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Empfindungsvermögen

Empfindung, Psychologie: die als Folge einer Reizeinwirkung durch nervliche Erregungsleitung vermittelte Sinneswahrnehmung. Entsprechend den verschiedenen Sinnesfunktionen. Empfindung, Philosophie: die meist durch sinnliche Wahrnehmung ausgelöste Wirkung im menschlichen Erkenntnisapparat.

BROCKHAUS ENZYKLOPÄDIE

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass alles an Ihnen, was vollkommen das ist, was es ist, in diesem Sinne vollkommen ist? Denken Sie nur einmal: Wie alle anderen Menschen wurden auch Sie geboren, haben sich entwickelt, sind aufgewachsen, leben Ihr Leben, treffen Entscheidungen. Die Dinge, die Ihnen widerfahren sind, sind Ihnen widerfahren, ob Sie es so wollten oder nicht. Falls Ihr Leben nicht unerwartet verfrüht endet, aber selbst falls das geschieht, haben Sie es im Rahmen Ihrer Möglichkeiten gelebt. Sie haben Ihre Arbeit getan, haben auf die eine oder andere Weise einen Beitrag geleistet, haben Ihr Erbe hinterlassen. Sie haben Beziehungen zu anderen Menschen und zur Welt geführt, und vielleicht haben Sie die Liebe geschmeckt oder wurden sogar darin gebadet und haben Ihre Liebe mit der Welt geteilt. Unausweichlich werden Sie immer älter – das heißt, wenn Sie Glück haben – und teilen Ihr Dasein weiterhin auf vielfältige Weise, sei sie nun befriedigend oder unbefriedigend, mit der Welt. Und schließlich sterben Sie.

So ist es jedem Menschen ergangen, der jemals auf diesem Planeten gelebt hat. Und so wird es auch Ihnen ergehen. Genauso wie mir. So ist das menschliche Leben.

Aber das ist noch nicht alles.

Die Kurzfassung aus der Vogelperspektive, die ich eben skizziert habe, ist natürlich kläglich unvollständig, auch wenn sie nicht als Karikatur gemeint ist. Denn es gibt noch ein weiteres, unsichtbares Element, das sich durch unser ganzes Leben zieht und wesentlich für seine Entfaltung ist. Allerdings ist es dermaßen in das Gefüge all unserer Momente eingewoben, dass es fast zu offensichtlich ist, um es in Betracht ziehen. Dennoch ist es diese Essenz, die uns nicht nur zu dem macht, was wir sind, sondern uns Fähigkeiten von einem Ausmaß verleiht, das wir nur selten spüren, geschweige denn würdigen und voll verwirklichen. Ich spreche natürlich vom Gewahrsein, von dem, was wir Bewusstsein, Empfindungs- oder Erkenntnisfähigkeit nennen, von unserem subjektiven Erleben.

Schließlich haben wir unsere eigene Spezies Homo sapiens sapiens genannt – mit einer doppelten Dosis des Partizip Präsenz von sapere, was »schmecken, wahrnehmen, erkennen, weise sein« bedeutet. Was das impliziert, ist klar. Das, was uns unserer Ansicht nach von den anderen Spezies unterscheidet, ist unsere Fähigkeit, in unserer Wahrnehmung weise zu sein, zu erkennen und unserer Erkenntnis gewahr zu sein. Doch diese Eigenschaften halten wir in unserem gewöhnlichen Alltagsleben für dermaßen selbstverständlich, dass wir sie praktisch übersehen, gar nicht erkennen oder sie höchstens vage anerkennen. Wir machen nicht den besten Gebrauch von unserem Bewusstsein, obwohl es uns doch faktisch in jedem Moment unseres wachen und träumenden Lebens ausmacht.

Es ist das Bewusstsein, das uns Leben einhaucht. Es ist das letztendliche Mysterium, das, was uns zu mehr macht als einem Mechanismus, der denkt und fühlt. Ja, wir sind Wahrnehmende wie alle Lebewesen, aber wir sind fähig zu einer erkennenden und unterscheidenden Weisheit, die über die reine Wahrnehmung hinausgeht. Das ist eine Gabe, die auf dieser kleinen Erde womöglich einzig und allein uns zuteil wurde. Unser Bewusstsein macht unsere Möglichkeiten aus, es setzt aber keineswegs die Grenzen des uns Möglichen. Wir sind die Spezies, die in ihre eigene Größe hineinwächst. Wir sind Kreaturen, die stets dazulernen und in der Konsequenz sich und die Welt verändern. Und als eine sich entwickelnde Spezies sind wir in bemerkenswert kurzer Zeit recht weit gekommen.

Heute weiß die Gehirnforschung eine ganze Menge über das Gehirn und den Geist, und dieses Wissen mehrt sich jeden Tag. Aber sie hat nicht die geringste Ahnung, was das Bewusstsein ist und wie es zustande kommt. Es ist ein großes Rätsel, ein scheinbar unergründliches Mysterium. Offenbar kann Materie, wenn sie nur komplex genug arrangiert ist, die Welt geistig erfassen und sie erkennen. Der Geist taucht auf. Bewusstsein entsteht. Doch wir haben keine Ahnung, wie. In der Kognitionswissenschaft nennt man dies das »harte Problem« des Bewusstseins.

Es ist eine Sache, dass wir auf unserer Netzhaut auf dem Kopf stehende zweidimensionale Bilder haben. Eine ganz andere ist es, zu sehen: die lebhafte Erfahrung einer Welt, die »da draußen« in drei Dimensionen existiert, jenseits unseres eigenen Körpers, eine Welt, die real zu sein scheint, die wir mit den Sinnen wahrnehmen, in der wir uns bewegen, derer wir uns bewusst sein können und die wir uns sogar mit geschlossenen Augen in vielen Einzelheiten vorstellen können. Und in dieser Vorstellung wird irgendwie auch die Empfindung eines persönlichen Selbst erzeugt, das Gefühl eines Sehenden, der das Sehen leistet und wahrnimmt, was es zu sehen gibt; ein Erkennender der erkennt, was es zu erkennen gibt, zumindest zu einem gewissen Grad. Und doch ist das alles eine Vorstellung, ein Konstrukt des Geistes, buchstäblich ein Machwerk – die Synthese einer Welt aus sensorischem Input, die zumindest teilweise darauf beruht, dass wir Unmengen an sensorischen Informationen durch komplexe Netzwerke im Gehirn, ja durch das gesamte Nervensystem und letztlich den gesamten Körper verarbeiten. Das ist eine wirklich phänomenale Leistung. Es ist ein riesiges Geheimnis und ein ganz außerordentliches Erbe, auch wenn wir alle es gewöhnlich für völlig selbstverständlich halten.

Der Neurobiologe und Entdecker der Doppelhelixstruktur der DNS, Francis Crick, sagte: »Trotz all dieser Arbeit [in der Psychologie, Physiologie und molekularen sowie zellularen Biologie des Sehvermögens] haben wir tatsächlich keine klare Vorstellung davon, wie wir überhaupt etwas sehen.« Selbst die Farbe blau (oder jede andere Farbe) existiert weder in den Photonen, aus denen das Licht dieser bestimmten Wellenlänge besteht, noch irgendwo im Auge oder im Gehirn. Wir sehen an einem wolkenlosen, sonnigen Tag zum Himmel auf und wissen einfach, dass er blau ist. Und wenn wir schon keine klare Vorstellung davon haben, wie wir etwas sehen, dann trifft das erst recht auf unser physiologisches Verständnis über die Art und Weise zu, wie wir etwas erkennen.

In seinem Buch Wie das Denken im Kopf entsteht beschreibt der Linguist und Neuropsychologe Steven Pinker die Empfindungsfähigkeit als eine Kategorie für sich:

In der Wissenschaft vom Geist jedoch schwebt die Empfindungsfähigkeit auf einer eigenen Ebene weit über den Kausalketten der Physiologie und Neurobiologie. (…) Und wir können die Empfindungsfähigkeit auch nicht aus unserem Diskurs verbannen oder auf den Zugang zu Information reduzieren, denn von ihr hängt die ethische Argumentation ab. Das Konzept der Empfindungsfähigkeit ist die Grundlage unserer Überzeugung, dass Folter etwas Schlechtes ist und dass die Zerstörung eines Roboters nur Sachbeschädigung, die Zerstörung eines Menschen aber Mord ist. Sie ist der Grund, dass der Tod eines geliebten Menschen in uns nicht nur Mitleid mit uns selbst wegen des Verlustes auslöst, sondern auch den verständnislosen Schmerz darüber, dass die Gedanken und Freuden dieses Menschen für immer verschwunden sind.

Dennoch behauptet Crick, dass Empfindungsfähigkeit, was immer es sein möge – sowie der Eindruck einer wirkenden Kraft, die wir mit den Pronomen »ich« und »mich« verbinden, ebenso wie alle anderen Eigenschaften, Phänomene und Erfahrungen, die wir mit dem Geist assoziieren – letztlich durch die Aktivität von Neuronen erzeugt werde, dass es also ein emergentes Phänomen der Gehirnstruktur ist, und eine Aktivität, hinter der keine wirkende Kraft steht, sondern nur neuroelektrische und neurochemische Impulse:

Das geistige Bild, das die meisten von uns haben, ist das eines kleinen Mannes (oder einer kleinen Frau) irgendwo innerhalb unseres Gehirns, der oder die das, was vor sich geht, verfolgt (oder zumindest sich sehr anstrengt, ihm zu folgen). Ich werde das den »Irrtum des Homunculus« (homunculus ist lateinisch »kleiner Mann«) nennen. Viele Menschen sehen das in der Tat so – und diese Tatsache wird an geeigneter Stelle einer eigenen Erklärung bedürfen – aber unsere »Erstaunliche Hypothese« behauptet, dass dies nicht der Fall ist. Flapsig formuliert, besagt sie: »Das machen alles die Neuronen.« Es muss Strukturen oder Abläufe im Gehirn geben, die sich auf irgendeine geheimnisvolle Weise so verhalten, als entsprächen sie dem geistigen Bild des Homunculus.

Der Philosoph John Searle antwortet darauf: »Wie kann es möglich sein, dass das physische, objektive, quantitativ beschreibbare Feuern von Neuronen qualitative, persönliche, subjektive Erfahrungen verursacht?« Dies ist eine große Herausforderung für das Feld der Roboterforschung, in dem die Wissenschaftler versuchen, Maschinen zu bauen, die so etwas tun können wie den Rasen mähen, wenn er gemäht werden muss, oder Geschirr wegzuräumen, wenn es sauber ist – Dinge, die wir tun können, ohne darüber nachdenken zu müssen (so sagen wir wenigstens), die aber für Roboter unglaublich schwer zu lösende Probleme darstellen. Darüber hinaus gibt es in dem explodierenden Feld der künstlichen Intelligenz inzwischen von Menschen entworfene Maschinen, die die nächste Generation von Maschinen entwerfen und bauen (oder zumindest dazu beitragen). Mit jeder Iteration nimmt die Komplexität und Lernfähigkeit der Maschinen zu. Ab einem bestimmten Punkt sieht es dann so aus, als hätten die Maschinen selbst Gefühle und könnten tatsächlich denken – mit integrierten Schaltkreisen anstelle von Neuronen, aber dennoch so, dass sie zumindest das »nachahmen«, was wir Agens, Intelligenz und Gefühl nennen. Und natürlich könnte es sein, dass auch wir selbst in Wirklichkeit hochentwickelte »Empfänger« sind, die sich mittels ihrer Neuronen auf ein nichtlokales »Bewusstsein« einer viel höheren Ordnung einstimmen, ein Bewusstsein, das eine Eigenschaft des Universums ist. Zumindest sind einige Menschen der Ansicht, dass sich diese Möglichkeit nicht gänzlich ausschließen lässt.

Allerdings möchte ich nicht zu weit in das Feld der verschiedenen Erklärungsversuche für das Bewusstsein sowie der kontroversen Meinungen darüber abschweifen, so faszinierend diese Fragen und die wissenschaftlichen und philosophischen Disziplinen, die sich damit befassen, auch sein mögen, etwa die Kognitionswissenschaft, die Phänomenologie, die künstliche Intelligenz und die sogenannte Neurophänomenologie. Mir geht es hier vielmehr um etwas ganz Naheliegendes, nämlich darum, dass wir unser Bewusstsein als etwas Grundlegendes erkennen und uns überlegen, ob es uns individuell und kollektiv dienlich sein könnte, diese außerordentliche Erkenntnisfähigkeit weiterzuentwickeln; – eine Fähigkeit, die, was bemerkenswert und wichtig ist, natürlich auch unzählige Male darin besteht, zu wissen, dass wir nicht wissen. Zu wissen, dass wir nicht wissen, ist ebenso wichtig wie alles andere, was wir wissen können – wenn nicht sogar noch wichtiger. Hier betreten wir das Reich des Unterscheidungsvermögens und der Weisheit – gewissermaßen die Quintessenz des Menschseins.

Am Ende eines Retreats für Psychologen in einer MBCT-Ausbildung (Mindfulness Based Cognitive Therapie, deutsch: Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie) bemerkte ein Therapeut, der ja immerhin den ganzen Tag lang mit Menschen und deren Gefühlen und Gedanken arbeitet: »Ich schotte mich von den Menschen ab. Das ist etwas, von dem ich nicht wusste, dass ich es nicht wusste.«

Allzu oft leben wir unser Leben eingeschränkt von Gewohnheiten und Konditionierungen, derer wir uns nicht im geringsten bewusst sind, die aber unsere Augenblicke und unsere Entscheidungen, unsere Erfahrungen und unsere emotionalen Reaktionen prägen, selbst wenn wir glauben, wir wüssten es besser – oder sollten es besser wissen. Diese Tatsache allein weist schon auf einige der praktischen Grenzen des Denkens hin.

Doch wunderbarerweise haben wir immer Zugang zum Gewahrsein, dem ganzen Reich des Bewusstseins und verschiedener Intelligenzen, und können so gegen diese Konditionierung angehen und unser Gespür erweitern, sodass wir besser in Kontakt damit sind, sowie auch mit unserem Vermögen, tatsächlich das zu verstehen, was der Kognitionswissenschaftler Antonio Damasio das »Gespür für das, was geschieht« nennt.

Empfindungsfähigkeit ist uns näher als nah. Gewahrsein ist unsere Natur, und es liegt in unserer Natur. Es ist in unserem Körper, in unserer Spezies. Die Tibeter sagen, dass Erkennen, also die nichtbegriffliche erkennende Qualität, die Essenz dessen ist, was wir Geist nennen – zusammen mit Leere und Grenzenlosigkeit, welche der tibetische Buddhismus als komplementäre Aspekte derselben Essenz betrachtet.

Die Fähigkeit zum Gewahrsein ist uns offenbar angeboren. Wir können gar nicht anders, als gewahr sein. Das ist das Charakteristikum, das unsere Spezies ausmacht. Es liegt in unserer Biologie begründet, geht jedoch weit über das rein Biologische hinaus. Es ist das, was und wer wir in Wirklichkeit sind. Doch wenn diese Empfindungsfähigkeit nicht kultiviert und verfeinert und in mancher Hinsicht auch geschützt wird, besteht die Gefahr, dass es von Schlingpflanzen und Unterholz überwuchert wird und schwach und unterentwickelt bleibt, nicht viel mehr als ein schlummerndes Potenzial. Wir können relativ empfindungslos werden, unsensibel und mehr schlafend als wach, wenn es um unser Vermögen geht, über die Grenzen egoistischen Denkens hinaus etwas zu erkennen. Zu diesem Vermögen gehört auch die Erkenntnis, dass bestimmte Gedanken egoistisch sind, und damit schon in dem Moment, in dem sie entstehen, zu erkennen, dass sie beschränkt und eventuell unklug sind. Wird die Empfindungsfähigkeit kultiviert und gestärkt, dann erleuchtet sie unser Leben und die Welt und schenkt uns ein Maß an Freiheit, das wir uns kaum haben vorstellen können, obwohl unsere Vorstellungskraft selbst aus eben dieser stammt.

Dieses Empfindungsfähigkeit verleiht uns auch eine Weisheit, die uns aus unserer Neigung herausführen kann, bewusst oder unbewusst Schaden anzurichten und stattdessen Wunden zu heilen und die Souveränität und Würde all unserer Mitgeschöpfe anzuerkennen.

Das heilende Potenzial der Achtsamkeit

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