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4. Bastian SICK und die Tradition

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Was wär’ ich ohne dich? – Nur Regen über‘m Meer. Was wär’ ich ohne dich? – Ein Brunnen, kalt und leer. (ICH & ICH: Was wär’ ich ohne dich)

Vor dem Hintergrund des im vorangegangenen Kapitel Dargestellten ist es nicht schwer, das Werk Bastian SICKS historisch einzuordnen: SICK ist der WUSTMANN unserer Zeit. Dieser Vergleich rechtfertigt sich schon dadurch, dass auch SICK die Tradition der pointierten Sprachglosse pflegt. Und wie schon bei WUSTMANN sind auch seine Bücher einfach Kompilationen von Zeitschriftenbeiträgen. Allerdings sind SICKS Kompilationen noch unsystematischer und sprunghafter als bei WUSTMANN, was SICK auch freimütig einräumt: In der Einleitung zum ersten Band schreibt er, sein Buch sei „kein Lehrbuch, allenfalls ein lehrreiches Buch. Sie können es von vorn nach hinten lesen oder von hinten nach vorn oder einfach irgendwo mittendrin anfangen“ (S. 15).1

Wie so viele heutige Sprachkritiker ist auch SICK ein ‚Laie‘, und zwar ein Journalist, jedoch kein Germanist, weder ein studierter noch ein professioneller. Nach eigenen Angaben hat er „Geschichte und Französisch studiert“ und ist „über Umwege zum Kolumnenschreiben gekommen“ (S. 18).

Ein gewisser Unterschied zu WUSTMANN besteht darin, dass SICK sich zuweilen um differenzierte, gemäßigte Stellungnahmen bemüht. So heißt es in der Einleitung zum ersten Band:

Eine lebende Sprache lässt sich nicht auf ein immergültiges, fest zementiertes Regelwerk reduzieren. Sie ist in ständigem Wandel und passt sich veränderten Bedingungen und neuen Einflüssen an. Darüber hinaus gibt es oft mehr als eine mögliche Form. Wer nur die Kriterien richtig oder falsch kennt, stößt schnell an seine Grenzen, denn in vielen Fällen gilt sowohl das eine als auch das andere.

Daher kann und will ich mir auch nicht anmaßen, in diesem Buch absolute Wahrheiten zu verkünden. Meine Texte sprechen allenfalls Empfehlungen aus. Die muss nicht jeder teilen, manchmal weichen sie sogar von dem ab, was in einigen Grammatikwerken steht. Wenn ich mich mit einer gedankenlosen Sprachmode auseinander setze, bedeutet dies nicht gleich, dass ich ihre vollständige Abschaffung verlange. Mir geht es vor allem darum, das sprachliche Bewusstsein zu schärfen und meine Leser zu ermutigen, nicht alles widerspruchslos hinzunehmen, was ihnen an bizarren Formulierungen in den Medien, in der Werbung, in der Politik, im Geschäfts- und Amtsdeutsch geboten wird.“ (S. 18f.)

Dies sind allerdings nur hehre Vorsätze. In den weiteren Darlegungen lässt sich SICK zu denselben subjektiv-ästhetischen Wertungen, abenteuerlichen Etymologien und widersprüchlichen Argumentationen hinreißen, die auch für WUSTMANNS Werk so charakteristisch sind. Darauf werde ich in Kapitel 6 ausführlicher zu sprechen kommen. Hier möchte ich zunächst an einigen Beispielen illustrieren, wie stark Bastian SICK der normativ-grammatischen bzw. sprachkritischen Tradition verpflichtet ist:

In seiner Glosse „Schrittweise Zunahme der Adjektivierung“ kritisiert SICK den Gebrauch der auf -weise endenden Adverbien als Adjektive (S. 116–119): etwas nimmt schrittweise zudie schrittweise Zunahme, Entsprechendes lesen wir schon bei WUSTMANN (1891: 212–215) und BLÜMNER (1892: 44f.), doch stehen auch diese Autoren in einer älteren Tradition: Schon ADELUNG (1801: Sp. 1464) mokiert sich über diese Bildung „wider die Analogie“. Differenziertere Ausführungen zu dieser Erscheinung bietet hingegen bereits HEYSE (1838: 829).

Im Aufsatz „Brutalstmöglichst gesteigerter Superlativissimus“ geißelt SICK die heutige „Superlativierungs-Euphorie“ in Politik und Werbung, die zu pleonastischen Steigerungen wie bestangezogenster Filmstar statt bestangezogener Filmstar führe (S. 48–52). In analoger Weise nimmt schon WUSTMANN (1891: 67f.) Formen wie größtmöglichst aufs Korn.2 Entsprechendes findet sich auch bei JANCKE (1936: 135f.), welcher sich anständigerweise auf WUSTMANN beruft. Vergleichbare Ausführungen bieten etwa auch HALLWASS (1966: 196f.)/(1979: 295) oder HIRSCH (1988b: 123f.). So ganz neu ist die Superlativierungs-Euphorie also nicht. Tatsächlich nahm sogar schon HEYNATZ (1796: 350) hieran Anstoß:

„Der Superlativ einzigste für einzige ist ein häßliches Geschöpf. Diejenigen, denen es noch nicht häßlich genug ist, sagen der allereinzigste dafür.“

Ein Lieblingsthema von SICK ist der Hinweis darauf, dass die Partizipform gewunken nicht korrekt gebildet sei (S. 195, 481, 491), denn: „Wäre ‚winken‘ ein unregelmäßiges Verb, müsste es im Präteritum auch ‚wank‘ heißen, so wie bei ‚sinken, sank, gesunken‘“ (S. 491). Bereits SANDERS (1880: 338) hat die Form gewunken als „nicht nachahmungswerth“ deklariert.3 Die Kritik an ‚falsch gebildeten Verbformen‘ ist in der normativen Stilistik beliebt. WUSTMANN (1891: 69–72) kritisierte die Präteritumform frug statt fragte,4 und er konnte sich hierbei u.a. auf GRIMMS WÖRTERBUCH (1878: Spalte 49f.) berufen, in welchem diese Form als ‚höchst unorganisch‘ gebrandmarkt wird. Das Problem diskutierte auch schon ADELUNG (1787a: 68), wenn auch auf differenziertere Weise (vgl. Kap. 2).5 In der neueren Literatur behandelt das Beispiel fragen–frug etwa LEONHARDT (1986: 99f.), und er bedient sich hierbei derselben analogistischen Argumentation wie SICK.–Déjà vu.

Und auch wenn SICK die Verbindung der Präposition in mit einer einfachen Jahreszahl (Ich wurde in 1965 geboren) als modernen Anglizismus verurteilt (S. 723), kommt er ein wenig zu spät. Schon ANDRESEN (1880: 255) und WUSTMANN (1891: 280) kritisieren diese Konstruktion als ‚fremd‘ bzw. ‚nicht deutsch‘; bei KELLER-HAUFF (1886: 75) wird sie gar „zu den widerlichsten Gallizismen“ gerechnet – was die nicht ganz uninteressante Frage aufwirft, welche Sprache denn nun das Deutsche mit dieser Wendung bereichert hat. Wir werden es wohl nie erfahren.6

Die Liste dieser Beispiele könnte mühelos fortgesetzt werden, und einige weitere sollen auch in Kapitel 6 noch zur Sprache kommen. Einstweilen mögen diese Exempel jedoch genügen. Sie illustrieren, wie stark SICK der sprachkritischen Tradition verpflichtet ist. Gleichwohl schweigt er sich über diese Tradition beharrlich aus. Die Namen seiner sprachkritischen Vorgänger suchen wir in seinen Werken vergebens. Stattdessen mimt er den Originellen:

„Lehrbücher über die deutsche Sprache gibt es viele. Aber nur wenige davon werden freiwillig gelesen. Das liegt vermutlich an ihrer Rezeptur: größtmögliche Akribie und pädagogischer Eifer, geringstmöglicher Unterhaltungswert. Dieses Buch ist anders.“ (S. 15)

Leider vergisst SICK zu erwähnen, dass seit WUSTMANNS Zeiten im deutschen Sprachraum zahlreiche sprachkritische Glossensammlungen veröffentlicht wurden, die in genau derselben Weise ‚anders‘ sind. Die Originalität seiner Darlegungen konvergiert gegen Null. Nicht einmal die Aufbereitung seiner Regeln und Empfehlungen in Quizform, die er teils in seinen Büchern praktiziert, die aber vor allem in mehreren auf diese Bücher gestützten Spielen vorgenommen wurde, ist etwas Neues. Seit den 1960er Jahren hat Edith HALLWASS mehrere Bücher mit solchen Quizfragen veröffentlicht (z.B. HALLWASS 1966, 1992). Neu an dem ‚Phänomen Bastian SICK‘ ist wohl lediglich das Marketing, das in Deutschland fast schon die Dimensionen der Hannah-Montana-Verramschung erreicht. Ansonsten könnte man SICK allenfalls insofern eine gewisse Originalität bescheinigen, als er bemüht ist, in seine Glossen Geschichten einzubinden. Jedenfalls scheint er selbst hierin einen wichtigen Vorzug zu sehen:

„Da die Rolle des grimmigen Erbsenzählers und desillusionierten Sprachzynikers, der den Untergang des Abendlandes für unausweichlich hält, bereits von zahlreichen anderen Autoren besetzt ist, versuchte ich es als ironischer Geschichtenerzähler.“ (S. 15)

Nun sind aber gerade diese Geschichten oft das Albernste und Entbehrlichste an den SICKschen Glossen. Zumeist basiert ihr Handlungsstrang schlicht darauf, dass zwei Personen beisammen sind oder zusammenkommen, von denen die eine etwas ‚Dummes‘ sagt, also ganz nach dem beliebten Witz-Schema: ‚Treffen sich zwei Männer; sagt der eine:…‘ — Meisterwerke der Erzählkunst sind das wahrlich nicht.

Dass uns SICK seine Vorgänger verschweigt, ist an sich nichts Ungewöhnliches. Gerade im Genre der Sprachglosse ist das Abschreiben gängige Praxis.7 Und das ist im Grunde auch gar nicht so schlimm. Schließlich wollen diese Glossen keine wissenschaftlichen Abhandlungen sein, sondern unterhaltsame Reflexionen, die nicht mit einem umfangreichen Belegstellenverzeichnis gespickt sein müssen. Wenn allerdings Bastian SICK wiederholt und auf ziemlich penetrante Weise die Originalität und Andersartigkeit seiner Werke hervorhebt, handelt er unredlich, und das gehört auch im Genre der Sprachkritik nicht zum guten Ton.8

Es sei im Übrigen angemerkt, dass es viele Sprachkritiker gibt, die nicht davor zurückscheuen, ihre Quellen anzuführen und auf Vorgänger zu verweisen. Dies gilt z.B. für Helmut SEIFFERT (1977), Edith HALLWASS (1979), Wolf SCHNEIDER (1984) oder Dieter E. ZIMMER (1986).

Wenn SICK überhaupt einmal Philologen erwähnt, dann allenfalls berühmte Persönlichkeiten wie Jacob GRIMM. Und auch hier ist sein Wissen oft semi-enzyklopädisch. Kleine Kostprobe:

„Jacob Grimm war nicht nur ein berühmter Märchensammler, sondern auch ein bedeutender Sprachwissenschaftler. Mit seinem ‚Deutschen Wörterbuch‘ legte er den Grundstein für die Vereinheitlichung der deutschen Sprache.“ (S. 96f.)

Ausgerechnet das rein wissenschaftlich-sprachhistorisch angelegte GRIMMsche Wörterbuch soll die Vereinheitlichung der deutschen Sprache eingeleitet haben? Gewiss hat dieses Wörterbuch eine symbolische Bedeutung bei der Förderung des deutschen Nationalbewusstseins gehabt. Wenn es aber um lexikographische Beiträge geht, die die Vereinheitlichung der deutschen Sprache gefördert haben, dann sind wohl die Verdienste etwa von Kaspar von STIELER, Johann Christoph ADELUNG, Daniel SANDERS oder Konrad DUDEN weitaus höher zu bewerten als die von Jacob GRIMM.9Von den Leistungen dieser Persönlichkeiten weiß uns SICK aber nichts zu berichten.

SCHOPENHAUER hat einmal in treffender Weise die Auffassung aufs Korn genommen, dass die neuesten Publikationen immer die besten seien:

„Wer über einen Gegenstand sich belehren will, hüte sich, sogleich nur nach den neuesten Büchern darüber zu greifen, in der Voraussetzung, daß bei Abfassung dieser die ältern benutzt worden seien. Das sind sie wohl; aber wie? Der Schreiber versteht oft die ältern nicht gründlich, will dabei doch nicht geradezu ihre Worte gebrauchen, verballhornt und verhunzt daher das von ihnen sehr viel besser und deutlicher Gesagte; da sie aus eigener und lebendiger Sachkenntnis geschrieben haben. Zudem will er es wohl noch gar besser verstehn, als sie, und setzt seine Irrthümer an die Stelle ihrer Wahrheiten.“ (SCHOPENHAUER 1851: 422)

Diese Bemerkungen können mühelos auf Bastians SICKS Sprachkritik übertragen werden. Gut illustrieren lässt sich dies anhand seiner Belehrung darüber, was Anglizismen seien. Bevor diese hier vorgestellt wird, empfiehlt es sich jedoch, einige Ausführungen von Max GOLDT zu zitieren, da SICK diesen stark verpflichtet ist:

In seinem Aufsatz „Was man nicht sagt“ unterscheidet Max GOLDT im Bereich der Anglizismen (dem Sinne nach) zwischen Lehnwörtern und Lehnübersetzungen:

„Viel geklagt wird hierzulande über die bösen Anglizismen. Dumm daran ist, daß man zwei verschiedene Erscheinungen so nennt. Einmal unübersetzt aus dem Englischen übernommene Vokabeln, zum anderen Lehnübersetzungen. Es wäre besser, wenn man Ausdrücke wie ‚Bachelor‘ oder ‚Hardcover‘ als englische Fremdwörter bezeichnete und den Begriff Anglizismus auf Entlehnungen wie ‚Sinn machen‘, ‚in 2002‘ oder ‚nicht wirklich‘ beschränkte.“ (GOLDT 2004: 53f.)

Im Weiteren führt GOLDT aus, dass er die „marottenhafte Verwendung bestimmter Übersetzungen“ als viel störender empfinde als den gelegentlichen Gebrauch englischer Wörter.10 Diese Einschätzung GOLDTS muss hier nicht weiter diskutiert werden.

Bastian SICK ist zweifellos mit den sprachkritischen Beiträgen GOLDTS vertraut. In seiner Glosse „Stop making sense!“ beruft er sich auch explizit auf GOLDT und dessen Kritik an dem Anglizismus Sinn machen (S. 54).11 In seinem Aufsatz „Was meint eigentlich Halloween?“ erwähnt SICK seinen Kollegen nicht, doch zeigen auch die dortigen Ausführungen so auffallende Ähnlichkeiten mit GOLDTS Darlegungen, dass von einer stillschweigenden Ideen-Aneignung ausgegangen werden darf:

„Was genau sind Anglizismen? Wörter wie ‚Sale‘, ‚U-Turn‘ und ‚Chicken Wings‘ sind englische Fremdwörter. Anglizismen sind etwas anderes: Frühe Vögel zum Beispiel. Oder Dinge, die eine Meinung haben. Kürbisse mit Fratzen. Und Rehe mit Hirschgeweih.

Unter einem Anglizismus versteht der Sprachwissenschaftler ein sprachliches Muster, das aus dem Englischen übernommen wurde und auf den ersten Blick gar nicht unbedingt als englisch zu erkennen ist. Eine Redewendung wie ‚Der frühe Vogel fängt den Wurm‘ zum Beispiel ist ein Anglizismus. Sie entstand durch Übersetzung aus dem Englischen („The early bird catches the worm“) und kommt nun als scheinbar deutsche Weisheit daher. Die deutsche Entsprechung lautet nämlich ganz anders: ‚Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.‘“ {Bastian SICK: „Was meint eigentlich Halloween?“ Glosse vom 31.10.2006. [http://www.spiegel.de/kultur/zwiebelfisch/0,1518,443346,00.html] Zitiert auch von MEINUNGER (2008: 146)}

Man beachte freilich die Unterschiede: GOLDT trifft die sachlich zweifellos angemessene Unterscheidung zwischen Lehnwörtern und Lehnübersetzungen (welche natürlich auch der Sprachwissenschaft nicht fremd ist)12 und knüpft hieran einen terminologischen Vorschlag.13 SICK hingegen macht diesen Vorschlag zur Norm und verkauft ihn auch noch als vorherrschende Auffassung der Sprachwissenschaft. Mit Recht hat MEINUNGER (2008: 146f.) eingewandt, dass diese terminologische Regelung keineswegs die gängige Praxis der Sprachwissenschaftler widerspiegelt, SICKS Ausführungen hierzu also schlicht falsch sind.

Wie schon Bastian SICK so schön wie schon GOETHE sagte:

„Sollte am Ende jemand einwenden, dass die Themen, mit denen sich dieses Buch befasst, nicht neu seien und dass sich vor mir schon viele andere Autoren über guten Stil und korrektes Deutsch Gedanken gemacht hätten, so werde ich ihm nicht widersprechen. Das kann aber kein Grund sein, deswegen nicht mehr über Sprache zu schreiben. Denn wie Goethe schon sagte: ‚Man muss das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird.‘“ (S. 246)

Sehr hübsch. Nur sollte man bei der Wiedergabe des Wahren auch darauf achten, dass es zu keinen gravierenden inhaltlichen Fehlübertragungen kommt.

Die Abhängigkeit SICKS von den Ausführungen GOLDTS erkennt MEINUNGER im Übrigen nicht. Dies ist nicht überraschend, denn er pflegt ohnedies nicht darüber zu reflektieren, in welchen Traditionen SICK und er selber zu verorten sind. Ich werde hierauf in Kapitel 6 zu sprechen kommen.

Bewusstes Verschweigen von Vorgängern und Inspirationsquellen, teils aber wohl auch Unkenntnis der Tradition – das sind charakteristische Züge der SICKschen Sprachkolumnen. Es fragt sich nun, wie es diesbezüglich um seinen Antipoden André MEINUNGER bestellt ist. Bevor ich auf diese Frage eingehe, wird es allerdings notwendig sein, auf die Tradition der Kritik an der normativen Stilistik einzugehen.

Sprache, Stil und starke Sprüche

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