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Kapitel 2

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Sie war ihm schon gestern aufgefallen.

Wie zufällig, ziellos schlenderte sie durch den Hauptbahnhof, blieb an den verschiedenen Imbissbuden stehen, ohne Absicht, wie es schien. Mit einem flüchtigen Blick streifte sie die Stehtische im Eingangsbereich, musterte die Pappteller, die unordentliche Gäste hatten stehen lassen.

Hin und wieder änderte sie ihre Richtung, trat wie zufällig auf einen der Tische zu, auf denen ein Teller mit noch einem halben Brötchen lag, griff zu, füllte etwas Ketchup nach und verschwand so unauffällig wie sie gekommen war.

Nebenan, in einer Ecke oder hinter einer der Anzeige- oder Reklametafeln, schlang sie das Brötchen in sich hinein, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab, ließ den Teller hinter sich fallen und begab sich erneut auf Beutesuche.

Das Mädchen war sechzehn Jahre alt, vielleicht einen Monat jünger oder älter, mehr ganz sicher nicht.

Heiko Müller hatte ein Auge dafür. Ihm machte niemand etwas vor, wenn es darum ging, das Alter Jugendlicher, gleich ob Mädchen oder Junge, zu schätzen. Er hatte es in den vergangenen Jahren gelernt, und seine Trefferquote war nahezu hundertprozentig. Sie konnten sich verkleiden und schminken, wie sie wollten, er sah ihr tatsächliches Alter.

Und deshalb saß er hier, in dem kleinen Bistro am Ende der Halle, kurz bevor man den Ausgang zum Raschplatz erreichte.

Hier hatte er den Überblick, hier kamen die vorbei, die ihn interessierten, Mädchen wie das dort, Gestrandete ohne Bleibe, die wussten, dass sie gesucht wurden, und deshalb einen Ort bevorzugten, den sie schnell verlassen konnten und dessen Labyrinth von Gängen, dunklen Ecken und ungenutzten Räumen ihnen Schutz bot.

Hier hinten fiel das Mädchen nicht auf.

Die Reisenden, die zur U-Bahn wechselten, hatten es eilig, niemand wäre auf den Gedanken gekommen, das Mädchen genauer zu betrachten.

Es störte ja auch nicht, viel weniger jedenfalls als andere, die durch den Gang wankten und Passanten um einen Euro oder eine Zigarette anbettelten.

Müller gab der Serviererin ein Zeichen. Sie nickte, kam hinter dem Tresen hervor und stellte ein Schild auf den Tisch.

Unmissverständlich verkündete es: Dieser Tisch war reserviert.

Ohne Eile verließ Müller das Bistro und schlenderte auf das Mädchen zu, das ihn noch nicht bemerkt hatte.

„Hast du Hunger?“, fragte er, als er neben ihm stand.

Erschrocken sah sie ihn an, wollte sich wegdrehen, weglaufen, aber er hielt ihren Arm. Nicht fest umklammert, sie hätte sich befreien können, mit Leichtigkeit. Sie hätte auch schreien können. Irgendwer hätte ihr sicher geholfen, und in dem Durcheinander, das entstanden wäre, hätte sie sich verdrücken können.

Sie tat nichts.

Sie stand da, seine Hand an ihrem Oberarm, sah ihn an und war wie gelähmt.

„Hast du Hunger?“, fragte er noch einmal.

Sie nickte.

Und schon führte er sie sanft zum Bistro, öffnete die Tür und schob sie hinein.

„Setz dich!“, forderte er sie auf, stellte das Schild zur Seite und setzte sich auch.

„Such dir was aus“, sagte er, als er bemerkte, wie gierig sie die kleine Speisekarte betrachtete.

Während sie auf das Essen warteten, betrachtete Müller seinen Gast.

Er hatte sich nicht geirrt. Auch jetzt aus der Nähe blieb er bei seinem Urteil. Sie war sechzehn Jahre alt, auch wenn sie älter aussah.

Aber sie war unglaublich verwahrlost.

Ihr langes dunkles Haar hing in verklebten Strähnen hinunter. Das schön geschnittene Gesicht mit seiner niedlichen Nase und seinem sinnlichen Mund, der sicher alles erreichen konnte, die traurigen dunklen, fast schwarzen Augen, all das konnte sicher jeden Mann zum Schmelzen bringen. Es musste nur gewaschen werden.

Das galt auch für ihre Kleidung, die vor Dreck fast stand. Seit Wochen war sie mit Sicherheit nicht gewechselt worden und unterschied sich nicht von der der Stadtstreicher, die man hier und an den anderen einschlägigen Orten der Stadt antraf.

Aber trotz dieses fast abstoßenden Eindrucks hatte Müller sofort bemerkt, man musste dieses Mädchen nur waschen und ihm saubere Kleidung geben, und man hätte eine Schönheit vor sich.

„Komm“, sagte er, als sie aufgegessen hatte, „jetzt wollen wir dich erst einmal ein wenig wiederherstellen.“

Sie sah ihn fragend an.

Sie hätte sich ja denken können, dass da irgendein Haken dran war. Kein Mann spendierte einem fremden, heruntergekommenen Mädchen ein Essen, ohne sich dabei etwas zu denken. Sie hatte gegessen, jetzt hatte sie die Zeche zu bezahlen. Sie kannte einige Mädchen vom Raschplatz, die hatten es ihr erzählt.

Nein, hämmerte es in ihrem Kopf. Sei nicht blöd!, sagte eine andere Stimme, du kannst jederzeit aussteigen! Nimm mit, was er dir bietet!

Viel Zeit zum Überlegen hatte sie nicht. Wieder hatte er ihren Oberarm gefasst, als wollte er ihr beim Aufstehen und Gehen behilflich sein, wieder fühlte sie den sanften Druck, wieder ließ sie sich führen.

Sie hatte keinen eigenen Willen.

Sie verließen die Bahnhofhalle, wandten sich nach rechts, und Müller bezahlte seine Parkgebühren.

Jetzt könnte sie weglaufen. Er brauchte beide Hände und musste sie loslassen. Warum blieb sie an seiner Seite stehen? Er könnte sie nicht verfolgen, ohne sich zu verraten. Die im Schalter würden sicher die Polizei rufen. Sie hätte ein anständiges Essen gehabt. Das wäre alles gewesen.

Warum tat sie das nicht? Wartete, bis er bezahlt hatte, würde zu ihm ins Auto steigen, mit in seine Wohnung fahren?

Das Auto, vor dem sie Halt machten, entsprach in keiner Weise ihren Vorstellungen von einem Mann, der Minderjährige verführte, denn verführen wollte er sie ganz offensichtlich. Der alte R 4, der auf einem der Frauenparkplätze stand, war verrostet und verbeult. Der Lack hatte nur noch eine matte Farbe, die an verschiedenen Stellen mit Dekoblumen überklebt war.

Müller sah das Erstaunen in den Augen des Mädchens.

Als wollte er um Entschuldigung bitten, hob er die Hände, zeigte auf das Gefährt und sagte bedauernd: „Tut mir Leid, mit was Besserem kann ich nicht dienen.“

Dann schloss er auf, setzte sich auf den Fahrersitz und öffnete die Beifahrertür.

Die Fahrt verlief still. Niemand sagte auch nur ein Wort.

Ab und zu warf Müller einen kurzen Blick zu seiner Nachbarin, und sie musterte ihn erst heimlich, dann immer offener.

Sie fuhren Richtung Linden, über die Benno-Ohnesorg-Brücke, rechts ragte der gigantische Klotz des Ihme-Zentrums auf.

Die Gegend war dem Mädchen vertraut.

Früher hatte sie hier häufig ihre Nachmittage verbracht, auch schon mal ganze Tage oder Nächte. Hier gab es Ecken, in die niemand kam, in denen man sich einrichten konnte.

Aber man konnte nur in der Clique überleben. Alleine oder nur mit ein, zwei Freunden war das zu gefährlich. Wenn sie alleine durch die dunklen Gänge ging, vorbei an eingetretenen Türen, an all dem Müll, der herumlag, wenn die vielen Bauzäune jeden Fluchtweg versperrten, dann hatte sie Angst.

Als dann auch noch der Sicherheitsdienst kam, da war es aus.

Und jetzt steuerte der Fremde einen Garagenplatz in der Tiefgarage an, stoppte den Wagen und forderte sie auf, auszusteigen.

Wieder fasste er ihren Oberarm und führte sie durch eine eiserne Tür, eine verdreckte, nach Urin stinkende Treppe hoch, bis sie auf dem Ihmeplatz standen. Weiter ging es innerhalb einer Absperrung um die nächste größere Ecke, die früher mal zu einer Buchhandlung gehört hatte, und sie standen vor einer ehemals rot lackierten Tür mit großem Glasausschnitt.

Unendlich viele Klingelknöpfe verrieten die gleiche Zahl von Bewohnern, aber sicher konnte man sich da nicht sein.

Müller bemerkte die zunehmende Beklemmung, die seine Begleiterin befiel.

„Es sieht schlimmer aus, als es ist“, versuchte er sie zu beruhigen und schob sie in einen der noch funktionierenden Aufzüge.

Der Aufzug hatte schon bessere Zeiten gesehen.

In den Ecken lagen zerfetzte Plastiktüten, zerknüllte Zettel, Essensreste. Und auch hier stank es nach Urin.

Müller schien das nicht zu stören, doch als er den elften Knopf drückte, wusste das Mädchen, er hatte kaum eine andere Wahl, es sei denn, er wollte die Treppen bis zum elften Stockwerk zu Fuß emporsteigen. Und das Treppenhaus sah sicher nicht besser aus als der Lift.

„Wie heißt du eigentlich?“, fragte er, als sich der Aufzug ratternd in Bewegung gesetzt hatte.

Die Frage kam so überraschend, dass das Mädchen seine Vorsicht völlig vergaß.

„Carmen“, antwortete sie prompt und hätte sich sofort auf die Zunge beißen mögen.

Bisher war sie anonym gewesen, auch wenn sie das Gefühl hatte, wie ein offenes Buch für ihren Begleiter zu sein, der ganz nach Willkür die Seiten umblättern konnte.

Nachdem er auch ihren Namen kannte, hatte sie kein Geheimnis mehr.

„Und du?“, fragte sie unsicher.

Der Aufzug hielt in der elften Etage.

„Hier müssen wir lang“, sagte er und führte sie wieder am Oberarm den langen Gang entlang.

„Jose“, sagte er, und als Carmen ihn ungläubig ansah, „nein, nein, Heiko.“

„Warum nennst du dich Jose, wenn du Heiko heißt?“

„Und warum heißt du Carmen? Sind deine Eltern Opernfreunde?“

Sie nickte.

„Sie waren es mal, bevor mein Vater arbeitslos wurde und zu trinken begann. Da wurde alles anders.“

Sie waren vor Müllers Wohnung angelangt. Er zog sein Schlüsselbund hervor und öffnete.

Sie traten in einen kleinen fast quadratischen Flur, von dem eine Tür zum Badezimmer und eine zum Schlafzimmer führte und der sich zum Wohnzimmer mit amerikanischer Küche öffnete.

Carmen war überrascht. Sie hatte sich die Wohnungen hier im Hochhaus ganz anders vorgestellt, dunkel, kleine Fenster. Wenn sie von außen die Anlage sah, hatte sie immer gedacht, sie würde erdrückt. Jetzt war sie in einen lichtdurchfluteten Raum eingetreten, durch dessen große Fenster die Sonne schien.

„Geh ruhig weiter“, forderte Heiko sie auf und öffnete die Balkontür.

Unter ihnen lag die Ihme, ein einsamer Paddler zog unterhalb des Hauses vorbei.

Das wäre schön, dachte sie, da unten auf dem Fluss entlang zu paddeln, völlig frei zu sein!

„Zieh dich aus!“, unterbrach Müller ihre Gedanken.

Also doch! Jetzt kommt die Rechnung!

„Du willst doch nicht so – entschuldige – schmutzig bleiben. Nimm erst einmal ein warmes Bad. Und spare nicht mit Wasser und Seife. Ich lege dir Handtücher hin. Und wenn du fertig bist, suchst du dir einen Pullover oder ein Hemd von mir aus. Ich stecke erst einmal deine Klamotten in die Waschmaschine.“

Und damit schob er sie in das Badezimmer, ließ Wasser in die Wanne einlaufen, gab einen großen Schuss flüssige Seife hinzu und stellte eine Flasche Haarshampoo auf den Wannenrand.

„Nun mach schon, ich beiße nicht!“, forderte er sie auf, als sie noch zögerte.

Er schien sich nur für ihre verdreckte Kleidung zu interessieren, die er einsammelte und in die Waschmaschine stopfte. Ob die verschiedenen Teile zusammen gewaschen werden durften, ob sie alle neunzig Grad vertrugen, interessierte ihn nicht. Hier einen Unterschied zu machen, wäre Unsinn gewesen.

„Ich muss noch mal kurz weg!“ rief er durch die Badezimmertür, dann hörte Carmen, wie die Wohnungstür geöffnet und abgeschlossen wurde.

Nun bin ich gefangen!

Im Geist ging sie alle Möglichkeiten durch, die sie hatte.

Auf normalem Weg konnte sie die Wohnung nicht verlassen. Über den Balkon konnte sie ebenfalls nicht flüchten. Der Abstand zu dem Balkon der Nachbarwohnung war zu groß. Abseilen konnte sie sich auch nicht. Schon der Gedanke daran bereitete ihr Schwindel.

Also sich fügen und alles über sich ergehen lassen?

Sie ließ sich am hinteren Rand der Badewanne hinab gleiten, schloss die Augen und tauchte den Kopf in das warme Wasser.

Wenn er schon kassierte, dann wollte sie das Bad wenigstens genießen.

Immer wieder ließ sie warmes Wasser nachlaufen, bis sie schließlich den Stöpsel zog und die Seifenreste von ihrem Körper abduschte.

In dem kleinen Badezimmerregal entdeckte sie eine Flasche Bodylotion, cremte sich sorgfältig ein und betrachtete sich im Spiegel. Sie war zufrieden. So hatte sie sich noch nie gesehen.

Zu Hause in dem winzigen Badezimmer, das noch den Terrazzoboden und den Ölfarbanstrich aus den fünfziger Jahren hatte, war der Spiegel so winzig, dass sie nur einen kleinen Ausschnitt von sich sah.

Und das Licht war einfach grauenhaft. Da konnte man sich nicht schön machen.

Dann ging sie auf die Suche nach einem passenden Kleidungsstück.

Das Schlafzimmer war ein langer und recht schmaler Schlauch. Vorne, hinter der Tür stand der Kleiderschrank, der sich über die ganze Zimmerbreite erstreckte. An der langen Wand stand das Bett, größer als es für eine Person nötig war, aber auch kein Doppelbett. Vor dem Fenster befand sich ein kleiner Schreibtisch mit Computer und einigen Büchern.

Carmen öffnete alle Schranktüren, fuhr mit der Hand über die Pullover und Wäsche, setzte sich im Schneidersitz auf das Bett und ließ ihren Blick über die Schrankfächer gleiten. Endlich hatte sie ihre Wahl getroffen.

Auf eine Hose verzichtete sie. Heikos Hosen waren ihr viel zu groß. Sie wäre darin ertrunken.

Vorsichtig zog sie einen kuscheligen baumwollenen Pullover heraus. Auch in dem würde sie ertrinken, aber es war der einzige, der zu ihr passte. Er war so weit und lang, dass er bis unter ihre Pobacken reichte, fast wie ein Kleid. Die Ärmel krempelte sie zweimal um und schob sie hoch, so dass sie nicht rutschen konnten.

So setzte sie sich auf das Sofa, die langen angezogenen Beinen mit den Armen umschlungen, den Kopf auf die Knie gebettet. Jetzt konnte Heiko Müller kommen.

Oder Jose?

Sie würde ihn fragen.

Wolfskinder

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