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1. Weit ist das Feld, und das Gehirn ist eng

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Heute findet jede Zeitung größere Verbreitung durch Musikkritiker. Und so hab’ auch ich die Ehre und mach’ jetzt Karriere als Musikkritiker. Ich hab’ zwar ka Ahnung, was Musik ist, denn ich bin beruflich Pharmazeut. Aber ich weiß sehr gut, was Kritik ist: Je schlechter, umso mehr freu’n sich die Leut’. (GEORG KREISLER: Musikkritiker)

Dieses Buch ist eine Streitschrift, die ich verfasst habe, um meinem Ärger Luft zu machen. Ich ärgere mich über die nun schon mehrere Jahre währende Kontroverse um Bastian SICKS ‚Zwiebelfisch‘, genauer gesagt: über deren oft erschreckend niedriges Niveau. Mein Groll richtet sich hierbei gar nicht vorrangig gegen Bastian SICK. Zwar scheint es mir – gelinde gesagt – befremdlich, dass ausgerechnet er in den Rang eines Sprachpapstes hineingewachsen ist, obwohl es im Bereich der Sprachkritik diverse Autoren gibt (z.B. Wolf SCHNEIDER, Eike Christian HIRSCH oder Max GOLDT), die ihn sowohl argumentativ als auch stilistisch deutlich übertrumpfen, doch sehe ich hierin nicht das eigentliche Übel. Viel schlimmer finde ich, was in letzter Zeit von einigen Vertretern meiner Zunft, der Sprachwissenschaft, über SICKS Werke und die Sprachkritik insgesamt geäußert wurde. Man sollte annehmen, dass gerade Sprachwissenschaftler1 in der Lage seien, sich zu den von SICK angesprochenen Fragen besonders fundiert zu äußern. In bestimmten Fällen trifft dies auch zu. Doch gerade wenn es um grundsätzliche Fragen nach Sinn und Wert der Sprachkritik geht, weisen die aktuellen Äußerungen von sprachwissenschaftlicher Seite zuweilen eine Schlichtheit auf, die an Dummheit grenzt. Besonders krasse Beispiele für diese Unbedarftheit finden sich in der Monographie Sick of Sick? von André MEINUNGER. Deshalb wird gerade dieses Werk hier eingehender behandelt. Allerdings sind die MEINUNGER schen intellektuellen Entgleisungen kein Einzelfall. Wie im Folgenden noch an verschiedenen Beispielen illustriert wird, argumentieren viele Sprachwissenschaftler sehr ähnlich wie er. MEINUNGER vertritt gewissermaßen einen Typus, nämlich den modernen – dem Strukturalismus verbundenen – Linguisten. Ein solcher Linguist aber ist im Hinblick auf Fragen der Sprachkritik ungefähr ein so ausgewiesener Fachmann wie ein Mikrobiologe im Hinblick auf Fragen der Hundehaltung. Diese Feststellung bedarf gewiss der Erläuterung. Daher sei hier in knapper Form diese Richtung der modernen Sprachwissenschaft skizziert:

Die moderne strukturalistische Sprachwissenschaft (Linguistik) verfolgt das Ziel, mit Hilfe formalisierter (oft logikbasierter, algorithmisierter) Darstellungen die in natürlichen Sprachen geltenden Regularitäten zu beschreiben. Die Arten und auch Ziele der Darstellung können hierbei erheblich variieren. So kann man sich beispielsweise zum Ziel setzen, das intuitive Wissen über den Gebrauch von sprachlichen Ausdrücken und grammatischen Strukturen zu beschreiben, über das etwa die Sprecher des Deutschen verfügen. Eine solche Zielsetzung impliziert eine Nähe zur kognitiven oder psychologischen Forschung. Man kann aber etwa auch anstreben, eine formal exakte und widerspruchsfreie grammatische Beschreibung einer Sprache zu entwickeln, die sich als Computerprogramm implantieren lässt. Ein solcher Ansatz führt in den Bereich der Informatik und Computerlinguistik.

Die methodischen Voraussetzungen und die Beschreibungsverfahren konstituieren das, was man als die jeweilige ‚Theorie‘ eines Ansatzes bezeichnen kann. Tatsächlich sind Linguisten oft mehr an diesen Theorien interessiert als an den zu beschreibenden Daten. Und es ist charakteristisch für die modernen linguistischen Strömungen, dass diese Theorien sich rasch wandeln. Dies bringt es mit sich, dass Linguisten oft sehr aktualitätsorientiert sind: Wenn sich ein moderner Linguist für ein bestimmtes Phänomen interessiert, ist es für ihn am wichtigsten, die allerneuesten Beiträge hierzu zu studieren, selbst wenn diese nur in Form von ‚Papers‘ als Konferenzbeiträge vorliegen. Hingegen interessiert es ihn nicht, ob sich etwa ein Grammatiker des 18. Jahrhunderts oder gar ein Rhetoriker der Spätantike bereits hierzu geäußert hat. Mit anderen Worten: Moderne Linguisten sind typischerweise ausgesprochen traditionsblind.

Mit diesen Bemerkungen ist ein Typus skizziert; es handelt sich gewiss nicht um eine Beschreibung, die auf alle modernen Linguisten zutrifft. Dennoch handelt es sich um weitaus mehr als eine bloße Karikatur. Namentlich die Traditionsblindheit ist in der heutigen Linguistik weit verbreitet und wird nicht selten sogar zum Programm erhoben, was oft mit einer hochmütigen Überbewertung der Errungenschaften der ‚neuen‘ Sprachwissenschaft einhergeht. So behauptete beispielsweise der englische Linguist Derek BICKERTON 1990 allen Ernstes, das meiste, was wir über Sprache wissen, sei erst innerhalb der letzten drei Jahrzehnte erforscht worden (1990: 5). Und sogar der in vieler Hinsicht so vernünftig und ausgewogen argumentierende Philosoph Wolfgang STEGMÜLLER erlag einem derartigen Neuheitsirrglauben. In seinen Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie behandelt er unter anderem neuere Entwicklungen der Linguistik und Sprachphilosophie, und in diesem Zusammenhang geht er auch auf die viel beachtete Sprechakttheorie von John Langshaw AUSTIN ein, in welcher Äußerungen als spezifische Arten von Handlungen analysiert werden. AUSTINS Werk wird hierbei als gänzlich eigenständiger Neubeginn gepriesen und scharf von der Tradition abgesetzt:

„Eigentlich ist es ein Skandal. Und zwar ist es ein beschämender Skandal für alle diejenigen, welche sich in den letzten 2500 Jahren in irgendeiner Weise mit Sprachen beschäftigten, daß sie nicht schon längst vor J. L. Austin dessen Entwicklung machten, deren Essenz man in einem knappen Satz ausdrücken kann: Mit Hilfe von sprachlichen Äußerungen können wir die verschiedensten Arten von Handlungen vollziehen.“ (STEGMÜLLER 1987: 64f.)

Wirklich? – Hätte STEGMÜLLER sich für die Rhetorik interessiert, hätte er feststellen können, dass der Skandal wohl doch nicht ganz so groß ist, dass vielmehr bereits QUINTILIANUS in seiner im ersten Jahrhundert n. Chr. verfassten Rhetorik (in Buch IX) diverse ‚Gedankenfiguren‘ behandelt, und zwar unter anderem (,rhetorische‘) Fragen (interrogatio), Äußerungen des Zweifels (dubitatio) sowie Ausrufe (exclamatio) (vgl. QUINTILIANUS [1975: 271–281]). Dies ist aber nichts anderes als ein Ansatz zu einer Klassifikation und Analyse sprachlicher Handlungen.

Die Beschäftigung mit Sprechhandlungen ist somit keineswegs neu. Sie zieht sich vielmehr durch die gesamte rhetorische Tradition und ist auf diesem Wege fester Bestandteil der europäischen Sprachkultur geworden, wo sie beispielsweise in den Interpunktionslehren reflektiert wurde. So sind etwa Zeichen zur Markierung von Frage- und Ausrufesätzen bereits in den deutschen Interpunktionslehren des 16. Jahrhunderts üblich (vgl. etwa RIEDERER 1517).

Nur wer diese Tradition nicht reflektiert, kann die Sprechakttheorie des 20. Jahrhunderts allen Ernstes zu etwas ‚völlig Neuem‘ erklären.

Die Traditionsblindheit der modernen Linguistik geht oft einher mit einem Aktualitätsfanatismus. Ganz in diesem Sinne pflegt etwa ein Linguistik-Professor, bei dem ich studiert habe, zu sagen, dass die ‚Halbwertszeit‘ moderner linguistischer Arbeiten bei etwa fünf Jahren läge, dass also aufgrund des Theorienwandels die Hälfte der gegenwärtigen linguistischen Studien bereits in fünf Jahren veraltet und hinfällig sein werde. Und dies wird von ihm als Positivum gewertet; es spiegele nur den Umstand wider, dass die Linguistik eine lebendige, schnell evolvierende Wissenschaft sei. – Eine solche Sichtweise reduziert die Beschäftigung mit der Forschungstradition auf ein nettes, aber entbehrliches Steckenpferd.

Es sei betont, dass es auch heute noch Sprachwissenschaftler mit einem ausgeprägten historisch-philologischen Bewusstsein gibt. Hierzu gehören beispielsweise Harald WEINRICH, Helmut GLÜCK, Ludwig JÄGER und Rudi KELLER. Letzterer bemerkte im Übrigen zur oben paraphrasierten Aussage BICKERTONS ebenso treffend wie süffisant, diese könne nur dann richtig sein, wenn sie als autobiographische Feststellung gemeint sei (2009: 9).

Derlei Ausnahmen ändern jedoch nichts daran, dass die Traditionsblindheit ein vorherrschender Zug der modernen Linguistik ist. Der typische moderne Linguist ist so etwas wie ein Ingenieur, ein hoch spezialisierter Theorienkonstrukteur, der sich für tiefere philologische Grundlagen nicht interessiert, mit einem Wort: ein Fachidiot. Daran gibt es eigentlich auch gar nichts auszusetzen, solange solche Linguisten unter sich bleiben und sich mit Fragen befassen, für deren Beantwortung sie qualifiziert sind. Eine derartige Selbstbescheidung ist aber nicht eines jeden Linguisten Zier. Manche Linguisten wagen sich mit der Attitüde des Experten auch in Bereiche vor, für die ihnen die erforderlichen Kenntnisse fehlen, und gerade die Sprachkritik ist ein solcher Bereich. Wer keine traditionell-philologische Bildung hat, sollte in diesem Gebiet lieber nicht allzu forsch auftreten, da er sonst leicht Gefahr läuft, sich zu blamieren. Eben dies ist André MEINUNGER passiert.

Besonders ärgerlich wird es nun aber, wenn moderne Linguisten ihre eigene beschränkte fachliche Wahrnehmung zum Maß aller Dinge erklären und in imperialistischer Manier festlegen, was in ‚der‘ Sprachwissenschaft erlaubt sei und was nicht, was ein ‚seriöser‘ Sprachwissenschaftler zu tun und was er zu unterlassen habe. Gerade so etwas ist nun von MEINUNGER und anderen in der letzten Zeit wiederholt vorgetragen worden. Um der Sache besonderen Nachdruck zu verleihen, wurden diese Forderungen oft noch garniert mit einer gehörigen Portion Gutmenschentum in der Weise, dass wissenschaftlich seriöses Verhalten gleichgesetzt wurde mit politisch korrektem Verhalten.

Dies ist der (fach-)historische Hintergrund, vor dem MEINUNGERS anti-sprachkritisches Werk zu sehen ist. Für mich als Sprachwissenschaftler ist dieses Werk eine Herausforderung, ja eine Zumutung, da hier in anmaßender Form versucht wird, die Handlungsspielräume für Linguisten einzuschränken. Die Anmaßung reicht sogar noch viel weiter: Wer behauptet, dass Sprachkritik sachlich unangemessen und unberechtigt, ja sogar moralisch fragwürdig sei, erhebt letztlich die Forderung, dass sich jeder ‚vernünftige Mensch‘ dieser Tätigkeit zu enthalten habe. Sprachkritiker werden somit abgestempelt als unbelehrbare und rückständige Querulanten, die in einer modernen und toleranten Gesellschaft kein Gehör finden sollten. Gerade diese ebenso boshafte wie verantwortungslose Diffamierung der Sprachkritik ist der eigentliche Grund meiner Verärgerung.

Ärger ist zwar ein durchaus brauchbarer Schreibanlass, aber er fördert nicht gerade die Ausgeglichenheit der Darstellung. In der Tat ist der Ton dieses Buches nicht immer moderat, aber das ist von einer Streitschrift wohl auch nicht zu erwarten. Ich habe mich jedoch bemüht, meine Argumente ausführlich zu entwickeln und durch detailliertere sachliche Darlegungen zu fundieren. In stilistischer Hinsicht war ich bestrebt, meine Arbeit origineller und unterhaltsamer abzufassen, als dies bei wissenschaftlichen Arbeiten üblich ist. Gerade bei diesem Thema wäre ein ganz trockener akademischer Stil auch ziemlich deplatziert.

Des Weiteren habe ich mich bemüht, nur die unbedingt notwendigen Fachwörter zu gebrauchen und die weniger bekannten von ihnen bei ihrer erstmaligen Verwendung zu definieren. Darüber hinaus findet sich im Anhang zu diesem Buch ein Glossar, in welchem die wichtigsten hier gebrauchten Termini erläutert werden. Somit sollten die Darlegungen für jeden Sprachinteressierten nachvollziehbar sein.

Ursprünglich hatte ich einen anderen Titel für dieses Buch vorgesehen: ,Sick of SICK‘ und einverstanden mit MEINUNGERS Meinungen? Ich wollte damit auf das einigermaßen peinliche Namenwortspiel reagieren, das MEINUNGER im Titel seines Werks gebraucht. Glücklicherweise konnten mich jedoch einige weise Menschen dazu überreden, auf diese Albernheit zu verzichten. Bleibt zu hoffen, dass es mir auch für den Rest des Buches gelungen ist, solche Entgleisungen zu vermeiden.

Für hilfreiche Anregungen und Diskussionen bedanke ich mich bei Ingeborg FIALA-FÜRST, Helmut GLÜCK, Birgit GUNSENHEIMER, Jörg und Marie KRAPPMANN, Franz STARK sowie Klaus WERNER. Mein besonderer Dank gilt Jasmine STERN von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft für die sehr angenehme und effektive Zusammenarbeit.

In dem Kapitel „Der Täter als Opfer“ seines Buches Unter Linken analysiert Jan FLEISCHHAUER in brillanter Weise die moderne Tendenz, jedes individuelle Fehlverhalten als Ausfluss einer Milieuschädigung oder einer anderweitig misslungenen Sozialisierung zu deuten (2009: 217–247). Auch ich möchte mich dieser Denkweise nicht verschließen: Verbliebene Mängel und Irrtümer meines Buches sind selbstverständlich nicht mir anzulasten, sondern allen, die mich erzogen und ausgebildet haben; sie hätten sich ja schließlich etwas mehr Mühe geben können.

Olmütz, im Januar 2011 Karsten Rinas
Sprache, Stil und starke Sprüche

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