseren Kindern Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit zugestehen, ermöglichen wir ihnen zum einen, sich so zu zeigen, wie sie wirklich sind, und zum anderen, ihren eigenen Weg zu finden. Beides benötigen sie, um wirklich erwachsen werden zu können.

Wie oft sind unsere Kinder wie in einem Zauber gefangen, wie oft werden sie von mächtigen Energien mitgerissen, so dass sie plötzlich zu Dämonen, Hexen, Trollen, Ungeheuern und Kobolden werden? Sind wir als Eltern in solchen Augenblicken so wie Gawain in der Lage, die äußere Erscheinung zu durchschauen, über die wir vielleicht erschrecken, und ihre wahre Natur hinter dem Zauber zu erkennen? Können wir Raum in uns schaffen, so dass wir sie so lieben können, wie sie sind, ohne dass sie sich verändern müssen, um uns zu gefallen? Und wie oft stehen wir Eltern selbst unter einem Zauberbann? Wie oft zeigen wir unseren Kindern unsere grausame Seite, den Menschenfresser oder die Hexe in uns? Wie sehr sehnen wir uns insgeheim danach, von anderen so gesehen und akzeptiert zu werden, wie wir sind, und unseren eigenen Weg in unserem Leben zu finden?

Mary Pipher weist in ihrem Buch Reviving Ophelia darauf hin, dass die Antwort auf Sigmund Freuds gönnerhafte Frage: „Was wollen Frauen?“ in Therapiesitzungen mit Frauen immer wieder zutage tritt und dass, obwohl sie alle „etwas anderes und Spezielles wollen … jede Frau letztlich das gleiche will – die sein, die sie tatsächlich ist, die werden, die sie werden kann“, „das Subjekt ihres eigenen Lebens und nicht [nur] Objekt im Leben anderer“.

Wenn Selbstbestimmung bedeutet, die Person zu sein, die man wirklich ist, und die Person zu werden, die man werden kann, könnte sie dann nicht auch die Antwort auf die allgemeinere Frage sein: „Wonach sehnt sich jeder Mensch in seinem Herzen am meisten?“ oder gar: „Was verdient jeder Mensch am meisten?“

So verstanden, ist Selbstbestimmung kein äußeres Streben nach Macht, obgleich es sehr machtvolle Auswirkungen haben kann, mit ihr in Kontakt zu sein. Man könnte eine tiefe Beziehung zwischen der Vorstellung innerer Selbstbestimmung und der buddhistischen Vorstellung der Buddha-Natur sehen, die wiederum mit der Vorstellung des wahren Selbst verwandt ist. Die Gestalt des Buddha ist die Verkörperung eines Geistes- und Herzenszustandes, der am besten als „mit sich selbst in Kontakt sein“, „bewusst sein“, „wissen“ oder „erwacht sein“ umschrieben werden kann. Nach buddhistischer Auffassung sind unser individueller Geist und der Buddha-Geist im Grunde ein und dasselbe, und unsere wichtigste Aufgabe als Menschen besteht darin, uns dieser essentiellen Einheit bewusst zu werden. Die Buddha-Natur liegt allem zugrunde. Alles ist vollkommen und einzigartig, und doch ist nichts vom Ganzen getrennt. Insofern ist die wahre Natur jedes Menschen die Buddha-Natur, und in dieser Hinsicht sind wir alle gleich. Die wahre Natur jedes Menschen ist souverän selbstbestimmt. Wir müssen nur erkennen, dass das für alle Menschen gilt, und es würdigen – bei unseren Kindern, bei uns selbst, letztlich bei allen Wesen.

Natürlich ist dieses „nur erkennen“ nicht so leicht, wie es sich anhört. Es ist eine Arbeit, die ein ganzes Leben oder vielleicht sogar viele Leben erfordert. Oft kennen wir unsere eigene wahre Natur nicht oder haben den Kontakt zu ihr verloren. Doch wenn wir den Kontakt zu unserer wahren Natur verloren haben, kann das für uns selbst und andere viel Leid hervorbringen.

Der Buddha wird manchmal „einer, der Selbstbestimmung gegenüber sich selbst hat“ genannt. Ereignisse reißen uns mit sich, und wir lieben uns selber. Die Geh-Meditation hilft uns, unsere Selbstbestimmung wiederzufinden, unsere Freiheit als menschliche Wesen. Wir gehen mit Anmut und Würde, wie ein Kaiser, wie ein Löwe. Jeder Schritt ist Leben.

Thich Nhat Hanh, The Long Road Turns to Joy

Dass wir den innersten Kern anderer Menschen wertschätzen, kommt symbolisch in der Sitte zum Ausdruck, sich bei der Begrüßung vor anderen zu verneigen. In vielen Ländern geben die Menschen einander zur Begrüßung nicht die Hand, sondern legen die Handflächen vor ihrem Herzen zusammen und verneigen sich leicht voreinander. Das bedeutet: „Ich verneige mich vor dem Göttlichen in dir.“ Diese Geste ist ein Zeichen dafür, dass wir die jedem Wesen innewohnende Ganzheit in jedem Menschen anerkennen, die in jedem Augenblick gegenwärtig ist. Wir verneigen uns mit unserer eigenen wahren Natur vor der des anderen, indem wir uns vergegenwärtigen, dass beide im tiefsten Sinne ein und dasselbe sind, auch wenn wir auf anderen Ebenen alle unterschiedliche, einzigartige Ausdrucksformen dieser Einheit sind. Manchmal verneigen sich Menschen vor Katzen und Hunden, manchmal vor Bäumen und Blumen, manchmal vor Wind und Regen. Und manchmal verbeugen sich dann auch die Katzen und Hunde, die Bäume und Blumen und sogar Wind und Regen. Denn alles, was ist, hat eine Wesensnatur, die es zu dem macht, was es ist und ihm hilft, seinen Platz innerhalb des Ganzen einzunehmen; und die Beziehung zwischen uns selbst und all diesen Wesen ist immer wechselseitig. Ich (jkz) verneige mich gern auf diese Weise vor Babys und vor meinen Kindern. Manchmal tue ich das, wenn sie schlafen. Meist verneige ich mich innerlich vor ihnen.


Unsere elterlichen Entscheidungen darüber, in welcher Form wir unseren Kindern Selbstbestimmung ermöglichen wollen, fallen natürlich je nach Alter und Wesensart der Kinder und je nach den Umständen unterschiedlich aus. Was sich hingegen nicht ändern wird, ist hoffentlich unsere tiefe innere Verpflichtung, das grundsätzliche Geburtsrecht unserer Kinder auf Selbstbestimmung zu respektieren. Die Voraussetzung hierfür ist, dass wir uns als Eltern der Selbstbestimmung, des grundlegenden Gutseins und der wesenseigenen Schönheit unserer Kinder bewusst sind, selbst wenn wir mit diesen Eigenschaften in bestimmten Momenten absolut nicht in Kontakt sind oder wenn es einmal keinerlei äußere Anhaltspunkte für ihr Vorhandensein gibt.

Wie alle Eltern wissen oder zumindest bald herausfinden, kommt jedes Kind mit individuellen Eigenschaften, einem eigenen Temperament und ganz persönlichen Begabungen in diese Welt. Unsere Aufgabe als Eltern ist es, unsere Kinder in ihrer Einzigartigkeit zu erkennen und zu würdigen, indem wir ihnen, so wie sie sind, Raum geben statt sie zu ändern versuchen – so schwer uns das manchmal auch fallen mag. Da sie sich ihrer eigenen Natur gemäß ohnehin ständig verändern, ermöglicht diese Art des Gewahrseins ihnen vielleicht, auf eine Weise zu wachsen und sich zu verändern, die am besten für sie ist und die wir nicht durch unseren Willen beeinflussen können.

Kinder werden mit innerer Selbstbestimmung geboren, insofern sie genau als die geboren werden, die sie sind. Während Selbstbestimmung für unsere menschliche Natur fundamental ist, wächst unsere Fähigkeit, dies zu spüren und zu nutzen, mit zunehmender Lebenserfahrung, wobei es eine entscheidende Rolle spielt, wie wir selbst in unserer Kindheit und Jugend behandelt wurden. Denn unser Wissen über unsere eigene Selbstbestimmung als Person und über die Selbstbestimmung anderer sowie unser Gefühl dafür kann durch Vernachlässigung oder schlechte Behandlung verblassen.

Doch was wir Selbstbestimmung nennen, ist so tiefgreifend, so hartnäckig, so lebenswichtig und so unverzichtbar für unsere Natur – weil es unsere wahre Natur ist –, dass viele Menschen trotz extrem problematischer Kindheitserfahrungen Nahrung und Stärke daraus beziehen. Manchmal übernimmt anstelle der Eltern ein anderer Erwachsener die wichtigste Rolle im Leben eines Kindes: zu sehen, wer dieses Kind wirklich ist, und seine Entwicklung durch Ermutigung und Güte, Anerkennung und Verständnis zu unterstützen. Viele Menschen sind sich dessen bewusst, dass sie ihren Erfolg im Leben einer ganz bestimmten Person zu verdanken haben, die ihr Wesen erkannt und sie dazu ermutigt hat, diesem Wesen entsprechend zu leben. Dass Menschen, die zu einem gewissen Grad ihre Ganzheit erkannt haben und so zur Entfaltung der Ganzheit und inneren Schönheit in anderen beitragen können, Kinder und Jugendliche unterstützen, ist die heilige Pflicht von Erwachsenen in jeder gesunden Gesellschaft.


Die Erfahrung der Selbstbestimmung wird vertieft, wenn ein Kind lernt, mit der Welt aus eigener innerer Stärke und eigenem Selbstvertrauen heraus in Kontakt zu treten, in dem Wissen, dass es geliebt wird und liebenswert ist, so, wie es ist, und akzeptiert wird als das, was es ist.

Dass die innere Selbstbestimmung von Kindern so betont wird, könnte beim ersten Hinsehen in der Weise missverstanden werden, dass wir denken, Kinder sollten nun wie Königinnen und Könige behandelt werden, die ständig bedient werden müssen. Darum geht es natürlich nicht. Nichts läge unserem Verständnis von Selbstbestimmung ferner. Obgleich uns die Selbstbestimmung unserer Kinder wichtig ist, lassen wir nicht zu, dass sie sich über die Bedürfnisse und Interessen anderer Menschen in ihrer Umgebung hinwegsetzen. Es geht uns nicht darum, hier für eine falsche Vorstellung von „Selbstachtung“ einzutreten, die nicht dem Verhalten und den realen Erfahrungen der Kinder entspricht. Selbstbestimmung bedeutet nicht, dass wir den Kindern erlauben, zu tun, was sie wollen, oder dass alles, was sie tun, in Ordnung ist, oder dass sie immer bekommen sollten, was sie wollen, weil sie in jedem Fall ihren Willen bekommen und immer glücklich sein sollten.

Selbstbestimmung – bezogen auf die wahre Natur eines Menschen – ist eine universelle Qualität des menschlichen Lebens und vor allem eine Gelegenheit zu verstehen, was jene wahre Natur ist und wie sie bei jedem von uns zum Ausdruck kommt. Kinder sind in sich selbst souverän, und das gleiche gilt natürlich auch für ihre Eltern und für alle anderen Menschen.

Um die Selbstbestimmung in Kindern zu stärken, so dass sie ihren eigenen Weg in der Welt finden können, müssen wir uns fragen: Wie können wir ihre Selbstbestimmung würdigen und gleichzeitig unsere eigene Selbstbestimmung respektieren? Wie unterstützen wir sie darin, alle Aspekte ihres Seins zu entwickeln, mit ihrer Ganzheit in Kontakt zu sein und dadurch zu lernen, zentriert und selbstsicher zu sein? Und wie können wir ihnen gleichzeitig vermitteln, dass sie die Selbstbestimmung anderer Menschen sehen und respektieren?

Selbstbestimmung ist etwas völlig anderes als ein hemmungsloses Sich-Ausleben. Selbstbestimmung bedeutet nicht, dass Kinder alles bekommen sollten, was sie wollen, oder dass andere für sie die Arbeit tun sollten. Unsere Aufgabe besteht darin, die Selbstbestimmung unserer Kinder zu respektieren, ohne ihnen gleichzeitig das Gefühl zu vermitteln, alles, was sie tun, sei völlig in Ordnung, egal, was dabei herauskommt, weil nur sie wichtig seien und nur ihre Sicht der Dinge oder ihre Wünsche zählten. Die Selbstbestimmung eines Menschen kann nie isoliert gesehen werden, sondern steht immer zur Selbstbestimmung aller anderen Menschen in Beziehung, weil wir alle Teile eines größeren Ganzen sind und weil alles, was wir tun, alles andere beeinflusst.

Natürlich haben unsere Kinder ein Recht auf viele Dinge. Und natürlich haben auch Erwachsene Rechte. Doch weist die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern wichtige Ungleichgewichte auf: Die Erwachsenen sind für die Kinder verantwortlich. Die Kinder haben ein Recht darauf, geliebt, versorgt und von ihren Eltern oder von anderen Erwachsenen beschützt zu werden. Als Erwachsene und als Eltern können wir von unseren Kindern nicht erwarten, dass sie unsere emotionalen Bedürfnisse erfüllen, weil wir sie damit überfordern würden. Um diese Bedürfnisse zu erfüllen, müssen wir uns um uns selbst kümmern oder uns die emotionale Zuwendung, die wir brauchen, von anderen Erwachsenen holen. Den Segen, den unsere Kinder uns unablässig schenken, ohne dass wir sie darum bitten – einfach dadurch, dass sie so sind, wie sie sind –, dürfen wir natürlich ohne Schuldgefühle annehmen und genießen.

Es mag durchaus sein, dass wir als Erwachsene und Eltern eine stärkere Verbindung zu unserer eigenen grundlegenden Selbstbestimmung entwickeln müssen, da diese so wichtig und gleichzeitig auch so vage ist. Das ist die innere Arbeit, die nötig ist, damit wir zu unserer eigenen wahren Natur erwachen. Möglicherweise werden wir einwenden, dass wir die meiste Zeit über zu beschäftigt sind, um Aufforderungen wie jenes berühmte „Erkenne dich selbst“ der alten Griechen überhaupt beherzigen zu können. Doch könnte es nicht sein, dass wir es uns im Grunde nicht leisten können, nicht nach unserer wahren Natur zu suchen und zu lernen, im Einklang mit ihr zu leben? Wenn wir es nicht tun, schlafwandeln wir dann nicht über weite Strecken unseres Lebens und wissen am Ende trotz allen Nachdenkens nicht, wer wir sind oder waren und wer unsere Kinder sind?

Wie wir gesehen haben, ist die Praxis der Achtsamkeit ein Weg, diese Entdeckungsreise nach innen anzutreten. Wir können das auf zwei unterschiedliche Arten tun, die einander ergänzen: indem wir alle Aspekte unseres alltäglichen Lebens mit Aufmerksamkeit betrachten und indem wir uns täglich einer formellen Meditationsübung widmen, die darin besteht, eine gewisse Zeitspanne innezuhalten und Augenblick für Augenblick, in Stille, die Aktivitäten unseres Geistes und Körpers wahrzunehmen. Wenn wir versuchen, auf eine oder beide Arten die Achtsamkeit in unserem Leben zu verwurzeln und uns der Frage zuzuwenden, wer wir wirklich sind, so hilft uns das, unsere eigene wahre Natur zu erkennen und unseren Kindern Selbstbestimmung einzuräumen.


Was kann es für uns als Eltern bedeuten, wenn wir es unserem Kind ermöglichen, seinen eigenen Weg zu gehen? Was bedeutet es eigentlich, seinen eigenen Weg zu gehen? Was ist der wahre eigene Weg eines Menschen überhaupt? Was beinhaltet die Erfahrung der Selbstbestimmung für einen Erwachsenen und für ein Kind? Wie wird diese Selbstbestimmung in verschiedenen Lebensaltern und auf verschiedenen Entwicklungsstufen erfahren? Und wie erfahren sie Kinder mit sehr unterschiedlichem Temperament?

Die Selbstbestimmung eines Kindes zu respektieren bedeutet zunächst einmal, dass wir uns der Existenz verschiedener Entwicklungsstufen und Temperamente bewusst sind. Es kann bedeuten, dass wir auf die Botschaften, die ein Baby uns gibt, angemessen reagieren, denn wir sind für das Baby die wichtigste Verbindung zur Welt. Wenn das Baby weint, wenden wir uns ihm zu, nehmen es vielleicht auf den Arm, halten es und nehmen mit ihm Kontakt auf, indem wir anwesend sind und ihm zuhören. Wir versuchen, bei ihm zu sein und ihm ein Gefühl des Wohlbefindens zu vermitteln. Auf diese Weise respektieren wir die Fähigkeit des Kindes, die Welt zu einer Reaktion auf seine Bedürfnisse zu veranlassen; wir gestehen ihm diesen Respekt zu und vermitteln ihm, dass die Welt auf seine Signale reagiert und dass es in der Welt einen Platz hat – dass es dazugehört. Wir tun das, unabhängig davon, ob wir gerade Lust dazu haben oder nicht.

Wenn wir unseren Kindern, ihrer Altersstufe gemäß, Selbstbestimmung zugestehen wollen, so kann das bedeuten, dass wir unser Haus so „kindersicher“ machen, dass unser Krabbelkind ungefährdet seine Umgebung erkunden kann. Doch selbst in einer relativ ungefährlichen Umgebung ist es wichtig, Krabbelkinder nicht aus den Augen zu lassen. Wir ignorieren durchaus nicht die Selbstbestimmung eines Krabbelkindes, wenn wir weitgehend wahrzunehmen versuchen, was es gerade tut. Wir bringen dadurch zum Ausdruck, dass das Kind unsere kontinuierliche Aufmerksamkeit verdient. Für Eltern mit Kindern in diesem Alter wird sie zu einer Art sechstem Sinn, mit dessen Hilfe sie beispielsweise augenblicklich erkennen, dass ein Glas zu nah am Tischrand steht, und es so, unmittelbar bevor das Kind danach greift, von dort wegstellen können, selbst wenn sie sich gleichzeitig mit einer anderen Person unterhalten.

Hingegen können ständige ängstliche Warnungen wie: „Tu das nicht! Pass auf, du tust dir weh!“, wenn ein Kind seine Umgebung erforscht, das Selbstvertrauen des Kindes unterminieren, und unsere Ängste werden so auf das Kind übertragen. Stattdessen könnten wir ruhig dabei sein und das Kind mit unserer Aufmerksamkeit begleiten. So können wir einen Unfall verhindern oder das Kind notfalls aufnehmen, ohne seine Abenteuerlust durch unsere eigenen Ängste zu bremsen.

Das Selbstbestimmungsbedürfnis Heranwachsender können wir auf angemessene Weise unterstützen, indem wir uns nicht dadurch irritieren lassen, wie sich unsere Kinder in diesem Alter anziehen oder wie sie ihre Individualität zum Ausdruck bringen. Stattdessen können wir uns auf ihr grundlegendes Gutsein beziehen, auch wenn ihre Versuche, ihre innere Kraft zum Ausdruck zu bringen, auf uns und andere Erwachsene oft schockierend und abstoßend wirken. Wir gestehen ihnen Selbstbestimmung zu, indem wir ihnen zuhören und ihre individuellen Ansichten, Erkenntnisse, Fähigkeiten und Stärken zu verstehen und zu würdigen versuchen. Wir tun es auch, indem wir uns der unzähligen Einflüsse bewusst bleiben, mit denen sie in dieser Zeit in Kontakt kommen. Das bedeutet, dass wir in der Lage sein müssen, zu erkennen, wann es besser ist, nichts zu ihnen zu sagen und sie in Ruhe zu lassen, und wann wir besser verbal oder aber nonverbal Kontakt zu ihnen aufnehmen – und zwar auf eine Weise, die ihre wachsende Autonomie respektiert. Und manchmal bedeutet es, dass wir klare Grenzen definieren und dann wohlwollend, aber gleichzeitig auch unerschütterlich dazu stehen.

Das sind nur ein paar Beispiele, wie wir Kindern in verschiedenen Altersstufen Selbstbestimmung zugestehen können. So wie bei Lady Ragnell ist auch unsere wahre Natur nicht immer leicht zu erkennen. Die Klarheit, die es uns ermöglicht, den Schleier der äußeren Erscheinungen zu durchschauen und zum Besten unserer Kinder zu handeln, entwickeln wir, indem wir das Gewahrsein für jeden Augenblick schulen. Selbstbestimmung kann weder uns selbst noch einem anderen allein durch eine einzelne vertrauensvolle Handlung gewährt werden, so wichtig solche Handlungen und Augenblicke auch sein mögen. Selbstbestimmung entsteht vielmehr dadurch, dass wir versuchen, jedem Augenblick mit offenem Herzen und gesundem Unterscheidungsvermögen zu begegnen.

Kein Tag vergeht, an dem wir uns nicht auf irgendeine Weise auf die Probe gestellt fühlen, an dem wir nicht unsere Selbstbestimmung hinterfragen oder das Gefühl haben, dass sie nicht mit der Selbstbestimmung unserer Kinder zu vereinbaren ist. Oder, anders ausgedrückt: Die Aufgabe, die Eltern Tag für Tag erfüllen, kann manchmal sehr erschöpfend sein und ist immer harte Arbeit, so wie auch der Versuch, kontinuierliche Aufmerksamkeit zu entwickeln, harte Arbeit ist. Wie wir bereits gesehen haben, erfordert Elternschaft Disziplin; sie fordert ständig, dass wir uns an die Möglichkeit des Präsent-Seins erinnern; dass wir unsere Kinder als die sehen und akzeptieren, die sie sind, und uns, indem wir das tun, im Umgang mit ihnen von unserer besten Seite zeigen, zu ihrem und unserem eigenen Wohlergehen.

Ein Teil dieser Arbeit besteht darin, nie zu vergessen, dass wir unsere eigenen Probleme und die unserer Kinder nicht ausschließlich durch Denken lösen können. Wir verfügen über andere, ebenso wichtige geistige Ressourcen, und als Eltern müssen wir lernen, diese zu nutzen, denn nur dann können wir auch unseren Kindern helfen, sie zu entwickeln. Eine dieser Ressourcen ist die Empathie, die Kunst, sich einzufühlen und mitzufühlen. Sir Gawain empfand etwas für Lady Ragnell. Indem er auf sein Gefühl vertraute – auf das, was wir seine „Intuition“, sein „Herz“ nennen würden –, gelang es ihm, die äußere Erscheinung und den Entweder-oder-Schleier seines eigenen Denkens zu durchdringen. Erst als er sich von seiner Hoffnung auf ein bestimmtes Ergebnis löste und er sowohl sein Dilemma als auch Lady Ragnells Selbstbestimmung akzeptierte, wurde eine Lösung möglich und die zuvor scheinbar unmögliche Befreiung.

Wenn jeder Augenblick wirklich eine Gelegenheit ist, zu wachsen; eine Chance, dem eigenen Wesen näher zu kommen, eine Weggabelung, die zu einem der unendlich vielen möglichen nächsten Augenblicke führt, je nachdem, wie wir den jetzigen sehen und erleben – dann schafft die Selbstbestimmung, die einem Kind in einer bestimmten Situation angemessen ist, den Raum, in dem seine wahre Natur in Erscheinung treten, gesehen werden und still gewürdigt werden kann. Und dadurch können im heranwachsenden Kind Selbstachtung, Selbstvertrauen und Vertrauen in die eigene wahre Natur und in den eigenen Weg Wurzeln fassen und sich entwickeln.

Die Kraft der Empathie und des Annehmens ist ungeheuer stark und wirkt sowohl bei der Person, die sie empfängt, als auch bei derjenigen, die sie einem anderen Menschen entgegenbringt, zutiefst transformierend. Mehr als alles andere stehen die sorgsame Unterstützung der Selbstbestimmung eines Kindes und eine allgemein mitfühlende, empathische und verständnisvoll-akzeptierende Haltung im Zentrum der Bemühungen um den achtsamen Umgang mit Kindern.


Die folgende Geschichte veranschaulicht sehr eindrucksvoll, wie ein Vater seinem Sohn in einer schwierigen Situation das Geschenk der Selbstbestimmung machte.

„Papa wird darüber sehr wütend sein“, sagte meine Mutter. Es war im August des Jahres 1938 in einer Pension in den Catskill-Bergen. An einem heißen Freitagnachmittag war es uns – drei neunjährigen Jungs aus der Stadt – sehr langweilig. Wir hatten schon so ziemlich alles gemacht, was man in den Sommerferien auf dem Land machen kann: Frösche gefangen, Blaubeeren gepflückt und im eisigen Flusswasser gebibbert. An diesem unerträglich langweiligen Nachmittag wollten wir jetzt endlich ein bisschen Action. Um zu überlegen, was wir anstellen könnten, verkroch ich mich mit Artie und Eli zusammen in die Kühle des „Casinos“, eines kleinen Gebäudes, in dem die Gäste abends Bingo spielten und sich hin und wieder die Vorführung eines durchreisenden Zauberkünstlers anschauten.

Schließlich kam uns die zündende Idee: Das Casino war einfach zu neu. Die Holzbalken und die weiße Rigipsverschalung der Wände waren einfach zu perfekt. Wir wollten diesen Eindruck ein wenig abschwächen und in dem Raum für alle Zeiten ein paar anonyme Spuren hinterlassen. An die möglichen Konsequenzen dachten wir natürlich keinen Augenblick. Wir nahmen eine lange hölzerne Bank und rammten sie wie einen Rammbock in eine Wand. Ein wundervolles Loch blieb zurück – aber nur ein kleines. Also wiederholten wir das Ganze noch einmal und dann noch einmal … Anschließend betrachteten wir Helden außer Atem und schwitzend unser erstes wirklich ansehnliches Loch. Die Aktion hatte uns soviel Spaß gemacht, dass wir uns völlig von unserer Idee mitreißen ließen und weitermachten. Nach einer Weile war kaum noch ein Stück Wand unbeschädigt. Noch bevor die ersten Gewissensbisse einsetzten, tauchte plötzlich Mr. Biolos, der Besitzer, in der Eingangstür auf. Er war außer sich vor Wut. Wenn unsere Väter am Abend aus der Stadt kämen, würde er ihnen Bescheid sagen und dafür sorgen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan würde!

Dann informierte er zunächst einmal unsere Mütter. Meine Mutter war der Meinung, was ich getan hätte, sei so ungeheuerlich, dass sie es meinem Vater überlassen müsse, mich zu bestrafen. „Und Papa wird darüber sehr wütend sein!“ kündigte sie mir an.

Um sechs Uhr hatte sich Mr. Biolos auf dem Zufahrtsweg postiert und wartete grimmig auf das Eintreffen unserer Väter. Hinter ihm drängten sich die ebenfalls wütenden Gäste auf der Veranda vor ihrem Bingo-Palast – wie beim Fußballspiel auf den billigen Stehplätzen. Sie hatten gesehen, was aus ihrem „Casino“ geworden war, und wussten, dass sie diesen Anblick nun für den Rest des Sommers ertragen mussten. Auch sie forderten nachdrücklich Gerechtigkeit. Artie, Eli und ich hatten uns jeder einen unauffälligen Platz gesucht, vorsichtshalber nicht zu weit von unseren Müttern entfernt. Wir warteten.

Arties Vater traf als erster ein. Nachdem Mr. Biolos ihm die Neuigkeit mitgeteilt und ihm das verwüstete Casino gezeigt hatte, zog er bedächtig seinen Gürtel aus der Hose und drosch dann mit nicht zu übersehender Routine auf seinen schreienden Sohn ein – natürlich unter den sichtlich beifälligen Blicken der gehässigen Menge, zu der die ansonsten immer so freundlichen Gäste geworden waren. Als nächster traf Elis Vater ein. Nachdem auch er gehört und gesehen hatte, was sein Sohn zusammen mit uns beiden anderen angerichtet hatte, wurde er so wütend, dass er ihn mit einem Schlag gegen den Kopf zu Boden streckte. Eli lag weinend im Gras, doch sein Vater trat ihm weiter gegen die Beine, in den Hintern und in den Rücken. Als der Sohn aufzustehen versuchte, trat der Vater ihn erneut.

In der Menge wurde gemurmelt: „Daran hätten die Kinder vorher denken können. Unkraut vergeht nicht. Macht euch keine Sorgen. Ich wette, die machen so etwas nie wieder.“

Ich schaute mir all das an und fragte mich, was mein Vater wohl tun würde. Er hatte mich noch nie im Leben geschlagen. Ich wusste, dass andere Kinder von ihren Vätern geschlagen wurden, hatte gesehen, dass einige meiner Schulkameraden mit blauen Flecken zur Schule kamen, und manchmal hatte ich sogar abends aus einigen Häusern in unserer Straße Schreie gehört. Doch das waren eben immer diese anderen Kinder, andere Familien, und warum und wie sie an ihre blauen Flecken gekommen waren, war mir immer völlig unklar gewesen. Bis jetzt.

Ich schaute zu meiner Mutter hinüber. Sie war offensichtlich sehr aufgewühlt. Sie hatte mir schon vorher klargemacht, dass ich eine Art Verbrechen begangen hatte. Bedeutete dies, dass von jetzt ab auch für mich Prügel an der Tagesordnung waren?

Plötzlich kam mein Vater in unserem Chevy an. Er bekam gerade noch mit, wie Eli von seinem Vater über die Eingangstreppe ins Haus gezogen wurde. Er stieg aus dem Auto, offensichtlich überzeugt – so glaubte ich –, dass Eli die Strafe verdient haben musste. Mir wurde schwindelig vor Angst. Mr. Biolos begann mit seiner Ansprache. Mein Vater hörte ihm zu. Sein Hemd war schweißnass, ein feuchtes Taschentuch hing ihm um den Hals. Feuchte Witterung machte ihm immer sehr zu schaffen. Ich schaute zu, wie er Mr. Biolos in das Casino folgte. Mein Vater, stark und prinzipientreu, verschwitzt und sichtlich bedrückt – was mochte er über all das denken?

Als sie aus dem Casino zurückkamen, schaute mein Vater zu meiner Mutter hinüber und rief ihr ein leises „Hallo“ zu. Dann sah er mich und warf mir einen langen ausdruckslosen Blick zu. Während ich noch versuchte, diesen Blick zu deuten, wandte er sich von mir ab und schaute die Menge an, schaute von Gesicht zu Gesicht.

Dann stieg er zum allgemeinen Erstaunen wieder ins Auto und fuhr davon! Niemand, nicht einmal meine Mutter, konnte sich vorstellen, wohin er wohl fuhr.

Eine Stunde später kam er zurück. Auf das Dach des Wagens hatte er einen Stapel Rigipsplatten geladen. Beim Aussteigen hielt er eine Einkaufstüte in der Hand, aus der ein Hammerstiel herausragte. Ohne ein Wort zu sagen, lud er die Platten ab und trug sie nacheinander ins Casino.

An diesem Abend tauchte er nicht mehr auf.

Während des Abendessens, das ich zusammen mit meiner Mutter schweigend aß, und während des ganzen restlichen Freitagabends bis spät in die Nacht hinein hörte ich – hörte jeder – die stetigen Hammerschläge meines Vaters. Ich stellte mir vor, wie er schwitzte, sein Abendessen versäumte, die Gesellschaft meiner Mutter vermisste und immer wütender auf mich wurde. Würde morgen der letzte Tag meines Lebens sein? Es war drei Uhr nachts, als ich endlich einschlief.

Am nächsten Morgen erwähnte mein Vater mit keinem Wort, was am Vortag geschehen war. Er ließ auch keine Spur von Wut erkennen und verhielt sich mir gegenüber in keiner Hinsicht abweisend. Wir verbrachten einen ganz normalen Tag zusammen, er, meine Mutter und ich, unser normales, angenehmes Familienwochenende. War er wütend auf mich? Und ob er das war! Doch zu einer Zeit, in der viele seiner Generation es noch als ein gottgegebenes Recht ansahen, ihre Kinder körperlich zu züchtigen, war es in seinen Augen ein kriminelles Vergehen, die eigenen Kinder zu schlagen. Ihm war klar, dass sich Kinder, wenn sie geschlagen werden, an den Schmerz erinnern, auch wenn sie den Grund für die Schläge längst vergessen haben.

Jahre später wurde mir klar, dass es für ihn unvorstellbar gewesen wäre, mich zu demütigen. Anders als die Väter meiner Freunde hatte er für Rache und öffentliche Demütigung nichts übrig. Dennoch hatte mein Vater mir eine Lektion erteilt. Ich habe die Ungeheuerlichkeit meiner Zerstörungswut an jenem heißen Augustnachmittag nie vergessen. Und ich werde auch nie vergessen, dass mir an jenem Tag erstmals klar wurde, wie tief ich ihm vertrauen konnte.

Mell Lazarus

(Schöpfer der Comic-Strips Momma

und Miss Peach und Roman-Autor),

aus: „Angry Fathers“, Sunday New York Times,

„About Men“, 28. Mai 1995

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