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1 Schlank oder mager

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Die heutigen Krankenhaus-Führungswaffen werden täglich stumpfer. Sparen, Privatisieren, Konzernieren, Zentralisieren und Outsourcen oder die Schließung kleiner Kliniken werden uns voraussichtlich keine bessere und günstigere Versorgung verschaffen. Irgendwann gehen uns die gestalterischen Alternativen aus und es werden stationäre Mager-Modelle entstehen, in denen das Irgendwie-klar-Kommen mehr im Mittelpunkt steht als der Patient.

Die Zeit ist reif, Alternativen zu entwickeln. Zwar können wir nicht die Welt verändern oder Geld aus dem Hut zaubern. Wir werden weder von heute auf morgen die Gesundheitspolitik noch das Selbstverständnis der Krankenversicherungen verändern. Was wir aber in der Hand haben, ist das Gestalten der eigenen Organisation.

So begann im Jahr 2011 meine ganz persönliche Suche nach möglichen Alternativen zu den herkömmlichen Führungs- und Organisationskonzepten. Was lag näher, als wieder einmal eine Anleihe bei industriellen Konzepten zu machen und mit einer Methode zu experimentieren, die ihren weltweiten Siegeszug bereits vor Jahrzehnten angetreten hat: Lean Management. Was ich in den Jahren als Geschäftsführer eines Berliner Krankenhauses über die Methode und die eigene Organisation erfahren und gelernt habe und was ich nun seit 2014 als Begleiter großer Veränderungsprozesse beobachte, versetzt mich jeden Tag erneut in Erstaunen. Lean Management ist in der Lage, eine Krankenhausorganisation in Bewegung zu versetzen und sie zu einer neuen Kultur der Führung, Zusammenarbeit und der Verbesserung zu bringen. Sichtbare Wirkung verlangt nach Bewegung. Tritt diese Bewegung einmal nicht ein, so ist Lean zumindest in der Lage aufzudecken, warum. Es gilt einmal mehr: „Um zu wissen, wo eine Schubkarre quietscht, muss man sie anschieben.“

Als erstes möchte ich mit einem weitverbreiteten Missverständnis aufräumen: Ein schlankes Krankenhaus ist kein mageres, krankes Krankenhaus, sondern ein gesundes und fittes. Ein Krankenhaus, das den grundlegenden Lean-Management-Prinzipien folgt, produziert künftig weder Autos, noch stellt es auf ein Behandlungsfließbandkonzept um.

Ein schlankes Krankenhaus konzentriert seinen Blick auf den Nutzen für seine Patienten. Es arbeitet jede Minute daran, den Nutzen für seine Patienten zu steigern. Im Gegenzug verzichtet es auf alles, was seinen Nutzen nicht steigert. In einem solchen Krankenhaus verfügen die Führung und die Mitarbeitenden über umfangreiche methodische Kompetenzen. Sie kooperieren auf eine Weise miteinander, die es ihnen ermöglicht, die Qualität und Wirtschaftlichkeit ihrer Behandlungsprozesse kontinuierlich zu verbessern.

Lean Management – das ist eine meiner Erkenntnisse der letzten Jahre – lässt sich nicht auf reine Organisationsprinzipien oder Werkzeuge reduzieren. Es handelt sich um ein grundlegendes Führungsprinzip. Anfangs bin ich, wie viele andere auch, dem Trugschluss unterlegen, dass es im Lean Management primär um den Prozess geht, um das technische Gestaltungselement, um den sicht- und messbaren Erfolg und um Instrumente oder Werkzeuge. Tatsächlich geht es um viel mehr. Es geht darum, einen Weg zu finden, um die gesamte Organisation, ihre Führung und ihre Mitarbeiter dahin zu entwickeln, ihre Prozesse gemeinsam und kontinuierlich zu verbessern. Sie müssen eine Struktur finden, in der kontinuierliches Verbessern überhaupt erst möglich wird. Die Beteiligten lernen, wie gute Organisation funktioniert und wie sie sich verbessern lässt – gegen alle Hindernisse. Außerdem müssen sie gemeinsam dafür sorgen, dass Prozesse bleiben, wie sie sein sollen. Nicht ohne Grund sprechen wir im Lean-Kontext deutlich mehr über Führung, Kooperation und Kultur als über Instrumente oder Werkzeuge. Wir betreiben eine Form der Kulturentwicklung, die sich nicht in Folien und Diskursen, sondern in sichtbaren Ergebnissen widerspiegelt.

In jedem Krankenhaus existiert ein enormes Maß an Verschwendung. Leider können wir sie nicht immer auf Anhieb entdecken oder finden aktuell einfach keine bessere Lösung als die, die wir haben. Verschwendung im Sinne von Lean heißt, abweichend von unserem traditionell negativ geprägten Verständnis von diesem Begriff, Zeit für Vorgänge zu verwenden, die den Patienten keinen unmittelbaren Nutzen stiften. Wenn wir es schaffen, jeden Tag, jeden Monat und jedes Jahr ein klein wenig dieser verschwendeten Zeit in nutzenstiftende Tätigkeiten umzulenken, entsteht echter Fortschritt im Sinne von Patientennutzen, Qualität und Wirtschaftlichkeit. Leider stehen diesem ehrenwerten Vorhaben viele Hindernisse entgegen, die es mühsam zu überwinden gilt – strukturell und Tag für Tag. Eine Methode, die nicht dazu beiträgt, führt vielleicht zu guten Konzepten und Planungen, nicht aber zu nachhaltigen Verbesserungen.

Eine typische Krankenhausorganisation ist zu komplex, als dass sie von wenigen oder gar Externen nachhaltig und grundlegend verbessert werden könnte. Selbst wenn es ginge, wäre es in den heutigen Finanzierungsstrukturen zu teuer, es könnte sich niemand leisten. Es gilt deshalb eine Organisation zu erfinden, in der sich möglichst viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aktiv und ergebniswirksam an solchen Veränderungsprozessen beteiligen können. Denn wenn viele etwas tun, setzt ein großer Effekt ein. Für dieses Prinzip der aktiven Beteiligung steht die Shopfloor-Management-Methode (Führen vor Ort), der bislang erstaunlich wenig beachtete Kern des gesamten Lean-Management-Konzeptes. Mithilfe eines Teamboards vor Ort auf den Stationen bzw. in den Behandlungsbereichen erhält der tägliche berufsgruppenübergreifende Dialog eine klare Struktur und einen ebenso klaren Fokus: sichtbare Verbesserung. Unterstützung erhalten die lokalen Verbesserungsteams von allen: von anderen Abteilungen, Servicebereichen und ihrer Führung. Ein unüberwindbarer Rahmen, verbindliche Regeln und eine konsequente Faktenorientierung unterstützen die Auflösung von Berufsgruppen- und Hierarchiegrenzen im Sinne der gemeinsamen Aufgabe. Es entsteht eine kontinuierliche, institutionalisierte Regelkommunikation – regelmäßig und als Teil von Arbeitszeit.

In einem schlanken Krankenhaus arbeiten alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kontinuierlich an der Verbesserung ihrer Organisation. Dazu benötigen sie ein Mindestmaß an organisatorischer Verbesserungskompetenz, möglichst einfache Gestaltungswerkzeuge sowie den zeitlichen Raum, um über Verbesserung überhaupt nachdenken und sie nachhaltig realisieren zu können. Eine möglichst breite Qualifizierung gilt deshalb als unausweichlich.

Die Einführung von Lean Management in einem Krankenhaus wird mehrere Jahre in Anspruch nehmen und grundlegende Veränderungen nach sich ziehen. Viele kleine und große Hürden sind zu überwinden. Wenn ich drei der größten Hürden vorab nennen müsste, würde ich heute die folgenden wählen:

 Eine Organisation muss sich aus der Zeitfalle befreien, in der sich heute fast alle Krankenhäuser befinden.

 Sie muss lernen, einmal installierten Regeln und Standards zu folgen und den Grad an Individualität und (falsch verstandener) Flexibilität verringern.

 Die Führung muss ihre bequemen Schreibtische verlassen und wieder in das Leben vor Ort eintauchen.

Mit den letzten beiden Hürden werde ich mich ausgiebig beschäftigen, über Zeit dagegen lässt sich wenig diskutieren: Ohne Zeit wird es keine Verbesserung geben. Zeit lässt sich nicht konzipieren, über sie kann man nur entscheiden, sie lässt sich nur mühsam erkämpfen und man muss sie eisern verteidigen.

Ich möchte Ihnen mit diesem Buch einen umfassenden Überblick über die Logik und die wesentlichen Komponenten von Lean Management im Krankenhaus verschaffen. Meine Hoffnung ist, dass Sie vieles wiedererkennen, was ihnen in Ihrem Alltag begegnet und Ihnen ebenso wenig gefällt wie mir. Gefallen oder nicht gefallen: die Dinge sind wie sie sind, alles hat einen Ursprung und einen guten Grund. Dass wir das Bestehende gerne verändern möchten, heißt nicht, dass es – immer schon oder heute – falsch, unsinnig oder schlechtgemacht war bzw. wäre.

In einem schlanken Krankenhaus möchten wir erreichen, dass alle Mitarbeitenden und ihre Führungskräfte kontinuierlich und gemeinsam daran arbeiten, ihre Strukturen und Prozesse zu verbessern. Der Patient profitiert von höherer Qualität und besserem Service, Mitarbeiter von besseren Arbeitsbedingungen und das Unternehmen Krankenhaus von höherer Wirtschaftlichkeit. Das schlanke Krankenhaus ist keine Utopie, sondern lediglich harte Arbeit.

Berlin, im Februar 2018 Jörg Gottschalk

Das schlanke Krankenhaus

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