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Selbst unsere Moleküle berühren sich

Der Kognitionswissenschaftler, Neurobiologe, neurophänomenologische Philosoph und engagierte Dharma-Praktizierende Francisco Varela war Mitbegründer des Mind Life Institute, das regelmäßig Symposien mit Dialogen zwischen Naturwissenschaftlern und dem Dalai Lama organisiert. Er starb 2001 im Alter von 54 Jahren. Francisco Varela pflegte jene Eigenschaften des Immunsystems zu betonen, die über dessen Rolle als effektives Verteidigungssystem gegen Eindringlinge von außen hinausgehen. Denn das Immunsystem dient auch als ein System der Selbstwahrnehmung, und es verfügt über Mechanismen, die es dem Körper erlauben, durch molekulare Berührung ständig seine »Selbstheit« zu überwachen und zu bestätigen, also die völlig einzigartige molekulare Identität all der Strukturen, aus denen er besteht. Gleichzeitig betonte Varela, dass diese »Selbstheit«, die die Einzelne als »ihre« körperliche Identität bezeichnen würde, tatsächlich nicht mehr unabhängige Existenz besitzt als wir selbst, sondern dass sie dynamisch aus den komplexen Interaktionen zwischen den verschiedenen Bestandteilen des Körpers entsteht.

Manchmal wird das Immunsystem auch das »zweite Gehirn« des Körpers genannt, weil es in der Lage ist, zu lernen und sich zu erinnern, und weil es sich an sich verändernde Bedingungen anpassen kann. Anatomisch gesehen, ist es teilweise in der Thymusdrüse, im Knochenmark und in der Milz angesiedelt, ist aber auch insofern nicht lokalisiert, als seine Lymphozyten und die Antikörper-Moleküle, von denen diese produziert werden, selbstständig im Blut und in der Lymphe zirkulieren können. Lymphozyten haben spezialisierte Rezeptormoleküle (einschließlich der Antikörper), die in ihre Membran eingebettet sind und es ihnen erlauben, die Konturen und die Architektur des Körpers auf der molekularen Ebene zu »fühlen«, die Topologie seiner zirkulierenden Moleküle, seiner Zellen, Organe und Gewebe, und die es dem Körper dadurch erlauben, sich selbst zu erkennen und nicht zum Selbst gehörige »fremde Eindringlinge« durch ständige Überwachung und hoch spezialisierte Molekülerkennung aufzuspüren.

Selbst in Abwesenheit von fremden Eindringlingen oder Krankheitsprozessen scheint es einen ständigen Dialog zwischen allen Mitgliedern des Zellverbundes, die den Körper bilden, zu geben, einem Dialog, der mit Hilfe der Sprache und der Signale des Immunsystems geführt wird. Durch diese Kommunikation werden all die verschiedenen Funktionen des Körpers auf der zellulären Ebene koordiniert. Ohne einen solchen Dialog würde der Körper zerfallen. Francisco Varela bemerkte dazu:

»Sinnesorgane wie Augen und Ohren, die das Gehirn mit der Umwelt verbinden, haben Parallelen in einer Reihe von Lymphorganen. Das sind ganz bestimmte Regionen, die als Sensoren fungieren und mit Reizen interagieren, zum Beispiel Bereiche im Darm, die ständig mit dem in Beziehung stehen, was man isst.«

Wenn etwas schiefläuft, wenn zum Beispiel bestimmte Zellen mutieren und beginnen, unkontrolliert zu wachsen, oder wenn fremde Viruspartikel oder andere Substanzen im Körper auftauchen, werden sie durch das Immunsystems aufgespürt, indem sie durch das Berührungs-Erkennungssystem »gefühlt« werden. Dann werden verschiedene Mechanismen auf der Grundlage von Zellen und Antikörpern aktiviert, die diese Störfaktoren mit erstaunlicher Genauigkeit eingrenzen und neutralisieren. Dieser Vorgang basiert auf Klonselektion und der Verstärkung jener Lymphozyten, die über spezifische Erkennungsmoleküle verfügen, sodass die anormalen Zellen oder Chemikalien neutralisiert werden können, ohne dass die normalen Zellen angegriffen oder geschädigt werden.

Das Immunsystem ist ein wahrer Bienenstock selektiver Berührungen und Erkennungen, ein Überwachungssystem, das niemals schläft. Somit bleibt im dynamischen Lebensfeld des Körpers die Harmonie aufrechterhalten, während er potenziell schädlichen Agenten aus seinem Inneren oder von außen ausgesetzt ist. Das Immunsystem funktioniert sowohl auf molekularer als auch zellulärer Ebene mit exquisiter Eleganz: Der Körper vermag auf Bedrohungen zu reagieren, die ihm nie zuvor begegnet sind, seien es nun infektiöse Agenten oder vom Menschen hergestellte Substanzen, die zur Zeit der Evolution des Menschen noch nicht auf diesem Planeten existierten, die aber nichtsdestoweniger als potenziell schädlich erkannt, ausgegrenzt und neutralisiert werden können. Das Immunsystem kann diese Reaktion lernen und sich bei Bedarf daran erinnern.

Wenn dieses System zusammenbricht, wie das manchmal auf unerklärliche Weise geschieht, verlieren wir die schützende Selbsterkennung unseres Körpersystems. Das führt dann zu den sogenannten Autoimmunerkrankungen, bei denen das Immunsystem normales Körpergewebe anzugreifen beginnt. Der Kontakt unter den Mitgliedern dieses Verbundes von Zellen und Geweben, aus denen der Körper besteht, ist dann nicht mehr von einer Art, die zur Optimierung von Harmonie und Gesundheit führt. Der Austausch zwischen ihnen verstummt oder wird toxisch. Das ist nicht sehr viel anders, als wenn soziale Gruppen oder Nationen keine gemeinsame Grundlage mehr finden können.

Was die Frage der körperlichen Identität und die über die Selbstverteidigung hinausgehende Rolle des Immunsystems angeht, benutzte Francisco Varela eine soziale Analogie, um ein Gefühl für seine nicht aus sich heraus existierende Natur zu vermitteln. Da er in Paris lebte, nahm er Frankreich als Beispiel. Im Gespräch mit dem Dalai Lama führte er Folgendes aus:

»Was ist die Natur der Identität einer Nation? Frankreich zum Beispiel hat eine Identität, und die sitzt nicht im Büro von François Mitterand [dieses Gespräch fand 1990 statt, als Mitterand noch französischer Staatspräsident war]. Wenn zu starke ausländische Einflüsse in das System eindringen, dann wird es sich natürlich nach außen gerichteter Abwehrfunktionen bedienen. Die Armee startet also eine militärische Reaktion; dennoch wäre es töricht, zu behaupten, dass diese militärische Reaktion die Gesamtheit der französischen Identität darstellt. Was ist die Identität Frankreichs, wenn es keinen Krieg gibt? Es ist das Gefüge des sozialen Lebens, die Kommunikation, die entsteht, wenn Menschen einander begegnen und miteinander sprechen, welche Identität erzeugt. Das ist der Pulsschlag des Landes. Man geht durch eine Stadt und sieht die Leute in Cafés sitzen, Bücher schreiben, Kinder aufziehen, kochen – aber vor allem reden. Etwas Analoges geschieht im Immunsystem, während wir unsere körperliche Identität aufbauen. Zellen und Gewebe besitzen eine Identität als ein Körper, weil es das Netzwerk von B-Zellen und T-Zellen gibt, die sich ständig durch den Körper bewegen und dort Verbindungen mit jedem einzelnen molekularen Profil herstellen und wieder auflösen. Sie verbinden sich auch ständig untereinander und lösen diese Verbindung wieder auf. Ein großer Teil der Kontakte einer B-Zelle besteht aus Kontakten mit anderen B-Zellen. Wie in einer Gesellschaft bauen die Zellen ein Gefüge wechselseitiger Interaktionen auf, ein funktionales Netzwerk… Und durch diese wechselseitigen Interaktionen werden Lymphozyten gehemmt oder in Klonen vervielfältigt, so wie Menschen degradiert oder befördert werden, wie Familien sich ausdehnen oder kleiner werden. Diese Bestätigung der Identität eines Systems, die keine Abwehrreaktion ist, sondern eine positive Konstruktion, ist eine Art von Selbstbestätigung. Das ist es, was unser «Selbst» auf der molekularen und zellulären Ebene ausmacht… Es gibt T-Zellen, die sich mit jedem einzelnen molekularen Profil im Körper verbinden können, so wie es für jeden Aspekt des französischen Lebens – Museen und Bibliotheken, Cafés und Bäckereien – Menschen geben muss, die damit umgehen… Tatsächlich findet man Antikörper zu jedem einzelnen molekularen Profil in unserem Körper (Zellmembranen, Muskelproteine, Hormone und so weiter)… Durch diese verteilte Interdependenz wird ein globales Gleichgewicht hergestellt, sodass die Moleküle meiner Haut in Kommunikation mit den Zellen meiner Leber stehen, weil sie durch dieses zirkulierende Netzwerk des Immunsystems wechselseitig beeinflusst werden. Aus der Perspektive der Netzwerk-Immunologie ist das Immunsystem nicht anderes als etwas, was die ständige Kommunikation zwischen den Zellen unseres Körpers ermöglicht, so wie die Neuronen voneinander entfernte Orte im Nervensystem miteinander verbinden (…) Zellen des Immunsystems sterben etwa in einem Rhythmus von zwei Tagen ab und werden durch neue ersetzt [bei einigen ist das der Fall, andere leben viel länger, Wochen oder sogar Monate], so wie Menschen in einer Gesellschaft nach einer bestimmten Zeit sterben und ständig wieder Kinder geboren werden. Auf sehr komplexe Weise bildet die Gesellschaft die Kinder aus diesem Reservoir dazu aus, verschiedene Aufgaben zu übernehmen. Auf diese Weise erneuert das System seine Bestandteile. Es kommt zu Lernen und Erinnerung, weil neue Zellen durch «Erziehung» in das System eingepasst werden. Die neuen Zellen sind nicht mit den alten identisch, aber sie spielen dieselbe Rolle für den übergeordneten Zweck des emergierenden globalen Bildes…

Wir sind es nicht gewohnt, uns den Körper als ein Selbst vorzustellen, das ein ebenso komplexes Ding ist wie unser kognitives Selbst, aber wir funktionieren tatsächlich auf diese Weise (…) Um wieder zu meiner sozialen Analogie zurückzukehren: Ich kaufe mein Brot jeden Tag bei einem Bäcker in Paris, dessen Familie diese Bäckerei bereits seit 200 Jahren betreibt. Er ist Teil der Gesellschaft und weiß, wie er sein Brot zu backen hat. Wenn ich eines Tages plötzlich einen anderen Bäcker in derselben Bäckerei vorfinde, der vielleicht die gleichen Dinge tut und das gleiche Brot verkauft, wird das trotzdem nicht dasselbe sein. Mein Bäcker gehört aufgrund der langen Geschichte seiner Interaktionen an diesen Ort; er kennt die Leute des Viertels schon seit Langem und sie sprechen eine gemeinsame Sprache. Sie könnten versuchen, diesen französischen Bäcker zu imitieren, aber wenn Sie nicht die richtige Geschichte haben und dieselbe Sprache und Fähigkeit zur Kommunikation besitzen, dann werden die Nachbarn Sie ablehnen. Was meine Zellen an ihrem Ort etabliert und es meinen Leberzellen erlaubt, sich als Leberzellen zu verhalten, meinen Thymuszellen erlaubt, sich als Thymuszellen zu verhalten und so weiter, das ist die Tatsache, dass sie diese gemeinsame Sprache besitzen, sodass sie in einem Kontext miteinander operieren können. Auf ähnliche Weise weiß der Bäcker, dass auch der Bankier zu seiner Gemeinschaft gehört, selbst wenn der Bankier etwas ganz anderes tut. Da wir so sehr an das Funktionieren unseres Körpers gewöhnt sind, wissen wir die Komplexität dieses emergierenden Prozesses, der sein Funktionieren aufrechterhält, gar nicht mehr zu würdigen. So ähnlich wie im menschlichen Gehirn, bei dem das Erinnerungsvermögen oder die Empfindung eines Selbst emergierende Eigenschaften aller Neuronen sind, gibt es im Immunsystem eine emergierende Fähigkeit, den Körper zu erhalten und eine Vergangenheit mit ihm zu haben, – ein Selbst zu haben. Als emergierende Eigenschaft ist das etwas, was entsteht, das aber nicht irgendwo existiert… Meine körperliche Identität ist nicht in meinen Genen oder in meinen Zellen lokalisiert, sondern im Komplex ihrer Interaktionen.«

Wir können uns an diese vitale und dynamische Perspektive erinnern, wenn wir uns in Band 4 mit der Metapher der Welt als lebendigem Körper beschäftigen.

Das heilende Potenzial der Achtsamkeit

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