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Kapitel 7

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Heiko Müller hatte seinen R 4 auf dem großen Behördenparkplatz abgestellt, etwas abseits von den anderen Autos. Dass er fast regelmäßig wegen seines Autos belächelt und angefrotzelt wurde, störte ihn schon lange nicht mehr, doch heute hatte er keine Lust auf den Spott seiner Kollegen, auch wenn er nett gemeint war. Die nächsten ein, zwei Stunden würden anstrengend werden. Da mochte er vorher keine Späße.

Um kurz vor acht Uhr hatte er Buchholz zurückgerufen, um ihn zu fragen, was gestern so wichtig gewesen wäre. Er hoffte, es wäre nicht zu eilig gewesen, doch gestern hätte er beim besten Willen nicht zurückrufen können, ohne den Erfolg seiner Arbeit zu gefährden. Er wäre gerade bei einem sehr schwierigen Fall.

Es wäre schon in Ordnung, meinte Buchholz, aber er möchte doch bitte zu ihm kommen, der Chef hätte einen Bericht über die Wolfskinder verlangt, und er, Müller, wäre schließlich der Kompetenteste.

„Wissen Sie, die nackten Zahlen habe ich hier in den Akten, aber das ist nur ein dürres Gerüst.“

Müller hatte kurz überlegt und versprochen, gegen zwölf Uhr im Amt zu sein, sehr zur Erleichterung von Buchholz.

Es war nicht viel Zeit, die bis dahin blieb.

Carmen schlief noch, sie hatte gestern, begeistert von ihren Designerfähigkeiten,

etwas mehr Rotwein getrunken, als es gut für sie war, und Jose hatte sie auch nicht gebremst. Sie war so niedlich, wenn sie einen kleinen Schwips hatte, und der Wein hatte ihr so gut geschmeckt, dass Jose ihr die Freude nicht verderben wollte. Und nebenbei war es auch ganz erholsam, die Nacht durchschlafen und sich von dem anstrengenden Tag erholen zu können.

Seine erste Arbeit war das Aktivieren eines zweiten Wohnungsschlüssels.

Als er mit seiner Tätigkeit begonnen und sich entschlossen hatte, seine Klienten mit nach Hause zu nehmen, hatte er sich dieses Schließsystem besorgt, und es hatte sich bis heute bewährt. Man konnte zwar einen Nachschlüssel anfertigen, aber der nützte nichts. Er verfügte nicht über die nötige Elektronik, die erst das Öffnen und Schließen einer Tür ermöglichte.

Müller schob den Schlüssel in den dafür vorgesehenen Schlitz, gab einen Code ein und drückte die Enter-Taste. Ein kurzes Summen ertönte, während ein grünes Lämpchen leuchtete, und der Vorgang war abgeschlossen. Zur Kontrolle zog er die Tür zu, steckte den Schlüssel in das Schloss und öffnete ohne Schwierigkeit die Tür.

Als Nächstes öffnete er den Garderobenschrank und klappte ein Schuhregal zur Seite. Zum Vorschein kam ein kleiner Tresor, den er fest an der Wand verankert hatte. Nur mit sehr viel Aufwand würde man ihn entfernen oder öffnen können.

Er öffnete die Tür, entnahm ihm ein schwarzes, etwas abgegriffenes Notizbuch und steckte es in die Gesäßtasche seiner Jeans.

Dann machte er sich an das Frühstück.

Als er auch das fertig hatte, ging er ins Schlafzimmer.

Carmen schien noch immer zu schlafen. Ganz friedlich lag sie im Bett, hatte sich in ihr Kopfkissen gekuschelt. Schien etwas besonders Schönes zu träumen, denn sie lächelte im Schlaf.

Vorsichtig beugte sich Jose über die Schlafende, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben.

Sie musste seine Anwesenheit gespürt haben, denn sie drehte sich auf den Rücken, räkelte sich, gähnte herzhaft, immer noch mit geschlossenen Augen, streckte ihre Arme, und hatte auf einmal seinen Nacken gefangen, zog Jose mit einem Ruck zu sich hinab.

„Reingefallen!“, jubelte sie.

„Musst du wirklich weg?“, fragte sie, als sie wenig später beim Frühstück saßen.

„Ja“, antwortete er, „ich muss mich mal bei der Arbeit sehen lassen. Man erwartet mich in“, er sah auf seine Armbanduhr, „in zwanzig Minuten.“

„Und was soll ich machen, hier, so ganz allein?“

Sie könnte hier bleiben, Radio hören, fernsehen, ein Buch lesen. Auch aufräumen könnte sie. Der Staubsauger wäre im Besenschrank. Das Bad und die Küche könnte sie auch wischen. Zu tun gäbe es wirklich genug.

Sie könnte aber auch rausgehen, ihre neuen Klamotten ausführen. Er legte ihr einen Zehn-Euro-Schein hin.

„Für ein Eis oder einen Drink.“

Nur aufpassen sollte sie. Sicher würde sie gesucht, und irgendwer würde sie vielleicht erkennen. Sie sollte sich unbedingt merken, wo die Wohnung wäre. In diesem Gewirr könnte man sich leicht verlaufen.

Müller ging durch das breite Portal, vorbei an dem Pförtner, der ihn wie immer freundlich grüßte und auf ein kleines Schwätzchen hoffte, aber heute hatte Müller keine Zeit.

„Tut mir Leid, heute habe ich es eilig“, sagte er, machte ein bedauerndes Gesicht und war schon die breite Treppe nach oben geeilt. Auch die nächste Treppe nahm er im Eilschritt, immer zwei Stufen auf einmal. Oben angekommen, wandte er sich nach rechts, durchschritt eine grau lackierte Schwingtür und gelangte am Ende des nahezu abweisenden Ganges zu Buchholz’ Zimmer.

Auf sein Klopfen antwortete ein donnerndes „Herein“, und Müller betrat den kleinen Raum.

Buchholz hatte schon eine Kanne Tee gekocht und den Besucherstuhl zurechtgerückt, obgleich ihm sein Besucher gar nicht lag und er viel dafür gegeben hätte, er hätte ihn nicht empfangen müssen. Aber er brauchte ihn, und da machte er gute Miene zum bösen Spiel.

Nur eins konnte er sich nicht verkneifen.

„Ich will Sie gar nicht lange aufhalten. Es geht um einen Bericht über die Wolfskinder, und da Sie dafür der Experte sind, habe ich Sie hergebeten. Aber, wie gesagt, es wird nicht lange dauern. Ist eigentlich nur der Sicherheit halber. Nachher steht irgendwelches dumme Zeug in der Zeitung. Sie verstehen?“

Müller verstand durchaus.

Buchholz war unsicher, bei seiner Gesinnung sicher zu Recht, und scheute das Risiko. Wenn er Müller als Verantwortlichen gewinnen konnte, war er aus dem Schneider.

Müller zog sein Notizbuch aus der Tasche, und die Arbeit begann.

Jeden einzelnen Fall gingen sie durch, besprachen die Vorgeschichte, das Leben auf der Straße, die Wiedereingliederung.

„Eins habe ich immer noch nicht begriffen“, sagte Buchholz wie beiläufig, „wo haben Sie die Kinder untergebracht, nachdem Sie sie gefunden hatten. Es liegen immer einige Tage dazwischen. Hier zum Beispiel, die Julia haben Sie am 26. 3. aufgegriffen, und erst am 30. haben Sie sie der Familie übergeben. Was mich interessiert, ist: Wo war sie in der Zwischenzeit?“

Jetzt hatte Buchholz sich verraten! Daher also wehte der Wind.

„Sie werden verstehen, dass ich das nicht sagen kann. Wenn ich das tue, kann ich meinen Job aufgeben. Nur so viel: Die Kinder sind von der Straße und ordentlich untergebracht. Oder haben Sie ein einziges Mal eine Beschwerde gehört?“

Buchholz nickte: „Verstehe, war auch nur so eine Frage.“

Müller wollte gerade aufstehen, als Buchholz noch eine Frage nachschob.

„Der Fall Carmen. Arbeiten Sie gerade daran?“

Müller sah seinem Gegenüber offen in Gesicht. Nichts deutete darauf hin, dass ihn diese Frage irritiert hätte.

„Ja“, antwortete er einfach.

„Und hatten Sie schon Erfolg?“

„Ich arbeite daran. Ob ich Erfolg habe, wird sich in ein, zwei Wochen zeigen. Vorher nicht.“

„Dann ist das Mädchen ein, zwei Wochen bei irgendwelchen Leuten anstatt bei ihren Eltern. Ist das so?“

Buchholz’ Stimme klang auf einmal sehr scharf.

Müller sah seinem Gegenüber gerade ins Gesicht.

„Wenn sie es jetzt zu seinen Eltern bringen, ist alle Arbeit umsonst, und es gleitet wieder ab, dieses Mal endgültig. Wollen Sie das verantworten? Sie werden mich nicht dazu bringen, ihren Aufenthaltsort zu verraten.“

Müller stand auf, verstaute sein Notizbuch in der Jeanstasche und verschwand mit einem knappen: „Wiedersehen!“

Noch als er die Tür schloss, fiel ihm auf, dass Buchholz nach dem Telefon griff und eine Nummer wählte.

Er war noch ganz aufgewühlt, als er bei dem Pförtner vorbeieilte und die Tür öffnete. Noch auf dem Parkplatz war er wütend.

Was dachte sich dieser Mensch? Seine Erfolge seinerzeit waren gleich null. Die meisten Kinder, die er aufgespürt und zurückgebracht hatte, waren rückfällig geworden, ein Mädchen war sogar schon tot, hatte sich den Goldenen Schuss gesetzt. Aber niemand hat jemals danach gefragt, wer die Schuld daran trug.

Als Müller seinen R 4 erreicht hatte, hatte er sich schon einigermaßen beruhigt. Er atmete noch einmal kräftig die Sommerluft ein, öffnete die Tür und setzte sich in sein Auto.

Irgendjemand war wohl etwas zu dicht an seinem Wagen vorbeigegangen. Der Spiegel war verstellt.

Müller kurbelte die Seitenscheibe hinunter und hantierte an dem Außenspiegel.

Zwei Reihen schräg hinter ihm stand ein Mann an seinen Wagen gelehnt, einen Mittelklassewagen, und telefonierte. Unentwegt, so schien es Müller, sah er zu ihm und stieg jetzt auch ein.

Langsam fuhr Müller an, bog auf die Fahrbahn, die zur Schranke führte, und schob seinen Parkausweis in den Automaten. Die Schranke öffnete sich. Von dem anderen Auto war nichts zu sehen.

Er sah zu viele Krimis!

Erleichtert fädelte er sich in den fließenden Verkehr ein, da sah er den anderen Wagen wieder.

Zufall! Hier fuhren viele Autos. Das war eine der am meisten befahrenen Straßen der Innenstadt. Warum sollte der nicht auch hier fahren?

Nur um ganz sicher zu gehen, dass sein Verdacht unbegründet war, bog er nach rechts ab.

Das Auto folgte.

An der Markthalle hielt er, fand tatsächlich einen freien Parkplatz, zahlte und verschwand in dem Getümmel.

Der Mann, der ihm gefolgt war, hielt in der zweiten Reihe, kurz hinter dem R 4. Erst das sehr energische, wütende Hupen der anderen Fahrzeuge zwang ihn, weiterzufahren, erst langsam, als müsste er überlegen, welchen Weg er nehmen sollte, dann schien er seine Entscheidung gefällt zu haben, denn er gab Gas und floss in dem Verkehr mit.

Müller verließ die Markthalle, bestieg seinen Wagen und fuhr auf Umwegen zurück zum Ihme-Zentrum. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass er nicht verfolgt wurde, parkte er auf seinem Stammplatz und ging auf Umwegen zu seinem Hauseingang.

Er würde das Namensschild ändern und ein Postfach beantragen. Der Buchholz würde ihm nicht seine Arbeit kaputt machen.

Das Treppenhaus war leer. Ungesehen kam er in seinem Flur an, schloss die Wohnungstür auf und wurde schon von Carmen sehnsüchtig erwartet.

„Was hast du?“, fragte sie, als er gar nicht auf ihre Umarmung reagierte, „magst du mich nicht mehr?“

„Doch, doch, lass mir nur eine viertel Stunde“, antwortete er, setzte sich an seinen PC und druckte drei neue Namensschilder.

„J+C Müller? Das verstehe ich nicht.“

Er antwortete nicht, schnitt die Schildchen aus, suchte einen Schraubenzieher und wechselte das Türschild aus.

„Was soll das?“

Ohne zu antworten, fasste er Carmens Hand, ging mit ihr zum Aufzug und schob sie hinein. Unten angekommen, tauschte er das Klingel- und Briefkastenschildchen aus,

nahm wieder Carmens Hand und betrat gemeinsam mit ihr die Wohnung.

Er spürte ihren fragenden Blick.

„Das ist notwendig. Man will herausbekommen, wo ich wohne.“

„Ist das so schlimm?“

„Man würde dich hier entdecken. Willst du zurück zu deinen Eltern?“

Carmen sah ihn skeptisch an.

Wer würde sie entdecken? Schön, vielleicht suchte sie das Jugendamt und auch die Polizei. Aber bisher hatten sie sie nicht gefunden, obgleich sie auf der Straße gelebt hatte und sicher stärker aufgefallen war als jetzt. Sie hatte sogar schon gewagt, sich nicht mehr vor Polizisten zu verstecken. Und Jose hatte sie mitten durch die belebte Stadt geführt, hatte mit ihr eingekauft.

Woher kam diese plötzliche Sorge?

Sie kuschelte sich an ihn.

„Sag, was bedrückt dich?“

Und als er nicht antwortete, fragte sie: „Wo warst du heute Mittag? Hat es damit zu tun?“

Jose hatte sein Kinn auf Carmens Haare gelegt und sah über ihren Kopf nach draußen. Ganz fest hielt sie ihn umklammert, als spüre sie die Gefahr, von ihm fortgerissen zu werden.

„Sag“, bat sie noch einmal, fast flüsternd.

Ihr Mund wurde trocken, das Schlucken fiel ihr schwer, sie wich einen Schritt zurück und sah ihn an.

Ein Bild des Jammers stand sie da. Ganz schmal, ganz klein war sie auf einmal.

Und sie wusste noch nichts.

„Erinnerst du dich noch an einen Buchholz?“

Carmen sah ihn verständnislos an.

Nein, einen Buchholz kannte sie nicht. Wie kam Jose auf diesen Namen?

„Du hast ihm vor drei Jahren in die Hand gebissen, weißt du das nicht mehr?“

Jetzt, wo er es sagte, erinnerte sie sich.

Natürlich, damals hatte er sie aufgegriffen, wie er sagte. War unter dem Ernst-August-Denkmal. Da hatte sie mit einigen anderen Jugendlichen gesessen. Sie hatten nichts gemacht, niemanden gestört, niemanden angeschnorrt, nur etwas geraucht und getrunken, keine harten Sachen, meistens nur Wasser. Und da war der gekommen. Schon von weitem sahen sie ihn und wussten, es würde Ärger geben. Und auf einmal waren sie von Polizisten umringt. Von wo die alle her kamen, wusste keiner, so schnell war das gegangen.

Dann folgte die übliche Zeremonie: Ausweiskontrolle! Murren und Schimpfen! Die Ausweise bitte! Die ersten wurden zu einem Mannschaftswagen geführt. Dann kam sie an die Reihe. Ein eklig grinsendes geiles Gesicht verlangte ihren Ausweis zu sehen. Als der Typ sie anpackte, hatte sie ihm in die Hand gebissen, nicht nur so ein bisschen, sondern tüchtig, hat sogar geblutet. Und geschrien hat der Typ. Wie am Spieß. Hat sie dann mit aufs Amt genommen und sie schließlich zu ihren Eltern bringen lassen.

Ihr Vater hatte sie dann halbtot geschlagen, besoffen wie der war.

Und was war jetzt mit ihm?

„Ich war heute bei ihm. Er hatte mich gerufen, weil er etwas für einen Bericht brauchte, den er am Wochenende abgeben muss.“

Carmen verstand nicht.

Ihr Jose arbeitete mit dem grässlichen Buchholz zusammen?

„Setz dich“, bat er und schob sie behutsam in das Sofa und setzte sich zu ihr.

„Du hast mich nie gefragt, was ich mache, beruflich meine ich. Und ich war dankbar dafür, denn ich hätte dich vielleicht verloren, wenn du es erfahren hättest.“

Er machte eine Pause.

Was würde sie erfahren?

Es rauschte in ihren Ohren, das Blut hämmerte, der Atem flog. Carmen fühlte sich, als würde sie gleich zusammenbrechen.

„Ich bin – bei der ‚Treppe’.“

Jetzt war es raus, endlich. Aber wie gerne hätte er ohne dieses Geständnis gelebt!

Carmen blickte zu ihm auf, ungläubig, fassungslos.

Der Mann, den sie liebte, der ihr Tage geschenkt hatte, wie sie sie noch nie erlebt hatte, der nichts von ihr gefordert hatte und doch alles bekommen hätte, freiwillig, weil sie es geben wollte, weil sie ihn begehrte, der war auf einmal ihr Feind!

Heiko wollte ihre Hand fassen, sie zog sie ruckartig zurück. Ganz steif saß sie da, sah irgendwohin, sagte keinen Ton. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.

Heiko griff noch einmal nach ihrer Hand. Sie überließ sie ihm, als wäre sie zu schwach, sie ihm wieder zu entziehen.

Und dann rannen ihr Tränen über die Wangen, mehr und mehr, unaufhaltsam, ein Sturzbach von Tränen.

Wie gelähmt saß sie da, unfähig, die Tränen aufzuhalten oder zu trocknen, wurde immer wieder geschüttelt.

Es war schlimmer, als Heiko befürchtet hatte. Hätte sie ihn geschlagen oder gebissen, hätte sie ihn beschimpft, auch wenn sie die Wohnung verlassen hätte, er hätte es verkraftet. Es wäre eine natürliche, verständliche Reaktion gewesen, und er hätte ihr begegnen können.

Aber das hier?

Er hatte sie nicht angelogen, hatte sie nicht betrogen, hatte nicht ihren Stolz verletzt. All das hatte er nicht getan.

Aber was viel schlimmer war, er hatte sie vernichtet.

Carmen erwachte aus ihrer Erstarrung, drehte Heiko das Gesicht zu und sah ihn mit verquollenen Augen an.

„Warum?“, brach es aus ihr heraus, und endlich klopfte sie mit ihren kleinen Fäusten gegen seine Brust, immer wieder, bis sie müde war und mit ihrem Kopf an seine Brust sank.

„Warum?“, flüsterte sie noch einmal, „warum hast du das gemacht?“

Ganz behutsam streichelte Heiko ihren Kopf, hielt ihren bebenden Körper, bis sie ganz, ganz langsam zur Ruhe gekommen war.

Erst als er ihren ruhigen Atem hörte, löste er ihren Kopf von seiner Brust, hielt ihn vorsichtig wie etwas sehr Zerbrechliches mit beiden Händen, betrachtete ihn lange und trocknete ihre Tränen mit seinen Lippen.

„Ich liebe dich“, flüsterte er.

„Aber warum dann?“

„Weil ich dich liebe, nur darum!“

„Weil du mich liebst, tötest du mich?“

Das klang reichlich kitschig, vor allem aus dem Mund einer Sechzehnjährigen, aber es entsprach der Wahrheit, daran gab es für Heiko keinen Zweifel. Auch für ihn würde es Höllenqualen bedeuten, wenn er sich von Carmen trennen müsste. Freiwillig, das stand jetzt fest, würde er es nicht tun. Er würde sie beschützen, mit allen Konsequenzen, wenn es sein müsste, den ernstesten.

Wieder schossen ihr Tränen in die Augen, die Carmen sich gar nicht bemühte zurückzuhalten. Sie suchte ihr Taschentuch, fand es nicht, wollte die Tränen mit dem Handrücken fortwischen und verteilte sie im ganzen Gesicht, zog die Nase hoch und sah Heiko bittend an.

„Hast du mal ein Taschentuch?“

Nachdem sie sich geschnäuzt hatte, stand sie auf, immer noch ein armes, gebeugtes Häuflein Elend, und ging ins Bad.

Heiko überlegte.

Was er jetzt und den nächsten Minuten, vielleicht der nächsten Stunde tat, würde alles entscheiden. Er konnte Carmens Vertrauen wieder gewinnen, er konnte sie behalten, aber er konnte sie auch verlieren und zerbrechen. Jetzt das Richtige machen! Wie würde sie reagieren auf all das, was er ihr sagen müsste?

Und etwas viel Einfacheres: Er hatte Durst und ganz sicher auch sie; aber wie würde sie reagieren, wenn er eine Flasche Wein und zwei Gläser holte? Würde sie ihn für herzlos halten, oberflächlich, egoistisch? Und wenn er hier sitzen bliebe, während sie im Bad hantierte, würde sie ihm vielleicht Gleichgültig vorwerfen.

Forderte die Situation nicht geradezu eine Flasche Versöhnungswein?

Noch hatte sich Heiko nicht entschlossen, obgleich er bereits aufgestanden war und zum Küchenblock ging, wie von jemandem gesteuert seine beste Flasche Rotwein aus dem Schrank nahm, immer noch wie willenlos die Flasche öffnete und auf den Couchtisch stellte.

Gerade als Carmen aus dem Bad zurückkam, hatte er zwei Gläser aus dem Schrank genommen und ebenfalls auf den Tisch gestellt.

„Ich dachte, den können wir brauchen!“

Sie sah ihn aus ihren verweinten Augen an, und wieder wollten sie sich füllen, doch sie kämpfte die Tränen nieder.

Wenn sie jetzt auf ihn zuginge, sie ihren Kopf an seine Brust legte und er ihr über das Haar streichen würde, dann wäre alles wieder gut.

Dann würde sie bei ihm bleiben!

Einen Augenblick zögerte sie, noch unschlüssig, da war er schon zu ihr getreten, fasste sie bei den Schultern, zog sie zu sich heran, drückte sie ganz vorsichtig an sich.

„Es wird alles gut“, flüsterte er und strich ihr über das Haar.

Wolfskinder

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