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Kapitel 8

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„Warum hast du nicht gleich gesagt, dass du vom Jugendamt bist und mich zurückbringen wolltest?“

Carmen saß neben Heiko, hatte ihr Glas in der Hand und sah ihn offen an. Die Rötung ihrer Augen war zurückgegangen, und auch das Gesicht war nicht mehr so verschwollen.

„Die ‚Treppe’ ist nicht das Jugendamt. Wir arbeiten nur mit dem Jugendamt zusammen. Wärst du geblieben, wenn du es gewusst hättest?“

Sie schüttelte energisch den Kopf.

„Siehst du? Meine Aufgabe war, dich zu finden und irgendwann zurückzubringen. Und dafür brauche ich viel Zeit, manchmal sehr viel Zeit. Denn jeder, der fortläuft, hat seine Gründe. Und diese Gründe beseitigt man nicht, wenn man ihn packt und mit Gewalt nach Hause und in die Schule bringt.“

„Wie Buchholz?“

„Ja, wie Buchholz. Er ist immer noch der Meinung, dass seine Methode die richtige ist, und er lässt sich nicht umstimmen. Jedes Wolfskind sieht er als Beweis für seine Theorie, dass man den Ausreißern mit Härte begegnen muss. ‚Ratten’ nennt er sie heimlich, die sich nicht zähmen lassen, die einzeln oder in ihrer Gruppe wandern, die über alles herfallen, was ihnen als Nahrung dient, ohne das leiseste Gefühl für Recht und Ordnung. Nur ihre eigene Ordnung gilt, nicht die der anderen. Und deshalb bekämpft er sie mit seinen Mitteln, und die sind Polizei und Heim.

Alles, was davon abweicht, ist für ihn Kuschelpädagogik und ihm höchst verdächtig.

Und ich bin ihm besonders verdächtig.“

„Hast du die anderen, ich denke mal, du hast auch andere Mädchen aufgelesen, bist du zu den anderen auch so gewesen wie zu mir?“

Heiko tat, als hätte er die Frage nicht verstanden?

„Na, hast du sie auch mit zu dir nach Hause genommen?“

In aller Ruhe und sehr einfühlsam erzählte Heiko, dass das zu seiner Arbeit gehörte. Dass er wüsste, dass die Mädchen erst dächten, er wollte etwas von ihnen, vielleicht sie sogar auf den Strich schicken oder verkaufen. Sie hätte es doch sicher auch erst gedacht.

Carmen nickte ernst.

„Siehst du, das war meine Absicht. Die Mädchen sollten mit allem rechnen, nur nicht damit, dass sie unbehelligt blieben. Umso befreiter fühlten sie sich, als nichts dergleichen passierte, als sie nur ein Dach über dem Kopf bekamen, Essen und Trinken, eine Badewanne, gewaschene Kleidung.“

Es war merkwürdig, auf einmal war er wieder Jose für sie, nicht mehr Heiko.

Was hatte das bewirkt? War sie so naiv, alles zu glauben, was Jose ihr erzählt hatte und noch erzählen würde? Aber warum sollte er sie anlügen? Jetzt, ja, jetzt würde er sie anlügen, wenn er jetzt ein anderes Mädchen mit nach Hause nähme. Aber die Mädchen vor ihr brauchten sie nicht zu interessieren.

„Hattest du auch Jüngere als mich?“

„Ja“, antwortete er schlicht, „aber die haben immer auf dem Sofa geschlafen, sind nie in mein Bett gekrochen.“

Er lächelte Carmen unschuldig an, verkniff sich aber eine weitere Bemerkung.

Jose schenkte nach. Sie stießen an, lauschten dem Klang der Gläser, der lange nachschwang, bis nur noch ein ganz feines Sirren zu hören war, das verhallte, als sie die Gläser zum Mund führten.

„Wie geht es mit uns weiter?“

Carmen hatte diese Frage schon viel früher stellen wollen, aber sie hatte Angst vor der Antwort, und diese Angst wuchs immer mehr, je länger er mit der Antwort wartete.

„Ich könnte mir die Sache einfach machen“, begann er, „ich könnte dir sagen, es hängt von dir ab, du kannst entscheiden, ob du bei mir bleiben willst und wie lange, aber das wäre unredlich und würde auch nicht stimmen.

Ich liebe dich und möchte, dass du bei mir bleibst. Aber zwingen kann ich dich nicht, und das will ich auch nicht. Wenn du sagst, du kannst mit einem von der ‚Treppe’ nicht zusammenleben“, – er lachte kurz, aber es klang nicht überzeugend – „dann kannst du gehen. Nur dass du bei mir bleibst wie eine Fremde oder eine Freundin, das geht nicht. Das kann ich nicht.“

Carmen wollte antworten, doch er hielt ihr seinen Zeigefinger auf den Mund.

„Pst, lass dir Zeit mit der Antwort.“

Er stand auf und ging ans Fenster. Als gäbe es da draußen etwas Interessantes zu sehen, starrte er ins Dunkel.

Fast schwarz schien ihm die Nacht.

Natürlich war sie es nicht. Die Lichtreklamen waren hell wie immer, die Straßenlampen leuchteten nicht weniger hell, die Scheinwerfer der Autos, die über die Benno-Ohnesorg-Brücke fuhren, waren auch nicht auf einmal matter.

Es war wie immer.

Und doch war es anders.

Carmen war ihm leise gefolgt. Ganz klein und verschüchtert stand sie hinter ihm, lehnte ihren Kopf an seine Schulter - und schwieg.

Er spürte, sie wollte etwas sagen, aber er konnte ihr nicht helfen.

Er könnte sich zu ihr umdrehen, sie in den Arm nehmen und ihr über das Haar streichen. Vielleicht wäre das richtig, aber warum sollte er das tun? Und wie würde sie es aufnehmen? Als Zeichen dafür, dass sie gescheitert waren?

Vielleicht war das auch das Beste, sich einzugestehen, dass ihre Beziehung beendet war, dass sie einfach keinen Bestand haben konnte, dass sie, wenn nicht heute, so doch morgen oder in einem halben Jahr auseinander brechen würde.

Ein Endzwanziger verliebt sich in eine Sechzehnjährige, lebt mit ihr zusammen, schläft mit ihr! Wenn er Glück hatte, kam er um eine Strafe herum. Aber wie vertrug sich das mit seinem Beruf? Seine Aufgabe war es, die Kinder und Jugendlichen zu reintegrieren, nicht ein Verhältnis mit ihnen anzufangen. Wenn auch das Gericht von einer Strafe absähe, sein Arbeitgeber würde nicht Milde walten lassen. Er sah schon die Schlagzeilen in den Boulevardzeitungen, und nicht nur dort. Bei der ‚Treppe‘ war er dann untragbar.

Heiraten, dieser verrückte Traum wäre ausgeträumt, bevor er wirklich Gestalt angenommen hätte.

Er hatte gelächelt, als er gesehen hatte, dass sie sich heimlich Brautmoden im Internet angesehen hatte. Hatte gelächelt über ihre kindliche Fantasie und Ungeduld. Und über ihre ungestüme Liebe, die keinen Aufschub duldete. ‚Wir müssen zwei Jahre warten, oder deine Eltern stimmen zu’, hatte er gesagt, und sie hatte nur gelacht.

Wie tief müsste sie ihren Fall empfunden haben, gestern noch Braut, heute nur der Fall eines Streetworkers?

Immer noch starrte Heiko nach draußen.

Carmen hatte sich von ihm gelöst, er hatte es kaum wahrgenommen.

Wenn sie jetzt das Sofa fertig macht, ist es vorbei!

Ein Auto fuhr mit hoher Geschwindigleit über die Benno-Ohnesorg-Brücke, überholte mal links, mal rechts, verfolgt von einem Streifenwagen mit Blaulicht.

Es interessierte ihn nicht, und doch starrte er auf das Bild, sah, wie der Streifenwagen auf die Gegenfahrbahn fuhr und plötzlich quer vor dem Verfolgten stand. Er meinte zu hören, wie sich das Auto in die Seite des Streifenwagens bohrte.

Auch das interessierte ihn nicht.

Und doch starrte er unentwegt auf diesen Film, der vor ihm ablief.

Er fühlte sich leer. Daran hatte auch diese Verfolgungsjagd nichts geändert.

Er könnte die ganze Nacht hier stehen, könnte beobachten, wie Häuser, ganze Stadtteile abbrannten, auch das würde nichts ändern.

Als hätte er keinen Willen, ging er ins Schlafzimmer. Carmen lag in ihrer Hälfte des Bettes, auf dem Bauch, hatte ihr Gesicht im Kopfkissen vergraben.

Leise zog er sich aus und legte sich neben sie.

Lange hielt er es nicht aus. Er drehte sich zu Carmen, hob ein klein wenig die Decke, die sie bis zum Kopf hochgezogen hatte, umfasste ganz sanft ihre Schultern und gab ihr einen Kuss, genau zwischen die Schulterblätter.

Er wusste, sie liebte es, wenn er sie an dieser Stelle küsste, sie zog dann immer die Schulterblätter zusammen, so dass ein kleiner Graben entstand, in den seine Zungenspitze genau passte. Sie ruschelte sich dann immer wohlig, als wollte sie ihn auffordern fortzufahren.

Und nur zu gerne tat er es.

Wenn sie jetzt den kleinen Graben machte, würde alles wieder gut werden!

Mit einem Schrei drehte sich Carmen um, stieß Heiko so heftig an, dass er auf den Rücken rollte, warf sich auf ihn und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Es war wie eine Naturgewalt, als wäre ein Damm gebrochen, als ergössen sich ungeheure Wassermassen über das Land.

Heiko spürte den salzigen Geschmack auf seinen Lippen, auf ihrem Gesicht.

„Carmencita“, flüsterte er, „Carmencita!“

„Schläfst du schon?“, fragte sie Stunden später ganz leise, um ihn nicht aufzuwecken.

Sie lag neben ihm, hatte ihr Gesicht ihm zugewandt, ihr rechtes Bein ruhte auf seinen Beinen, ihre Hand auf seinen Schamhaaren. Seine Hand hatte er auf ihre rechte Hüfte gelegt, hatte sie eine ganze Weile zärtlich gestreichelt, dann hatte er, als wäre er eingeschlafen, aufgehört.

Lange und intensiv hatte sie nachgedacht, während sie so schweigsam nebeneinander lagen, sich leicht liebkosten, als geschähe es unbeabsichtigt.

Ja, sie würde bei ihm bleiben, allen Widerständen zum Trotz. Sie würde auch wieder zur Schule gehen, wenn er es wünschte.

Aber sie würde nicht zu ihren Eltern zurückkehren. Sie würde bei ihm bleiben! Sie könnte sich sogar damit abfinden, wenn er ab und zu einen Jungen oder ein Mädchen mit nach Hause brächte. Aber im Wohnzimmer müssten die schlafen. Und passieren dürfte auch nichts, das würde sie zur Bedingung machen.

Bedingung?

Sie konnte sich nicht vorstellen, Jose jemals eine Bedingung zu stellen.

Jose merkte, wie es in diesem kleinen Kopf arbeitete.

„Komm“, sagte er, „ich habe eine Idee.“

Und damit hob er ein wenig ihren Kopf, gerade so viel, dass er sich von ihr lösen konnte, und stand auf.

„Komm“, sagte er noch einmal, zog sie an der Hand aus dem Bett und führte sie ins Wohnzimmer. Er stellte das Notebook auf den Couchtisch und startete es.

Carmen sah ihn fassungslos an.

Eben hatten sie die schwerste Krise erlebt, hatten sie gerade einigermaßen überwunden, und er wollte sich irgendetwas im Internet ansehen! Sie fasste es nicht.

„Komm!“, bat er noch einmal und zog sie auf den Sitz an seiner Seite.

Er tippte etwas ein, und während er wartete, dass die Seite aufgebaut wurde, sagte er: „Wir haben uns ein paar Tage Urlaub verdient, meinst du nicht? Ein paar Tage nur wir, irgendwo, wo uns keiner kennt.“

Wolfskinder

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