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Kapitel 19

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Ob sie Angst hätte oder wenigsten aufgeregt wäre, wollte Jose wissen, als er am Morgen sich durch den Verkehr schlängelte.

„Nein“, antwortete sie. „Da muss ich durch. Es ist ja nur kurz.“

„Soll ich mitkommen?“

Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte keine Unterstützung, nicht einmal von ihm. Sie hatte die Entscheidung getroffen, niemand hatte sie gezwungen, und sie wollte diese Freiheit auskosten.

„Weißt du, was es für mich bedeutet, da wieder hineinzugehen?“, fragte sie, als sie auf den Parkplatz vor der Schule einbogen, „ich kann dir und mir und den anderen beweisen, was in mir steckt. Und ich werde es beweisen.“

Sie löste den Sicherheitsgurt, drehte sich zu ihm, gab ihm einen Kuss und stieg aus.

Jetzt auf in den Kampf!

Während sich Jose wieder in den Verkehr einfädelte, eilte Carmen die drei Stufen zum Portal hoch, fast beschwingt, sagte man später.

Sie betrat das Foyer, ging vorbei am Hausmeister, grüßte ihn freundlich, zum ersten Mal in ihrem Leben. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte ihn umarmt, doch rechtzeitig erinnerte sie sich daran, dass man das nicht machte.

Also ging sie weiter, bog nach rechts ab und kam in den Verwaltungstrakt.

Einen Augenblick hatte sie das Gefühl der Beklemmung, dann gab sie sich einen Ruck und klopfte an die Sekretariatstür.

Sie wartete nicht auf das „Herein!“, sondern öffnete sofort die Tür.

Es hatte sich nichts geändert in der Zwischenzeit, obgleich es unendlich lange zurück liegen musste, dass sie diesen Raum das letzte Mal betreten hatte. Der Schreibtisch mit seinem Bildschirm und der Tastatur, den ein oder zwei Aktenordnern, die an der rechten Seite lagen, immer denselben, wie es Carmen schien, einer Federschale mit Kugelschreibern, ein Kasten mit einigen Zetteln unterschiedlicher Größe, das war das sichtbare Herzstück dieses Raumes. Und natürlich der ausladende Schreibtischsessel mit der Sekretärin.

Was sonst so an den Wänden herumstand, offene Regale und Schränke unterschiedlicher Materialien, nahm Carmen nur schemenhaft wahr.

Freundlich sah die Sekretärin Carmen an.

„Ich möchte Herrn Drews sprechen“, sagte sie und bemühte sich sicher aufzutreten.

„In welcher Angelegenheit? Herr Drews ist sehr beschäftigt.“

Hätte sie doch lieber Jose mitgenommen!

„Ich will mich wieder anmelden“, sagte sie einfach, aber entschieden.

Damit hatte die Sekretärin offensichtlich nicht gerechnet. Sie sah verdutzt von ihrem Schreibtisch auf, dem sie bisher ihr besonderes Interesse gewidmet hatte, griff nach dem Telefon, sprach ein paar Worte hinein, die Carmen aber nicht verstehen konnte, und wies auf die Tür.

Carmen klopfte an, wartete dieses Mal aber, bis ein markiges „Herein“ ertönte, und begab sich in die Höhle des Löwen.

Das Zimmer des Schulleiters war alles andere als protzig. Es war einfach, aber geschmackvoll möbliert, statt der Besucherstühle vor dem Schreibtisch war eine fast gemütlich Sitzecke an einer der Stirnwände eingerichtet, in die Drews seine junge Besucherin bat.

Viele Fragen brauchte er nicht zu stellen. Aus Carmen sprudelte es heraus wie aus einer Quelle:

Sie wäre hier auf die Schule gegangen, hätte die Schule geschmissen, weil sie Ärger zu Hause gehabt und keinen Bock mehr gehabt hätte, hätte einige Wochen auf der Straße gelebt. Und dann hätte sie einen Mann kennen gelernt. In den hätte sie sich verliebt. Und der hätte ihr klar gemacht, dass sie wieder zur Schule gehen müsste. Und das wollte sie, jetzt sofort.

„Sag mal, Carmen, wie ernst ist es dir damit? Nicht dass du nach wenigen Wochen oder Monaten die Schule wieder schmeißt!“

„Ich will es! Wenn nicht hier, dann an einer anderen Schule.“

Einen Augenblick schwieg sie und sah auf ihre Hände, die sie in ihren Schoß gelegt hatte.

„Ich will das Abitur machen“, flüsterte sie fast. „Ich habe nie gewusst, wie man sich nach der Schule sehnen kann.“

Drews war sprachlos. Noch nie hatte er solche Worte aus dem Munde einer Schülerin gehört, geschweige einer Elfklässlerin.

Was war das für ein Mann, der das bewirkt hatte?

„Es wird nicht leicht für dich werden. Wir haben jetzt das Turbo-Abitur eingeführt, und du hast schon zwei Monaten Unterricht versäumt. Das heißt Arbeiten, Arbeiten, Arbeiten. Traust du dir das zu?“

Carmen nickte. Sie wollte es, und sie würde es schaffen.

„Geh zu Frau Rowisch! Sie ist deine Jahrgangsleiterin. Mach mit ihr deinen Stundenplan. Sie wird dir helfen.“

Der Klassenraum war ein anderer, glich aber ihrem ehemaligen: ein länglicher Raum mit einer langen Fensterfront, an der Stirnseite die große dreiflüglige Tafel, rechts davon der Kartenständer, der nie funktionierte, links der Klassenschrank, in dem früher die Arbeitshefte und Atlanten aufbewahrt wurden. Und Kreide natürlich.

Der einzige Unterschied zu ihrem vorigen Klassenraum war die Tür. Sie war rot lackiert wie alle der elften Klassen.

Einige Schüler, die hier einen wesentlichen Teil ihres Tages verbringen sollten, kannte Carmen schon. Die anderen kamen aus anderen Klassen. Carmen würde sich erst an sie gewöhnen müssen.

Sie standen oder saßen in kleinen Grüppchen beieinander, lachten, alberten herum, daddelten wie wild auf ihren Handys, zeigten sich die Fotos, die sie mit dem Handy am letzten Wochenende gemacht hatten, im Freibad, an den Ricklinger Teichen.

Mit einem Blick überflog Carmen den ganzen Raum. Dort, in der letzten Reihe in der Mitte war ein Platz frei.

Sie wollte ihn gerade ansteuern, als Petra, die Ziege aus ihrer alten Klasse, die eigentlich niemand mochte, durch den Raum rief: „Was will denn die hier? Kennen wir die nicht?“

Auf einmal waren alle Blicke auf Carmen gerichtet.

Einen winzigen Augenblick schoss ihr das Blut in den Kopf. Doch dann hatte sie sich gefangen.

„Hallo, Petra! Ja, ihr kennt mich. Ich bin wieder hier“, sagte sie leichthin.

Sie ging auf die letzte Reihe zu, nickte Lena freundlich zu.

„Ist hier frei?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sie sich und verstaute ihre Bücher, die sie vom Schulassistenten bekommen hatte, unter dem Tisch.

„Was ist das für ein Kurs?“

Die Frage war dumm. Carmen kannte ihren Stundenplan, aber sie dachte sich, das wäre die beste Möglichkeit, miteinander zu sprechen.

Und tatsächlich schien Lena dankbar zu sein.

„Deutsch bei der Rowisch. Ist ganz ordentlich, manchmal etwas langweilig. Ich verstehe sowieso nicht, was die dauernd will. Aber sie ist ganz lustig, nimmt nicht alles so ernst.“

„Und was nehmt ihr im Augenblick durch?“

„Ach“, klagte Lena, „’Kabale und Liebe’. Ist kotzlangweilig. Aber die Rowisch findet das großartig. Ich verstehe das nicht. Kein Mensch spricht so, und keiner empfindet so.“

Sie reichte Carmen das Reclam-Heft über den Tisch.

Frau Rowisch, eine Endfünfzigerin, betrat den Raum.

Nicht augenblicklich, aber doch recht schnell kehrte Ruhe ein.

„Wir haben“, begann sie, „eine neue Mitschülerin. Eigentlich eine alte, aber sie war eine längere Zeit leider verhindert.“

Sie nickte Carmen zu.

„Willst du nicht nach vorne kommen?“, forderte sie Carmen auf.

Carmen stand auf und ging nach vorne, nicht linkisch, wie sie es noch vor den Ferien gemacht hätte.

Nachdem sich das leise Getuschel gelegt hatte, fuhr sie fort:

„Carmen hat mir gestattet, davon zu sprechen. Sie hat über drei Monate gefehlt. Sie ist von Zuhause ausgerissen und hat auf der Straße gelebt.“

„Auf dem Straßenstrich?“

Marc lachte anzüglich, machte eine entsprechende Geste und sah sich Beifall heischend in dem Raum um. Einige Jungen reagierten, die meisten Mitschüler fanden seine Bemerkung gar nicht so witzig.

Ob sie Carmen mochten, nachdem sie sich drei Monate etwas getraut hatte, wovon sie nur träumen konnten, das wussten sie nicht. Aber sie mochten auch nicht Marcs Zoten. Wahrscheinlich war er ein ganz kleines, armes Arschloch, das nur so tat, als ob.

Frau Rowisch überging die Bemerkung.

„Jetzt ist sie zurückgekehrt und will das Abi machen.“

„Und weshalb ist sie weggegangen?“

Jeder in der Klasse spürte die Aggressivität in der Stimme. Nein, Carmen war nicht mehr eine von ihnen.

Eigentlich war es Carmen peinlich, so im Mittelpunkt zu stehen, aber sie riss sich zusammen und sah ganz offen ihre Mitschüler an. Sie sah Petras kalten Blick und wusste, sie müsste sich vor ihr in Acht nehmen, sie sah die anderen, die an ihrem Schicksal interessiert waren, und sie sah die wenigen, die sie beneideten.

„Willst du uns etwas von dir erzählen?“, fragte die Rowisch.

Einen Augenblick war Carmen verlegen.

Was sollte sie erzählen? Was erwartete man von ihr? Konnte sie ihr Elternhaus erwähnen? Konnte sie sagen, dass alles da angefangen hatte. Dass sie es nicht mehr hatte aushalten können mit dem ständig besoffenen Vater, mit der Mutter, die nie da war? Konnte sie erzählen von all den Enttäuschungen und den vielen Wunden, die ihre kleine Seele davongetragen hatte? Konnte sie erzählen, wie sie ganz unten gewesen war? Und wie sie ihn getroffen hatte und was er für sie bedeutete?

Ohne dass sie sich dessen bewusst wurde, hatte sich Carmen auf die Ecke des Lehrertisches gesetzt.

„Wisst ihr“, begann sie, noch zögernd, „zu Anfang wollte ich nur weg. Zu Hause hielt ich es nicht mehr aus. Und dann traf ich Ruka, einen ganz coolen Typ. An den kam keiner ran. Er brauchte nur eine Handbewegung zu machen, und alle kuschten. Jedes Mädchen wollte ihn haben. Er hatte die Auswahl.“

„Du auch?“, fragte eine Mitschülerin.

„Mich hat er überhaupt nicht beachtet.“

Auf einmal herrschte gespannte Aufmerksamkeit in der Klasse.

Wie war das Leben auf der Straße? War es gefährlich? Wurde man beklaut? Wo schlief man? Woher bekam man Essen? Wo konnte man sich waschen? Wo seine Wäsche wechseln?

„Wo hast du gelebt? Was heißt, auf der Straße leben?“

„Nicht, was Marc meint. Ich habe im Bahnhof gelebt, auf dem Raschplatz, hinter der Auffahrt zum Parkhaus, da haben wir uns eingerichtet, zwei Jungen und drei Mädchen, alle ungefähr so alt wie ich. Und wir waren in der Passerelle, aber nur bis sie den Sicherheitsdienst hatten. Und manchmal war ich im Güterbahnhof. Da konnte man auch mal ein Feuer machen. Einer hatte einen kleinen Kocher dabei, dann haben wir zusammengelegt und uns eine Büchse Erbsensuppe warm gemacht.

Und wenn es einige Tage geregnet hatte, konnte man seine Kleidung trocknen. Das war auf dem Bahnhof nicht möglich.

Wenn das Wetter gut war, habe ich unter Brücken gelebt. Am liebsten unter den Ihme-Brücken. Aber dann gab es diese zerstückelte Fraueneiche, die man in Säcken gefunden hatte. Da sind wir ganz schnell weggegangen. Nicht weil wir Angst hatten, aber die Polizei hätte uns aufgegabelt und mitgenommen.“

Es war ruhig geworden in der Klasse. Auch Marc sagte nichts mehr und sah etwas beschämt aus dem Fenster.

„Wovon hast du denn gelebt? Ich meine, du musstest doch irgendwann essen?“, fragte Lena.

„Ich habe das gegessen, was die Kunden in den Imbissbuden übrig gelassen hatten, ein halbes Brötchen mit Ketchup oder einen Löffel Suppe. Weißt du“, sagte sie, als sich Lena vor Ekel schüttelte, „wenn du Hunger hast, isst du alles.“

„Und warum gehst du auf einmal wieder zur Schule?“, wollte Petra wissen und funkelte Carmen herausfordernd an, „was ist jetzt so anders als vorher?“

Carmen sah sie lange an, sagte nichts, hatte ihre Hände in ihren Schoß gelegt und schien sie zu betrachten.

„Kannst du dir vorstellen, ich sitze im Unterricht neben dir, seit Tagen ungewaschen, mit strähnigen Haaren, schmutziger Kleidung, stinkend.

Würdest du mich willkommen heißen?

Du würdest die Nase rümpfen, dich abwenden, würdest dich auf einen anderen Platz setzen. Ich könnte es dir nicht verübeln.

Wenn du es dir einmal in der Woche leisten kannst, dir auf dem Hauptbahnhof die Hände zu waschen und vielleicht das Gesicht, wenn du höchstens einmal im Monat auf dem Autohof duschen kannst, wer kann dich dann ertragen?“

„Du könntest doch in der Schule duschen, vor dem Sportunterricht.“

Petra war noch nicht bereit aufzugeben.

„Irgendwann, und das geht sehr schnell, fühlst du dich nur noch wie Dreck. Und du kannst nur noch leben, wo Dreck ist.“

Es war still geworden im Klassenraum.

„Und wie hast du es geschafft, da wieder raus zu kommen?“

Die Frage war ganz leise gestellt worden, irgendwo aus der hinteren Ecke. Keiner drehte sich um, um zu erfahren, wer sie gestellt hatte. Sie alle hätten sie stellen können, hätten sie stellen mögen.

Wie konnte jemand, der so tief unten gelandet war, auf einmal wieder aufstehen?

Carmen hielt immer noch ihren Blick gesenkt, betrachtete lange ihre Hände, die in ihrem Schoß ruhten, schwieg.

Es schien, als wagte niemand zu atmen, aus Angst, diese Stille zu stören. Man hätte eine Feder hören können, die zu Boden schwebte.

Ganz langsam hob Carmen ihren Blick.

Lächelte.

Glücklich.

Ganz weit weg verlor sich ihr Blick.

Sie trocknete die Tränen nicht, die ihre Wangen hinab rannen.

„Ich habe meinen Liebsten gefunden“, hauchte sie, kaum vernehmbar.

Wolfskinder

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