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EINIGE SCHLUSSFOLGERUNGEN ÜBER DEN „WEG ZUM SOZIALISMUS“ IM RÜCKBLICK

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In den abschließenden Betrachtungen nehme ich Bezug auf die von Engels konzipierte Politikstrategie zur Erreichung des Endziels einer sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und auf die Frage einer Synthese von revolutionärer Zielsetzung und Reformismus.

Engels’ Politikstrategie beruhte auf der langfristigen Perspektive der Entwicklung des Kapitalismus, die Marx im ersten Band des Kapital als einen sich mit ökonomischer Gesetzmäßigkeit vollziehenden Prozess dargestellt hatte, dessen einzelne Bestimmungsfaktoren Engels aber den seither eingetretenen Veränderungen entsprechend durchaus unterschiedlich gewichtete. Unbeirrt festgehalten hat er an der Erwartung einer Eliminierung der kleinbürgerlichen und bäuerlichen Mittelschichten durch die von Konkurrenz und technischer Entwicklung angetriebene Tendenz zur Konzentration und Zentralisation des Kapitals mit der Folge einer immer weitergehenden Polarisierung der Gesellschaft, bei der am Ende eine sozial homogene, nivellierte Arbeiterklasse, die den überwältigenden Teil der Bevölkerung ausmacht, einer kleinen Zahl von Kapitaleigentümern gegenübersteht, welche die Staatsmacht innehaben. An der These der „Verelendung“ der Masse der Proletarier hat Engels angesichts der mangelnden Bestätigung durch die reale Entwicklung kaum noch festgehalten, seine Erwartung war auf die Entwicklung eines Klassenbewusstseins des Proletariats gerichtet, auf dessen auf der „Wissenschaftlichkeit“ der Marx’schen Theorie beruhende revolutionäre Siegesgewissheit durch kontinuierliches Anwachsen der in Partei und Gewerkschaft politisch organisierten Arbeiterbewegung. Für Engels war es keine Frage des „ob“, sondern eine Frage der Zeit, dass das Proletariat ein solches Übergewicht im Anteil der Bevölkerung erlangt, dass es eines Tages auch die Mehrheit im Parlament des kapitalistischen Staats bilden wird – deswegen trat er konsequent für den Kampf um das allgemeine Wahlrecht und die Nutzung aller politischen Möglichkeiten, die sich den Repräsentanten des Proletariats dadurch boten, ein.

Wenn die dem Kapitalismus innewohnende Dynamik aus sich selbst Formen der ökonomischen und gesellschaftlichen Organisation hervorbrachte, welche dem Übergang zum Sozialismus Vorschub leisteten, so wehrte sich Engels dennoch immer gegen die Vorstellung eines friedlichen, d. h. bruchlosen Hineinwachsens in den Sozialismus. Diese Transformation blieb für ihn ein revolutionärer Akt, vollzogen nach der politischen Machtübernahme durch das Proletariat, wobei er offenließ, ob mit oder ohne Gewaltanwendung.

Engels betonte Funktion und Wirkungen der Krise im Rahmen der Entwicklung des Kapitalismus, vor allem in Bezug auf die Tendenz der Konzentration und Zentralisation des Kapitals. Relativ geringe Bedeutung in seiner Politikstrategie hat die Marx’sche These von einer zunehmenden Verschärfung der periodisch wiederkehrenden Krisen.

Schon zu Lebzeiten von Engels, immer deutlicher in den darauffolgenden Jahrzehnten bis zum Beginn des Weltkriegs mehrten sich die Anzeichen, dass die Entwicklung des Kapitalismus nicht dem von Marx und Engels entworfenen Bild entsprach. Die Auf- und Abschwünge der Konjunktur entsprachen dem Bild der periodisch wiederkehrenden Krisen, zeigten aber keine Tendenz zur Verschärfung. Die These von der Tendenz zur Konzentration und Zentralisation des Kapitals fand in der realen Entwicklung zwar ihre Bestätigung, aber in ihrer konkreten Ausprägung waren die Folgen nicht so wie von Marx und Engel erwartet. Zum einen erwiesen sich die besitzenden kleinbürgerlichen Schichten als wesentlich stärker anpassungs- und überlebensfähig, besonders in der Landwirtschaft, aber auch in Handwerk, Gewerbe und Handel. Langfristig noch wichtiger war das starke Wachstum einer neuen Angestellten- und Beamtenschicht. In der Erwerbsbevölkerung kam es nicht zur Polarisierung zwischen einer kleinen Zahl von Kapitalisten einerseits und einer homogenen, vom Typus des Industriearbeiters geprägten proletarischen Arbeiterschaft. Die Struktur der Gesellschaft veränderte sich, aber ihre Differenziertheit nahm eher zu als ab, das Proletariat wurde nicht zur Bevölkerungsmehrheit. Das Fundament der Engels’schen Politikstrategie, die Entwicklung eines unwiderstehlich zur Mehrheit werdenden, immer stärker vom Klassenbewusstsein geprägten revolutionären Proletariats, wurde zunehmend unrealistisch.

Die nicht zu übersehende Tatsache, dass die besitzenden kleinbürgerlichen und bäuer-lichen Bevölkerungsschichten auf absehbare Zeit weiterhin einen beträchtlichen Anteil in der sozialen Struktur behalten würde, ließ sich auch nicht mit dem Argument kleinreden, diese Schichten seien wirtschaftlich abhängig von kapitalistischen Großunternehmungen und/ oder Banken und hätten dadurch ihre Selbstständigkeit eingebüßt,85 ihr sozialer Status habe sich dadurch jenem der Proletarier angenähert. Um ihren Mandatsanteil bei Parlamentswahlen weiter zu steigern, mussten sich sozialdemokratischen Parteien entweder um Stimmen von Kleinbürgern und Bauern werben, oder versuchen, Koalitionen mit anderen Parteien einzugehen. Beides förderte die von Engels immer bekämpfte Neigung zum Reformismus.

Es erscheint als Paradoxon, dass gerade der problematische Teil der Marx/Engels’schen Theorie der kapitalistischen Entwicklung, dass diese mit quasi naturgesetzlicher Notwendigkeit zum Sozialismus führe, wesentlich zu den Erfolgen der sozialdemokratischen Bewegung in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg beitrug.86 Das Bewusstsein von der Sieghaftigkeit der Bewegung, von der historischen Mission des Proletariats, die Menschheit von Unterdrückung und Ausbeutung zu befreien und in eine glückliche Zukunft zu führen, wie es in unzähligen Schriften, Gedichten und Liedern immer wieder bekräftigt und beschworen wurde, bildete eine unabdingbare Grundlage dafür, dass immer mehr in ursprünglich niedrigen und elenden Verhältnissen lebende Menschen in eine organisierte Arbeiterbewegung ihre Hoffnungen setzten und sich ihr anschlossen. So gelang die Organisation einer Massenbewegung, die sich weit über den politischen Bereich hinaus erstreckte, und die, auch wenn sie von der Teilhabe an der politischen Macht ausgeschlossen blieb, von den herrschenden Schichten als politische und soziale Gruppierung ernst genommen werden musste.

Der in der Praxis zunehmend reformistische Charakter der österreichischen Sozialdemokratie vor dem Weltkrieg äußerte sich vor allem in der wachsenden organisatorischen Stärke der Gewerkschaftsbewegung, die für große Gruppen von Arbeitnehmern fühlbare Verbesserungen ihres Lebensstandards und ihrer sozialen Lage durchsetzen konnte. In der Sphäre der Politik machte sich die Sozialdemokratische Partei die Erhaltung der Habsburgermonarchie durch demokratische Reformen, zu denen dieser traditionalistisch geprägte Staatsverband allerdings nicht mehr fähig war, zu einem ihrer zentralen Anliegen. Sie trat der von den Repräsentanten nationalistischer Parteigruppierungen betriebenen „Obstruktionspolitik“ im Reichsrat entgegen, der seit 1911 das Parlament lahmlegte, freilich ohne Erfolg.

In der extrem schwierigen Übergangsphase vom Großstaat der Habsburgermonarchie zum „Reststaat“ der Republik (Deutsch-)Österreich fand sich die Sozialdemokratie plötzlich im Besitz der politischen Macht, allerdings geteilt mit den bürgerlichen Parteien. Mit einer reformistisch-anti-revolutionären Politik erzielte die Partei in dieser Zeit ihre größten Erfolge durch eine breite Welle sozialpolitischer Reformen. Reformistisch konzipiert war auch das Sozialisierungsprogramm der Partei, das nicht nur am Widerstand der bürgerlichen Parteien scheiterte.

Die Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratie in Österreich war nach zwei Jahren – die von Otto Bauer als eine Periode des „Gleichgewichts der Klassenkräfte“ bezeichnet wurde – wieder zu Ende. Danach verfolgte die Partei eine politische Strategie des „revolutionären Reformismus“, von Bauer intendiert als Fortsetzung des Klassenkampfes mit demokratischen Mitteln zur Erreichung des revolutionären Endziels.

Eine zeitweilige Renaissance erlebte die Theorie der finalen Krise des Kapitalismus durch die Große Depression der 30er Jahre. Tatsächlich war es aber nicht die sozialistische Alternative, welche durch die Wirtschaftsdepression politischen Auftrieb erhielt, sondern der Faschismus, der auch in Österreich den sozialdemokratischen Hoffnungen ein gewaltsames Ende bereitete.

Im Unterschied zu Bauer hatte Karl Renner schon während des Ersten Weltkriegs ein Lassal leanisches Modell des Staatssozialismus konzipiert, das auf den langfristigen Ausbau eines „demokratischen Wirtschaftsstaates“ ausgerichtet war.87 Das Wort „Klassenkampf“ behielt Renner zwar bei, gab ihm aber eine andere, nicht-revolutionäre Bedeutung im Sinne eines permanenten Interessenkonflikts zwischen Arbeit und Kapital, der im rechtlichen Rahmen mit rechtlichen Mitteln durch Verhandlungen ausgetragen wird. Ob diese Konzeption angesichts der tiefgehenden Feindschaft maßgeblicher Teile des Bürgertums in der ersten österreichischen Republik eine Chance gehabt hätte, erscheint höchst zweifelhaft. 1945 wurde Renner zum Neugründer der „2. Republik“, seine Konzeption zu deren inoffizieller Staatsphilosophie.


Guiseppe Pellizza da Volpedo, Der Vierte Stand, 1901.

In einem Punkt seiner politischen Strategie sollte Engels für Österreich Recht behalten. Er warnte die Sozialdemokraten entschieden davor, mit dem Gedanken einer bewaffneten Rebellion zu spielen, die beim fortgeschrittenen Stand der Kriegstechnik mit einer Niederlage der Aufständischen enden und die Bewegung um Jahrzehnte zurückwerfen würde. Die deutschen Sozialdemokraten warnte er, sich von der Reaktion zur Rebellion oder auch nur zu einer Rhetorik der Gewaltbereitschaft provozieren zu lassen. Es war eine provokative Aktion der faschistischen Heimwehr, welche im Februar 1934 einen bewaffneten Aufstand des Republikanischen Schutzbundes auslöste, die mit einer katastrophalen Niederlage endete und der christlich-sozialen Regierung den seit längerem schon gesuchten Anlass bot, Österreich in einen autoritären Ständestaat umzuwandeln.

Friedrich Engels

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