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Der Entschluss

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Am Abend begab sich der Magister in des Titzel Gottschalks Schenke. Schweigend betrat er den düsteren Raum mit der flachen Decke und den winzigen Fenstern. Es roch nach fauligem Würzfleisch und süßlichem Met. In den Öllampen über den Tischen züngelten winzige Flämmchen und spendeten ein spärliches Licht.

Er warf den Mantel auf den Stuhl und lümmelte sich an einen der Buchenholztische neben der Esse. Dort saß er oft und hing seinen Gedanken nach. Dann steckte er sich meist eine Pfeife an und sondierte die Runde. War ein geeigneter Gesprächspartner zu finden, bat er ihn zu sich und hielt ihn den ganzen Abend frei.

Der Titzel kannte seine Vorlieben; gutes Essen und ein gutes Bier, dazu eine kurzweilige Unterhaltung. Dabei interessierten ihn weder Stand noch Rang. Solange er sich verstanden fühlte, war ihm jeder willkommen. Selbst das Gespräch mit Vagabunden scheute er nicht, lachte und schwatze mit ihnen, als wäre es das Natürlichste von der Welt.

Man hielt ihn, wie alle Hexenjäger, für einen sonderbaren Kauz. Sie redeten geschwollen, neigten oft zu Argwohn und mieden irdische Genüsse. Aber er war anders. Auch wenn er den schwarzen Umhang und die Ordenskette trug, schätzte man seine Gesellschaft. Er verstand durchaus zu unterhalten, war dem Frohsinn nicht abgeneigt und verlor sich oft in erstaunlicher Selbstironie.

Heute aber wirkte er mürrisch und bedrückt. Kaum, dass er jemanden beachtete. Er hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und starrte stumpfsinnig vor sich hin. Irgendwann riss ihn Titzel mit seiner Frage aus den Gedanken.

Was? Ach ja! Wie immer bestellte er eine Biersuppe und einen Humpen. Dann steckte er ihm drei Gulden in den Gürtel und versank erneut in Trübsal.

Seltsam war das. Obgleich hier Stammgast, fühlte er sich plötzlich fremd. An den Tischen lungerte allerlei Gesindel; einige Kaufleute waren dabei, ebenso ein paar heruntergekommene Landsknechte. Selbst der Spielmann in der Ecke schien heute schlecht aufgelegt. Als er ihm einen Kreuzer zuwarf, damit er endlich etwas Fröhliches anbringt, bekam der nur eine schwermütige Weise zustande.

Marie Schneidewind war ihr Name, zwanzig Jahre, Witwe und Mutter eines Kindes. Nicht ein einziges Mal hatte er sie beim Namen genannt. Warum eigentlich?

Dabei war sie anders, irgendwie eigenartig und verstand allein durch ‚Wirkung‘ zu beeindrucken. Das war ihm bisher noch nie passiert. Sie wog die Worte wohl, besaß einen messerscharfen Verstand und blieb dennoch erstaunlich natürlich und bescheiden. Er hatte Erkundigungen über sie eingeholt und nichts Gutes dabei erfahren. Sie wäre raffiniert und doppelzüngig und verstünde aus allem das Beste für sich herauszuholen - eine Hexe eben.

Übliches Geschwätz, dachte er bei sich. Wahrscheinlich bin ich verrückt. Ja, ich muss verrückt sein. Anders ist das nicht zu erklären.

Und doch war ihm, als erinnere sie ihn an jemanden, und das bereits vom ersten Moment an.

Verdammt! Es war ein Wort, das einem auf der Zunge liegt, doch dummerweise gerade nicht einfällt. Man sucht sich mit Macht darauf zu besinnen, fühlt sich schon nahe dran, aber es bleibt verschwommen.

Als ihm Titzel den Met brachte, fiel es ihm ein. „Es liegt an ihren Augen, nur an ihren Augen!“ sagte er und sah ihn verwundert an.

Der wusste zwar damit nichts anzufangen, nickte aber dennoch zustimmend. Doch je länger der Magister darüber nachdachte, umso klarer wurde es ihm. Sie konnten so ausdrucksvoll und warm, zugleich aber auch kalt und stechend dreinschauen, dass man niemals wusste, woran man ist.

Jetzt endlich wurde es ihm klar.

Vor vielen Jahren hatte ihn schon mal jemand so angesehen, mit den gleichen Augen, dem gleichen Blick und auch dem gleichen Gefühl - da war er sich sicher. Es war eines jener Bauernmägde, die ihn aus irgendeinem Grund interessierte, und die er später völlig vergessen hatte.

Sie war so unschuldig und rein; er hingegen, als junger Novize, noch voller Gier und Zügellosigkeit. Jetzt erinnerte er sich genau. Damals war er zu Gast beim Junker Joss, einem Bekannten seines Vaters und Herr der Lande Lauenburg und Bütow. Sie saß derweil auf einer Bank, ihm dem Rücken zugewandt und arbeitete irgendetwas.

Dabei fing sie an zu singen, ganz leise und für sich. Da begann sein Herz zu klopfen. Er stand auf und schlich sich an sie heran. Als er sich zu ihr setzte und ihr übers Haar strich, zuckte sie zusammen und wollte schon aufspringen. Er aber nahm ihre Hand und küsste sie sanft und sah ihr in die Augen.

Darüber lachte sie plötzlich wie ein Kind. Aber nur einen Augenblick. Dann wurde sie ernst und sprang schnell auf, wobei ein sonderbares Zucken über ihr Gesicht glitt, beinahe so, als wollte sie weinen. Er setzte ihr nach, küsste ihre Hand und zog sie auf seine Knie. Dem wagte sie sich nicht zu widersetzen und lächelte verschämt. Es war ein widernatürliches Lächeln, als wenn man etwas duldet, was große Pein bereitet.

Das verletzte ihn.

Ihr ganzes Gesicht glühte jetzt vor Scham, indes er wie trunken auf sie einredete und ihr von Dingen erzählte, die sie verlegen machten. Dabei verstand er sich selbst nicht mehr. Durch welchen Zauber war es ihr möglich, ihn dazu zu bringen?

Es lag an ihren Augen - sie hatte ihn so angesehen und dadurch entflammt. Wenn sie das aber tat – so dachte er damals - geschah das mit Absicht, obschon sie wusste, dass er das Zölibat geleistet hatte. Sie durfte ihn also nicht so ansehen. Dazu hatte sie kein Recht.

Plötzlich aber geschah etwas Seltsames. Mit einem Male schlang sie beide Arme um seinen Hals und fing ganz von selber an, ihn immer wieder heiß zu küssen. Ihr Gesicht war dabei ganz verzückt, und ihre Augen leuchteten. Zwar war er völlig außerstande, die Unmöglichkeit dessen begreifen, und doch gefiel es ihm.

Als es dann zu Ende war, schien sie darüber verwirrt, dass er sie nicht mehr liebkoste. Sie sah ihn an und lächelte schüchtern. Plötzlich bekam er Angst vor diesem erschrockenen, unverständigen Blick. Er wusste, dass er grenzenlos Unanständiges getan hatte und empfand einen tödlichen Schrecken davor. Dafür hasste er sie. Schweigend hatte er sie verlassen.

Am folgenden Tag vermisste er seinen Hirschfänger und schlug beim Junker Krach. Da sie seine Kammer aufräumte, geriet sie unter Verdacht und bekam sofort Prügel. Man band sie auf den Bock und schlug sie windelweich.

Sie aber schrie unter den Schlägen nicht, sondern schluchzte nur ganz leise, vielleicht, weil er zugegen war und sie sich vor ihm schämte?

Dann fand er ihn einige Tage später wieder, wagte es aber nicht zu sagen. Stattdessen reiste er unter einen Vorwand ab, auch wenn ihm das leidtat.

Bereits damals machte er eine erstaunliche Entdeckung, dass nämlich jede schändliche Lage einen außergewöhnlichen Reiz auf ihn ausübte. Es war nicht die Niedertracht an sich, die ihn verzückte, sondern der Rausch infolge der Niedertracht. Sie gab ihm die Gewissheit seiner Überlegenheit, die ihn erbaute und die er fortan suchte.

Seitdem wusste er, dass solche Schändlichkeiten sein Schicksal bestimmten. Aber ein Hexenjäger und Inquisitor durfte keine menschlichen Schwächen zeigen. Für Mitleid und Barmherzigkeit blieb kein Platz. Sie waren nur Irritationen im Kampf gegen das Böse und nichts weiter als ein Zeichen moralischer Schwäche.

Sie hieß Svea und hatte ihn damals mit ihrer Standhaftigkeit verwirrt. Nicht mal unter Schlägen war sie bereit, etwas zuzugeben, was ihr Erleichterung verschafft hätte. Natürlich hätte das nichts an ihrer Unschuld geändert. Dennoch wäre ein Eingeständnis für sie vorteilhafter gewesen. Folglich war sie dumm.

Und noch etwas störte ihn: Obwohl sie ihm zu Willen war, hatte sie ihn nur mit Äußerlichkeiten verlockt. Ihr Inneres hingegen war ihm fremd geblieben. Folglich mochte er nur ihren Körper, nicht aber ihren Verstand. Seither war er der Überzeugung, dass man beides niemals haben kann. Nur die Liebe zu Gott vereint beides.

Diese Marie Schneidewind aber war anders. Sie war klug, ja geradezu verschlagen, und er fürchtete sie, weil er ahnte, dass sie ihm als Weib wohl erstmals beides geben könnte.

Aber dazu wird es jetzt nicht mehr kommen, denn sie wird brennen! dachte er bedrückt und legte die Hände auf die Augen. Die Vorstellung, sie am Pfahl und vom johlenden Pöbel verspottet zu sehen, erfüllte ihn mit tiefem Kummer.

Gegenüber saß eine Dirne im roten Kleid und tiefem Ausschnitt. Sie funkelte ihn an und machte ein eindeutiges Zeichen.

„Was gaffst du so?“, keifte er. „Weißt du, was eine Hexe ist? Das ist ein standhaftes Weib, das mehr Charakter zeigt, als wir alle zusammen. Und ihr, die ihr dann auf dem Marktplatz jubeln werdet, wisst, dass mit ihrem Brennen auch ein Teil eurer Seele stirbt, da niemand die Größe besitzt, ihr beizustehen.“

Niemand verstand ihn. Man glaubte, er sei betrunken. Vielleicht war er das auch, denn er bestellte sich jetzt einen ganzen Krug, auch für die anderen Tische.

Am Ende hielt er die ganze Spelunke frei. Man bejubelte ihn, rief Trinksprüche und soff auf sein Wohl. Auch er stemmte seinen Humpen und leerte ihn mannhaft. Dann lachte er, als habe er niemals etwas Dümmeres vollbracht, stieg auf den Tisch und sang aus voller Kehle eine schmutzige Weise. Alles klatschte, man jubelte ihm zu. Die ganze Schenke glich einem Tollhaus und feierte den spendablen Gastgeber, der nicht müde wurde, den Pöbel mit obszönen Sprüchen anzufeuern.

Irgendwann stürzte er hinaus und übergab sich.

Draußen herrschte stockfinstere Nacht. Der Himmel war sternenlos. Die klare Luft tat ihm gut. Vereinzelt flackerten Laternen an hölzernen Pfählen und wiesen den Weg. Da ertönte ein Glockenschlag, irgendwo rief der Wächter die zwölfte Stunde aus. Es stank nach Jauche. Ratten wühlten in herumliegenden Abfällen, und es war angebracht, sich hölzerne Staketen unter die Schuhe zu schnallen, da die Gülle zuweilen knöcheltief stand.

Ihm war es gleich. Er stampfte durch den Schlamm, als wollte er sich absichtlich besudeln - je derber, desto besser.

In solchen Momenten glich die Stadt einem Rattenloch, wo es nicht ungefährlich war. Unter den Torbögen lungerte lichtscheues Gesindel und hatte schon so manchen ehrbaren Bürger um Leib und Leben gebracht.

Als ihn ein hinkender Bettler um Geld anging, jagte er ihn fort. Daraufhin versperrten ihm zwei dunkle Gestalten den Weg; einer stand vor, der andere hinter ihm. Der Vordere hatte einen Knüppel in der Hand und nahm eine drohende Haltung ein.

Jetzt ging alles sehr schnell. Augenblicklich stürzte dieser Bursche auf ihn zu, indes ihn der Hintere umfasste und seine Arme umklammerte.

Doch der Magister konnte sich entreißen, ergriff seine im linken Ärmel steckende Misericordia, jenen dreikantigen Dolch, der selbst einen Harnisch durchbohrt, wenn man nur kräftig genug damit zustößt.

Noch bevor der Angreifer den Knüppel erheben konnte, rammte er ihn blitzschnell in dessen Hals, drehte ihn kurz und zog ihn wieder heraus. Diesem quollen sofort die Augen auf, er röchelte kurz. Blut schoss aus der Wunde. Dann sank er reglos zusammen.

Von der Kaltblütigkeit dieser Attacke überrascht, versuchte der andere zu fliehen. Doch der Magister setzte nach, bekam ihn zu fassen und riss ihn zu Boden. Schnell war seine Gegenwehr gebrochen. Gekonnt setzte er ihm das Knie in den Nacken, überstreckte seinen Kopf und schlitzte ihm mit einem gezielten Schnitt die Kehle auf. Dessen Körper zuckte noch eine Weile, dann erschlaffte er.

Der Magister erhob sich und stand keuchend über seinem Opfer. Er empfand kein Mitleid. Im Gegenteil, er bespuckte ihn noch und strich die Klinge an dessen Rock ab.

Jetzt bemerkte er, wie sich der Hinkefuß davonmachen wollte. Mit ein paar kurzen Sätzen war er heran. Brutal schlug er ihm die Krücke weg, worauf dieser wie ein nasser Sack zu Boden fiel. Dann setzte er auch ihm den Fuß in den Nacken.

Doch er zögerte. Sein Wimmern hielt ihn zurück. Das wäre eine unverdiente Gnade, dachte er und drückte sein Gesicht in den Schlamm, wieder und wieder. Dann ließ er von ihm ab. Aufgekratzt begab sich nach Hause.

Als städtischer Camerarius musste er nicht mehr in einer Klosterklause hausen, sondern wohnte in einer kleinen Kammer neben dem Ratshaus. Vor seinem Fenster im Obergeschoss wuchs eine prächtige Buche, deren Blühen und Duften ihn im Frühjahr stets erfreute. Seinem Rang nach stand ihm eine Aufwärterin zu, die ihm täglich das Zimmer machte und das Essen bereitete.

Dabei war die Käthe eine zänkische Alte mit kleinen, boshaften Augen, die er nicht leiden mochte und die ihn bestahl. Am liebsten würde er sie davonjagen. Aber als ordentliches Mitglied des Tribunals hatte er Anspruch auf eine Bedienstete, selbst wenn es ein solcher Drache war.

Doch so sehr sie ihn auch verärgerte - seine Gedanken waren längst woanders. Was er auch tat, woran er auch dachte - diese Hexe war allgegenwärtig. Welche Macht hatte sie nur über ihn, dass er an nichts anderes mehr denken konnte? Er ahnte ihre Leidenschaft, hielt sie für eine Frau voll ungestilltem Verlangen und ertappte sich bei mancherlei verbotenen Dingen.

Die Schauerlichkeit dieser Vorstellung faszinierte und ängstigte ihn gleichermaßen. Schwindelanfälle voll brennender Wollust quälten ihn. Oh, die Phantasie konnte grausam sein, vor allem, wenn sie unerfüllt blieb. Nichts ist mehr wie zuvor, sein ganzes Leben schien aus den Fugen geraten. Jedes Gleichmaß, jede Rationalität war vergessen, und er durchlebte plötzlich längst verloren geglaubte Träume.

Da fasste er einen absurden Entschluss. Er polterte durch‘s Haus und rief nach Käthe. Als sie kurz darauf schlaftrunken mit der Kerze in der Hand vor ihm erschien, befahl er, ihn für diese Nacht einzusperren und den Schlüssel an sich zu nehmen. Sie sollte unbedingt darauf achten, dass vor dem Morgen niemand zu ihm gelangte. Er habe berechtigten Grund zur Annahme, dass ihn der Dämon verfolge und ihm Böses wolle. Die Mächte der Finsternis bedrohten ihn seit diesem Prozess überall und er müsste vor der Vollstreckung sicher und vor allem ungestört sein.

Die Alte wunderte sich zwar über diesen ausgefallenen Wunsch, merkte aber sofort, dass er getrunken hatte. Das war bei ihm nicht ungewöhnlich und so fand sie auch nichts dabei. Also begleitete sie ihn in sein Zimmer, richtete ihm schnell das Bett her und verschloss es von außen. Den Schlüssel nahm sie wie befohlen an sich und würde ihm erst am Morgen wieder öffnen.

Kaum war sie jedoch fort, schlich er erneut an die Tür und lauschte. Als er annehmen konnte, dass sie wieder zu Bett gegangen war, warf er sich die Soutane über und legte seine Ordenskette um, die ihn als Mitglied des Tribunals auswies. Dann verstaute er eine Flasche mit Wasser und einen Napf Kamillensalbe zusammen mit einem Bündel Leinenbinden und einigen Kräutern in einer Tasche und huschte zum Fenster hin.

Er öffnete es und griff nach einem Ast der Buche. Über diesen hangelte er sich zum Stamm und kletterte an ihm hinab. Dann eilte er in schnellen Schritten zum Turm, um noch etwas zu erledigen, was unbedingt zu erledigen war.


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Die Lohensteinhexe

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