Читать книгу Die Lohensteinhexe - Kristian Winter - Страница 8

Im Verlies

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Es war bereits nach Mitternacht, die Glocke hatte schon zweimal geschlagen. Er wusste, dass sie sich im ‚Hexenstall‘ befand, jenem finsteren Loch im untersten Winkel des Turmes, wohin kein normaler Gefangener gebracht wurde. Aufgrund der Abgeschiedenheit konnten die Hexen dort ihre dämonischen Kräfte nicht entfalten, und das Gewölbe lag so tief, dass ihre Schreie kaum noch zu hören waren.

Völlige Dunkelheit, Isolation und Kälte zerstörten schnell ihre Geisteskraft, so dass die meisten dem Wahnsinn verfielen. Sie fingen an zu delirieren, rissen sich die Haare aus und tranken den eigenen Urin. Auch wurden schon gegenseitige Verletzungen bis hin zu Erdrosselungen beobachtet. Nur selten blieb eine bei klarem Verstand. Hinzu kamen die Übergriffe der Wärter, die ihre Wehrlosigkeit ausnutzten und allerlei ‚satanische Spiele‘ mit ihnen trieben. Allein diese Vorstellung machte ihn rasend, und sollte er jetzt einen ertappen, würde er ihn auf der Stelle töten.

Am Turm angekommen, befahl er dem Wächter, das Verlies zu öffnen. Nach dessen Einwand wegen nachtschlafender Zeit und den Gefahren unheimlicher Mächte, brüllte er ihn derart zusammen, dass dieser nichts mehr zu sagen wagte.

Schließlich entriss er ihm das Schlüsselbund, stieß ihn beiseite und schloss selber die Tür auf. Der völlig überrumpelte Wächter ließ ihn gewähren.

Drinnen herrschte völlige Dunkelheit. Mit einer Laterne in der Hand stieg er die Treppe hinab. Sie war eng und steil und er musste sich an einem Handlauf festhalten. Der Geruch von Moder und Fäulnis schlug ihm entgegen. Eine Fledermaus flatterte auf und erschreckte ihn. Sein Herz klopfte ihm jetzt bis zum Hals.

Unten angekommen, leuchtete er das Gewölbe aus. Der Boden bestand aus gestampftem Lehm. Die grobgemauerten Wände waren feucht und teilweise schimmelüberdeckt. An einigen Stellen hatte man Stroh verstreut. In einer Ecke entdeckte er einen Hexenkäfig. Das war ein mit einer Kette an der Decke befestigter mannshoher Drahtverhau, in dem man besonders hartnäckige Fälle einsperrte. Hier wurden die Unglückseligen wie Tiere gefüttert und erst gerichtet, wenn sie dem Schwachsinn verfallen waren. Das machte vor dem Pöbel einen besonderen Effekt und bestärkte noch einmal die Notwendigkeit des Urteils.

Doch der Käfig war leer, die Zugangsklappe offen. Ein Geräusch ließ ihn zusammenfahren. Er meinte, eine Stimme zu hören, war sich aber nicht sicher.

Konnte es sein, dass sie schon der Teufel geholt hatte? Wohin er auch leuchtete - er konnte sie nicht finden. Beim Gedanken an die Fledermaus, kam ihm ein schlimmer Verdacht. Hastig bekreuzigte er sich und schaute beklommen nach oben. Und tatsächlich war ihm jetzt, als streife ihn ein eisiger Hauch.

Wieder vermeinte er, eine Stimme zu vernehmen, konnte sie aber nicht verstehen. Möglicherweise bildete er sich das aber auch nur ein, wie er überhaupt in letzter Zeit seinen Sinnen nur noch wenig vertraute.

Er stocherte mit dem Fuß im Stroh herum. Endlich spürte er einen Widerstand. Es war - ein Bein.

Als er das darüber liegende Stroh entfernte, erkannte er eine Gestalt. Sie lag apathisch auf dem Rücken mit ausgestreckten Gliedmaßen und weit aufgerissenen, starren Augen. Ihr Mund war leicht geöffnet und ihr Kopf etwas zur Seite geneigt.

Doch sie zeigte keine Regung. Selbst als er die Laterne über ihr schwenkte, bewegte sie sich nicht.

Ein riesiger Schrecken durchfuhr ihn. Sofort legte er den Finger an ihren Hals, stellte aber erleichtert fest, dass sie noch lebte. Ihr Gesicht war blass und eingefallen, ihr Leib ausgemergelt und voller Schmutz. Sie war bleich und wirkte völlig dehydriert. Man hatte ihr nicht mal ein Kleid gegeben. Noch immer war sie nackt und lediglich mit diesem Schafspelz bedeckt. Dieser Anblick zerriss ihm das Herz.

Er kniete vor ihr nieder, stellte die Laterne ab und legte ihren Kopf in seinen Schoß. Dann holte er die Flasche hervor und benetzte ihre Lippen mit Wasser. Sie begann sich zu regen, griff danach und trank begierig. Er begann indes, ihre geschwollenen Gelenke mit der Salbe zu behandeln und wickelte sorgsam die Leinenbinden darum.

Dann lagerte er ihre Beine hoch, damit ihr Blut besser zirkulierte, verabreichte ihr etwas Baldrian und überstreckte den Kopf für eine bessere Atemzufuhr. Darin hatte er Erfahrung. In seinem weltlichen Leben diente er lange Jahre als Kürassier im Heer des Burggrafen und hatte dabei so manche Verletzung behandelt. Dieses kam ihm später oft zugute und brachte ihm große Achtung ein.

Zaghaft zog er ihr Augenlid hoch. Ihre Pupillen waren geweitet, verengten sich aber im Schein der Laterne. Zweifellos war sie wach, doch nicht bei Verstand. Vielmehr befand sie sich in einer Art Delirium, redete wirr und lachte zwischendurch hysterisch. Offenbar war ihr Geist bereits verloren. Das schmerzte ihn, weil er das ahnte und nicht verhindern konnte.

Wie lange er jetzt neben ihr saß und das ‚Ave Maria’ betete, wusste er nicht. Er tat es einfach mit dem brennenden Wunsch nach ihrer Erlösung und im festen Glauben daran.

Und was ging ihm nicht alles durch den Kopf, entwirrte und verwirrte sich erneut, ohne dass er es fassen konnte. So muss man sich fühlen, wenn man den Verstand verliert, dachte er und betrachtete das bedauernswerte Weib zu seinen Füßen, deren ganze Schwäche darin bestand, Stärke zu zeigen, wo Schwäche verlangt war.

Wieso konnte sie nicht gestehen, um wenigstens den Vorwurf einer hartnäckigen Boshaftigkeit zu entkräften – dem schlimmsten Indiz einer Hexe? Ihr Defensor hätte dann zweifellos Milderung für sie erwirken können.

Fast wurde er darüber wütend. Doch plötzlich bemerkte er, wie der Irrsinn aus ihren Augen schwand und sie ihn fragend anschaute.

Als sie ihn aber erkannte, wich sie erschrocken zurück und verkroch sich unter dem Pelz. Er versuchte, sie zu beruhigen. Doch sie begann sofort zu schlagen, zu treten und wie wild zu schreien. Selbst als er sie umfasste und mit Macht zur Besinnung bringen wollte, biss sie ihm in die Hand. Erst unter seinem starken Klammergriff, womit er sie überwältigte, kam sie allmählich zur Ruhe.

„Dem Herrn sei es gedankt! Du bist noch nicht verloren“, stieß er aus und drückte sie erleichtert an sich.

„Seid Ihr es, mein Fürst?“, fragte sie indes, am ganzen Leib zitternd.

„Nein. Aber ich bin gekommen, dir Licht in deiner Dunkelheit zu geben.“

Er überwand seinen Widerwillen, den man für gewöhnlich in Gegenwart solcher von Gott gestraften Geschöpfe empfand, und malte ihr das Kreuz auf die Stirn. „Nimm diesen Segen, meine Tochter, denn ich vergebe dir.“

„Und ich dachte schon, Ihr habt mich vergessen.“

„Wie könnte ich das, wo du doch so tapfer warst.“

Sie sah ihn verwundert an. „Tapfer?“

„Ja, wie eine Königin.“

„Ihr treibt Euren Spott mit mir!“

„Durchaus nicht.“

Doch plötzlich prägte sich ein vollkommenes Entsetzen in ihre Züge. Ein krampfhaftes Zucken lief über ihr Gesicht. Beschwörend hob sie die Hände und brach in ein Weinen aus. „Warum sagt Ihr mir das? Wieso kommt Ihr her, wenn Ihr mich hasst?“

„Ich hasse dich nicht!“ Er umklammerte ihre Hände und versuchte, sie zu beruhigen. „Ich habe dich nie gehasst, und für mich bist du auch keine Hexe. Aber wenn alle Welt gegen dich ist, bin selbst ich machtlos. Das Tribunal will dich brennen sehen und ich werde es nicht verhindern können. Aber ich verspreche dir, du wirst nicht leiden.“

„Nicht leiden?“ Verwunderung weitete ihre Augen. „Wie meint Ihr das?“

„Ich tue, was ich für richtig halte, und jetzt frage nicht weiter. Es wird schnell gehen. Ich verspreche es!“

Seine Worte zeigten Wirkung. Das Entsetzen wich aus ihrer Miene, obwohl sie ihn noch immer ängstlich ansah, sichtlich bemüht, ihn zu verstehen.

Dann aber streckte sie ihm zaghaft die Hand entgegen, als wolle sie sich von seiner Tatsächlichkeit überzeugen, und endlich umspielte auch ein erstes schüchternes Lächeln ihre Lippen.

Stumm sah sie ihn an, immer wieder mit dem selben quälenden Zweifel und den gleichen schweren Gedanken. Bald schlug sie die Augen nieder, bald erfasste sie ihn mit einem schnellen, durchdringenden Blick. Erneut streckte sie die Hand nach ihm aus und berührte ihn. „Wirklich, mein Fürst, Ihr seid es.“

Der Magister war irritiert.

„Warum nennst du mich dauernd Fürst?“

„Seid ihr denn keiner?“

„Nein. Wie kommst du darauf?“

Und wieder verhärteten sich ihre Züge.

Da verlor er die Beherrschung, packte sie an den Schultern und rüttelte sie. „Marie Schneidewind, Tochter des Joseph und dessen Frau Magda Gräber! Was redest du für einen Unsinn? Ich bin es, der Magister Daniel Titius, hiesiger Camerarius und dein Ankläger! Ich bin gekommen, dir zu vergeben!“

Sie sah ihn verständnislos an. Dann aber schien sie den Sinn dieser Worte zu erfassen. „Vergeben? Ihr meint, dann werde ich nicht im Fegefeuer schmoren?“

„Nein.“

„Wieso seid Ihr Euch so sicher?“

„Weil ich für dich beten werde.“

„Das würdet Ihr tun?“

„Ja, für dich werde ich es tun, und ich bin gewiss, dass mich Gott erhören wird.“

Da fiel sie ihm um den Hals und begann zu schluchzen. Dabei redete sie allerlei Unverständliches. Aber es war mehr ein Lachen und Weinen zusammen, durchbrochen von zusammenhanglosen Worten und Erklärungen. Jetzt verlor sie auch alle Scheu, wurde unerwartet vertraulich und zwirbelte während des Redens sogar die Spitze seines Bartes um ihren Finger. Dabei schmollte sie wie ein Kind, das sich für eine Dummheit schämt.

Er war verwundert. Es behagte ihm nicht, dass sie ihn plötzlich duzte und ‚ihren Erlöser‘ nannte, auch nicht, dass sie ihm dabei so schamlos nahe kam.

Was hat sie vor?, dachte er. Sie treibt Narren mit mir, will mich einlullen und für ihre Zwecke missbrauchen.

Doch im selben Moment lachte er darüber, denn wie sollte sie dazu in der Lage sein. Sie war nicht mehr bei Verstand und sah in ihm etwas, was er gar nicht war, womöglich den Leibhaftigen selbst. Absurde Vorstellung.

„Küss‘ mich“, forderte sie ihn plötzlich auf und riss ihn aus seinen Gedanken. „Das willst du doch die ganze Zeit.“

„Du bist von Sinnen“, antwortete er und wich erschrocken zurück.

„Ja, aber küss‘ mich trotzdem.“

Der Magister schwieg eine Weile, als verstehe er das alles nicht. Dann aber neigte er sich zu ihr herab und küsste sie auf den Mund. Allerdings war er sich nicht sicher, ob er es wirklich tat.

Wieder ergriff sie Unruhe. Sie fasste ihn am Revers und zog ihn zu sich heran. „Wenn du mich willst, dann nimm mich jetzt. Nimm mich so, wie du noch nie eine Frau genommen hast. Doch zuvor musst du mir noch etwas versprechen, hörst du? … Kümmere dich um mein Kind. Es ist so unschuldig und rein. Es befindet sich bei meinem Vater. Doch der ist krank und der Herr wird ihn bald zu sich nehmen. Dann wäre es verloren. Du aber bist ein guter Mensch und ich vertraue dir, wie ich noch nie einem Menschen vertraut habe. Es ist ein Mädchen. Nimm dich ihrer an wie deines eigenen Kindes … Versprich es, bitte!“

Als er in ihre Augen schaute, stockte ihm der Atem. Was verlangte sie da von ihm? Das war doch unmöglich. Aber ein solch bitteres Flehen ließ ihn nicht kalt.

Er versprach es, worauf sie ihm um den Hals fiel und mit Küssen übersäte. „Oh, du Lieber, du bist mein Retter, mein Engel. Der Herr hat dich mir gesandt“, sagte sie und zeigte sich zärtlich hingebungsvoll, schaute zu ihm auf und rieb wie eine Schmusekatze ihr Kinn an seiner Wange

Durch ihre plötzliche Nähe verängstigt, wurde ihm unwohl und er wich zurück. Sie aber ließ es nicht zu. Sofort drängte sie nach und begann, ihn erneut zu küssen. Dabei zwängte sie ihre Zunge in seinen Mund und umklammerte seine Finger, so dass sein Widerstand bald erlahmte.

Dabei wurde sie immer leidenschaftlicher, spürte seine Sehnsucht nach Gelüsten, derer sein Körper schon seit langem entwöhnt war und verstand sie meisterlich zu wecken. Was dabei in ihr vorging, war schwer zu sagen. War es wirkliche Leidenschaft im Wissen um ein letztes Mal, oder nur kühle Berechnung mit einem noch nicht näher bestimmten Ziel?

Wie dem auch sei, sie bot alles auf, als ginge es nur darum, ihn durch die Erfüllung seiner Wünsche um den Verstand zu bringen.

Das Fell glitt von ihren Schultern. Voller Verlangen reckte sie sich ihm entgegen. Zwar war er noch immer bemüht, sich vor ihrer Nacktheit zu ekeln und in ihrem Verhalten etwas Schmutziges, Sündhaftes zu sehen, dem er unbedingt widerstehen müsse. Doch als er ihre halbgeschlossenen Augen sah, ihren leicht geöffneten Mund, den in diesem Moment ein liebeslüsternes Lächeln verklärte, war er so benommen, dass sein Widerstand schnell erlahmte.

Jetzt ließ er auch zu, wessen er sich lange verweigerte, und ihm wurde klar, was ihn wirklich hergetrieben hatte. Sie war ihm notwendig geworden wie die Luft zum Atmen. Der Gedanke an sie hatte Begierden von schriller Dringlichkeit in ihm entfacht. In ihrer Gegenwart empfand er kein Unbehagen mehr. Es verlangte ihn nach ihr mit der Hartnäckigkeit eines ausgehungerten Tieres, und sie schien das zu wissen.

Schon spürte er, wie sie ihm die Soutane öffnete und den Reif um seine Hüften löste. Dabei legte sie ein großes Geschick an den Tag. Obgleich ihn das verwunderte, nahm er es dennoch hin, wie so vieles, was er nicht mehr verstand und auch gar nicht verstehen wollte. Seine Vorsicht wurde plötzlich von einer brutalen Verwegenheit verdrängt, die ihn zwang, diese so beherzt dargebotene Leidenschaft anzunehmen und bis zum Rande auszukosten.

Und als er schließlich den von ihr ausgehenden warmen Duft vernahm – einen durchdringenden, bitteren Dunst - überkamen ihn brennende Wolllustgefühle, die er nicht mehr steuern konnte.

Augenblicklich stiegen alle aufgestauten Urtriebe in ihm auf, so dass ganz ungewollt ein schwerer Seufzer aus seiner Brust drang. In einem Anfall wilder Raserei packte er sie und drückte sie mit roher Gewalt zu Boden. Er hielt inne und starrte sie an. Und wieder lächelte sie, als wüsste sie längst, wonach er gierte.

Der sonst so überlegte und wohlgeordnete Magister erschien plötzlich wie trunken vor Wonne. Sein unbefriedigter Körper stürzte sich besinnungslos ins Verlangen. Ungestüm drang er in sie, indes sie ihn mit ihren Waden umklammerte, seinen Hals liebkoste und sich auch im Weiteren als wahre Liebeskünstlerin erwies.

Alles um ihn her erschien ihm wie im Traum. Ihre Leiber verschmolzen. Alle Abstände rückten zusammen und verschwammen in einem glitzernden Etwas. Empor geschleudert in unbekannte Sphären, ließ er sich treiben in einem Meer der Gefühle, völlig willenlos, in jenem unbekannten Rausch, von dem er schon so geträumt, doch welcher ihm bisher verwehrt geblieben war.

Die Zeiten hielten inne, alles verlor sich in Bedeutungslosigkeit. Das Einzige, was jetzt noch zählte, war der Augenblick samt der innigen Zweisamkeit, die beide fortan auf ewig miteinander vereinte.


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Die Lohensteinhexe

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