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5. (Kritik)2 – Die Tradition der Sprachkritikkritik

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Ein Kritiker, der Kritik nicht verträgt, der Noten verteilt und seine Gründe unterschlägt. (STOPPOK: Dumpfbacke)

Bereits in Kapitel 3 wurde dargelegt, dass es in der Sprachwissenschaft seit Jacob GRIMMS Auftreten eine starke Tendenz gab, normative Bemühungen abzulehnen und zu verurteilen. Ende des 19. Jahrhunderts erlebte dieser Konflikt zwischen Sprachpflege und deskriptiver Sprachwissenschaft seinen Höhepunkt, da der ungeheure Erfolg der WUSTMANNschen Sprachdummheiten auch viele Sprachwissenschaftler zu Stellungnahmen provozierte. Die Aufarbeitung der Rezeption dieses Buches in der Sprachwissenschaft wäre ein Thema, das einer Dissertation würdig wäre.1 Wir müssen uns hier auf die Nennung einiger wichtiger Beiträge beschränken:

Schon sehr bald nach der Veröffentlichung der Sprachdummheiten ist eine ganze Reihe von Arbeiten entstanden, die unmittelbare Repliken auf dieses Werk darstellen und hierbei oft ausführlich und differenziert argumentieren. (Einige Argumente aus diesen Arbeiten sollen im nächsten Kapitel präsentiert werden.) Zu diesen Repliken gehören etwa die Beiträge von MINOR (1892), ERBE (1892), BLÜMNER (1892), DR. X. (1892), KAERGER (1892), SCHMITS (1901[1892]), BEHAGHEL (1893) u. (1894), TAPPOLET (1898) und ROEDDER (1904).

Darüber hinaus gibt es zahlreiche sprachwissenschaftliche Arbeiten, in denen sporadisch Auffassungen WUSTMANNS diskutiert werden. Hierzu gehören etwa WUNDERLICH (1892) u. (1894), ERDMANN & MENSING (1898) oder BEHAGHEL (1900).

Nach dieser sehr intensiven Diskussion über WUSTMANNS Werk ist in der Sprachwissenschaft das Interesse an einer Auseinandersetzung mit der Sprachkritik zurückgegangen. Ganz erloschen ist es jedoch nie. Einige Beispiele mögen dies illustrieren:

Als Eduard ENGEL 1911 seine Stilkunst vorlegte, fand diese ein großes Echo, allerdings vornehmlich in den Feuilletons der Zeitungen.2 Es gab jedoch auch einige Besprechungen von Fachleuten; vgl. etwa MEYER (1912).

Die Stillehre von Ludwig REINERS war wiederholt Gegenstand kritischer Auseinandersetzungen. Besonders hervorzuheben ist hier das Buch Gutes Deutsch? von Reinhard M. G. NICKISCH (1975). In dieser Arbeit diskutiert NICKISCH neben dem Werk von REINERS noch drei weitere Stillehren (von Broder CHRISTIANSEN, Wilfried SEIBICKE und Georg MÖLLER). Außerdem plädiert er nachdrücklich für eine – reformierte – praktische Stilistik als Bestandteil der Germanistenausbildung.

Generell wandten sich die Germanisten nach dem Zweiten Weltkrieg wieder verstärkt Fragen der Sprachpflege und -kritik zu, nicht zuletzt wohl auch im Kontext der ‚sprachlichen Vergangenheitsbewältigung‘, wie sie etwa in dem 1957 erschienenen Wörterbuch des Unmenschen von STERNBERGER, STORZ und SÜSKIND angestrebt wurde.3 Symptomatischer Ausdruck für die damalige wissenschaftliche Aktualität dieses Themas ist der 1968 veröffentlichte, von Hugo MOSER herausgegebene IDS-Sammelband Sprachnorm, Sprachpflege, Sprachkritik, in welchem neben Sprachwissenschaftlern wie Paul GREBE und Peter von POLENZ auch die Sprachkritiker Karl KORN und W. E. SÜSKIND als Beiträger vertreten sind.

Es gab allerdings auch andere Tendenzen:

Das seit Jacob GRIMMS Wirken vorherrschende Bestreben, eine ‚objektive‘, ‚rein beschreibende‘ Sprachwissenschaft zu praktizieren und sich von normativen Bemühungen scharf abzusetzen, fand seit den 1930er Jahren eine besonders radikale Fortsetzung in der amerikanischen Linguistik. Dies ging so weit, dass man sich dort an der psychologischen Theorie des Behaviorismus orientierte, den Rückgriff auf die eigene sprachliche Intuition für methodisch unzulässig erklärte, ja es sogar ablehnte, von ‚Bedeutungen‘ sprachlicher Zeichen zu reden.4 Diesem Objektivitäts-Credo ist auch ein 1950 von dem amerikanischen Linguisten Robert A. HALL veröffentlichtes Buch verpflichtet,5 dessen Titel bereits eine klare anti-normative Haltung artikuliert: Leave your language alone! [,Lass deine Sprache in Ruhe!‘]

HALL erläutert in diesem Buch in eher populärer Weise die Analyseverfahren der Linguistik seiner Zeit. Sein eigentliches Anliegen aber besteht in dem Nachweis, dass jedes Setzen einer sprachlichen Norm willkürlich und daher wissenschaftlich nicht haltbar sei. Somit ist für HALL jeder Sprachgebrauch gleichermaßen ‚gut‘ oder ‚wertvoll‘. Diese egalitäre Sicht mündet in der Forderung:

,Lass deine Sprache in Ruhe! Wir formulieren das so drastisch, um zu betonen, dass jede Einmischung in unsere Sprache, von uns oder anderen, im Namen der ‚Korrektheit‘, der Rechtschreibung oder des Nationalismus von Übel ist.‘6

HALL fordert daher,

‚die alte dogmatische, normative, theologische Herangehensweise der traditionellen Grammatik und des sozialen Snobbismus vollständig aufzugeben und sie durch die relativistische, objektive Herangehensweise der wissenschaftlichen Untersuchung und Analyse zu ersetzen.‘7

Leave your language alone! ist das Werk eines beschränkten Extremisten. Die – im Grunde banale – Einsicht, dass die meisten Sprachnormen letztlich willkürlich sind, führt HALL zu dem (Kurz-)Schluss, dass sie illegitim seien. Dass auch willkürlich gesetzte Normen die Kommunikation wesentlich fördern und vereinfachen können, wird von HALL nicht einmal ernsthaft erwogen. Gemessen an dem Reflexionsstand, der zu diesen Fragen beispielsweise schon bei ADELUNG erreicht war (welcher sich freilich seinerseits an antiken Vorbildern orientierte!), ist HALLS Werk ein geradezu barbarischer Rückschritt hin zu einem primitiven Egalitarismus.8 Gleichwohl stieß dieses Werk auch bei einigen deutschen Sprachwissenschaftlern auf Zustimmung; schließlich präsentierte es ja den aktuellen internationalen Forschungsstand …9 Nachklänge des HALLschen Extremismus finden sich beispielsweise noch in den Beiträgen Hans Jürgen HERINGERS im von ihm selbst herausgegebenen Sammelband Holzfeuer im hölzernen Ofen (1982). (Ich komme hierauf in Kapitel 7 zu sprechen.)

Wie tief sich HALLS Denken der modernen Linguistik eingeprägt hat, zeigt sich beispielsweise in einer von Richard HUDSON verfassten Einführung in diese Disziplin (1984). HUDSON konstatiert, dass die moderne Linguistik in viele Schulen zerfalle und dass zwischen diesen erhebliche methodologische und ideologische Differenzen bestünden (S. 15), aber er betont sogleich, dass es auch eine Reihe allgemein akzeptierter Grundauffassungen gebe. Hierbei stützt er sich auf eine von ihm selbst durchgeführte Umfrage unter zahlreichen Kollegen, welche diesen Ansichten mit überwältigender Mehrheit zugestimmt hätten. HUDSON hält sich somit für legitimiert, diese Meinungen als communis opinio zu präsentieren. Gleich an erster Stelle dieser Liste allgemein akzeptierter Auffassungen steht die Feststellung, dass die Linguistik deskriptiv zu sein habe und nicht normativ sein dürfe (S. 16). In diesem Sinne wird dann weiter ausgeführt, dass sprachliche Regeln relativ seien, das heißt, ‚dass sie Eigentümlichkeiten unserer spezifischen Sprache oder Gemeinschaft sind und dass andere Menschen bestens mit anderen Vorkehrungen zurechtkommen‘.10 Und es wird zugleich die einseitige Fixierung der Schule auf einen gehobenen sprachlichen Standard kritisiert:

‚Wenn Sie wissen, dass Sie Formen gebrauchen, die einige Ihrer Lehrer nicht gutheißen würden, dann sollte die Linguistik Sie dazu bringen, dies mit einem viel besseren Gewissen zu tun, weil sie Ihre Gründe hierfür aufdeckt und weil sie zeigt, dass es an Ihren Formen auf keinen Fall etwas auszusetzen gibt – sie sind schlicht anders als die Standardformen, und es ist nur ein historischer Zufall, der andere Formen als die von Ihnen benutzten in den Standard-Status befördert hat.‘11

Wenn auch HALLS Werk von HUDSON nicht zitiert wird, so schwebt doch über diesen Ausführungen der HALLsche Geist: Die Linguistik wird konzipiert als edle Kämpferin gegen die finsteren Machenschaften der Normierer und für die Rechte der Entstandardisierten.12

Trotz dieser sprachnormkritischen Tendenzen gab es im deutschen Sprachraum immer wieder umfangreichere Beiträge zu Fragen der Sprachpflege. Exemplarisch genannt seien hier noch das IDS-Jahrbuch Sprachkultur (WIMMER (Hg.) 1985) und der Sammelband Sprachstörungen (GAUGER (Hg.) 1986).

Des Weiteren gibt es in der Sprachwissenschaft auch Bestrebungen, die Geschichte der Sprachkritik aufzuarbeiten. Hier sei etwa auf die Arbeit Germanistische Sprachpflege (1986) von Albrecht GREULE und Elisabeth AHLVERS-LIEBEL hingewiesen.

Besondere Erwähnung verdient schließlich noch das 1992 veröffentlichte Buch Sprachkritikastereien und was der ‚Fachler‘ dazu sagt von Willy SANDERS. SANDERS beschreibt hier auf populäre (aber keineswegs populistische) Weise das gesamte Genre der normativen Sprachkritik von WUSTMANN bis zur Gegenwart, und er hält den typischen Vereinfachungen der Sprachkritiker die differenzierenden Einsichten der Sprachwissenschaft entgegen, ohne hierbei allerdings dem bei Sprachwissenschaftlern beliebten Schwarz-Weiß-Schema ‚hier die guten Linguisten, dort die bösen Sprachkritiker‘ zu folgen. Vielmehr würdigt er ausdrücklich die Tätigkeit solcher Sprachkritiker und Linguisten, die sich um eine Vermittlung zwischen diesen beiden Parteien bemühen, wozu z.B. Dieter E. ZIMMER und Hans-Martin GAUGER gehören (vgl. etwa SANDERS 1992: 127).

Diese Beispiele mögen genügen, um zu illustrieren, dass auch die Kritik der Sprachkritik ihre Tradition hat. Damit kann ich mich nun der Frage zuwenden, ob bzw. inwieweit diese Tradition in der Debatte zwischen SICK und MEINUNGER reflektiert wird.

Sprache, Stil und starke Sprüche

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