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8 Sehnsucht

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Am nächsten Morgen!….würde ich jetzt gerne schreiben, doch die Nacht war noch nicht vorbei.

01:56 – Justine: Du weißt, Felix, um ehrlich zu sein, als ich auf die Seite kam, meine Ambitionen sind: einen ernsten Mann zu finden, der nette, entzückende Simpas hat, um sehr glücklich zusammen zu sein. Ich mag es, meinen Mann glücklich zu machen und sogar zum glücklichsten Mann auf dem Planeten. Ich bin ohne Tabus. Ich liebe alles in der Liebe. Ich mag keine Männer, die nur über Sex im Netz reden, weil nicht nur Sex ist Liebe, sondern auch die Liebe der Schwester. aber es ist mir wirklich egal, denn selbst wenn nichts zwischen uns passieren kann, wie Sie mir sagen, möchte ich, dass Sie wissen, dass Sie wirklich ein liebenswerter und besonders aufrichtiger Mann sind, die jede Frau gerne im Leben haben will, um glücklich zu sein

Verstanden? Ich schon! Justine ist Romantikerin. Und sie redet über Liebe und Sex in einer Tonart, die ich mag.

02:11 – Felix: Liebe Justine. Danke für deine ehrlichen und schönen Worte. Ja, ich habe es gerade noch einmal nachgelesen, was wir uns vor zwei, drei Tagen geschrieben haben. Ich weiß, was du suchst und ich habe gesagt, dass ich dieser Mann nicht sein kann. Aber, egal, was jetzt noch geschieht: ich habe viele Jahre lang keine Sehnsucht mehr verspürt. Ich dachte, in meinem Alter hat man das nicht mehr. Ich habe keine Ahnung, warum das geschieht, aber das ist genau, was ich fühle: Sehnsucht. Ich weiß, dass ich das nicht sollte und dass das verrückt ist, aber ich habe heute Abend sehnsüchtig auf eine Nachricht von dir gewartet. Und jetzt gehe ich schlafen. Ich wünsche dir eine gute Nacht. P.S: wann hast du Geburtstag? Ich im April.

Natürlich hatte ich keine Ahnung, wie dass hatte geschehen können. Doch da stand es, das Hammerwort – Sehnsucht! Zeit, darüber nachzudenken?

Nach allem Möglichen kann man sich sehnen. Nach Liebe, natürlich vor allem Liebe! Aber auch: nach anderen Menschen, Heimat, Anerkennung, nach der Ferne, Reichtum, einem sorglosen Leben, Freiheit, sogar nach dem Tod. Zwei Dinge aber haben alle Sehnsüchte gemeinsam: sie zielen auf etwas, das man nicht oder nicht mehr hat. Und: mit der Distanz wächst die Verklärung.

Das Objekt der Sehnsucht wird weichgezeichnet von einer Melange aus Wünschen und Begierden, umflort von dem, was Verdrängung und andere gnädige Mechanismen unseres Seelenlebens davon übriggelassen haben. Mit jedem Meter Entfernung, mit jeder Sekunde des Getrenntseins, werden die störenden Kanten des/r Geliebten ein wenig glatter. Je größer die Distanz, desto größer der Spielraum für Fantasien und die sogenannte gefühlte Wirklichkeit. Wie erst, wenn man das Original noch gar nicht kennt?

Noch etwas Anderes ist wesentlich für Sehnsucht: sie wächst, in der Regel, auf dem Boden der Unzufriedenheit, einer schmerzvollen Gegenwart, die man, so wie sie ist, nicht mehr erträgt. Menschen, die mit sich und ihrem Leben im Frieden sind, sehnen sich nach nichts, außer vielleicht danach, dass alles bleibt, wie es ist. Meine Wirklichkeit?

Das, was ich nicht mehr ertrage, ist die Einsamkeit. Die kriecht mir, mittlerweile fast jeden Abend, den ich in meiner Einzelzelle verbringe, in die Knochen und zersetzt mich innerlich wie ein Säurebad. Nicht, dass ich es nicht, für eine Weile, gut mit mir allein aushielte. Eigentlich kann ich mich ganz gut leiden. Gelegentliches Alleinsein gehört für mich sogar wesentlich zum guten Leben und zur seelischen Gesundheit. Es ist das, was man braucht, um zu sich zu kommen, in seine Mitte, zur Ruhe, zu sich selbst.

Einsamkeit ist aber etwas ganz anderes. Sie ist, im Gegensatz zur Freude am Alleinsein, das Leiden daran. Man leidet, weil man allein ist, obwohl man es gar nicht sein will.

Nicht, dass WhatsApp, Netflix, Amazon Prime, Instagram, ein Buch oder PC - Spiele nicht die eine oder andere Einsamkeitsattacke ersticken oder so zudröhnen können, dass man sie nicht mehr fühlen muss. Aber irgendwann lässt auch die härteste Betäubung nach. Irgendwann ist der Film zu Ende, das Buch gelesen, gehen die Freunde am anderen Ende der Leitung ins Bett. Dann tastet man neben sich, sucht nach Wärme, einigen Quadratzentimetern verschwitzter Haut, einem Schnaufen, einem Kuss, einer Umarmung, dem vertrauten Mundgeruch, einem „Gute Nacht, Schatz!“ oder einem Gedanken, den man noch austauschen möchte. Doch da ist nichts. Nichts als eine kalte Matratze und ein Kissen, für jemanden, dessen Namen man nicht kennt. Diese kalte Matratze, dieses leere Kissen, das ist der Nährboden, der Acker, auf dem Sehnsucht wächst. Sehnsucht nach einem Menschen, der sein Leben teilen will. Nach acht Stunden Pause streut die aktuelle Kandidatin ihre Samen aufs frisch gepflügte Land:

22.08.19, 10:34 – Justine: Und wissen Sie, dass Ihr Wort mich sehr beeinflusst, denn es ist so lange, wie ich Ihre Gefühle nicht gespürt habe und weiß, dass Sie wirklich ein netter und liebenswerter Mann sind, und ich hoffe auch, dass unsere Freundschaft so lange anhält

Die Saat beginnt, aufzugehen. Eine Stunde später will ich Fortsetzung.

11:38 - Felix: Ich hoffe, dass wir uns näherkommen können. Du hast mich berührt. Ich will, dass das weitergeht.

Es ist wunderbar, Geschichten aus dem wahren Leben zu hören, die klingen, wie Märchen aus tausendundeiner Nacht. Wenn ich sie nicht hören kann, dann will ich sie wenigstens lesen. Ich bin mir heute einigermaßen sicher, dass, hätte ich an dieser Stelle von wildem, ungehemmtem Sex gesprochen, sie auch auf diesem Gebiet etwas im Angebot gehabt hätte.

Ich, der Fisch, der an der Angel hing, kaute genüsslich auf dem Haken und freute mich, dass sich dieser Kontakt anfühlte wie Gesellschaft.

Achtung! Es gibt unzählige Warnungen im Netz vor Internetbekanntschaften, gerade aus dem Bereich Westafrika, vor allem Nigeria (die berühmte Yahoo-Connection), Elfenbeinküste, Mali. Es gibt diese Warnungen auf den Webseiten der ivorischen Botschaft, der französischen Botschaft in Côte d´Ivoire, des deutschen Auswärtigen Amtes, aber auch von Privatdetektiven, die Betrugsopfern beim Auffinden des gewünschten Gesprächs- Liebes- und/oder Lebenspartners, respektive Zahlungsempfängers behilflich sind. Es gibt so viele Erlebnisberichte von Geschädigten, dass man mit dem Lesen nicht fertig wird. Die französische Botschaft in Abidjan hat auf ihrer Website sogar eine Datei eingerichtet, in die man die gesuchte Person namentlich eintragen und melden kann.

All diese Hilfsangebote nahm ich zur Kenntnis. Aber ich las und nutzte sie natürlich nicht. Wer will sich, in meiner Situation, schon mit der Wirklichkeit befassen? Ich gab mich der Vorstellung hin, dass das kalte Kissen neben mir schon bald von einem 37 Grad warmen, sprechenden, atmenden Engel bevölkert würde. Wer braucht da Warnungen von Behörden?

Abends begrüßten wir uns überschwänglich und berichteten von unseren jeweiligen Erlebnissen. Rotkäppchen hatte die Großmutter mit „Kuchen und Wein“ beglückt. Was als Befürchtung bereits vorhanden war, entwickelte sich zunehmend zur Gewissheit. Die Ahnin wurde, in verdaulichen Portionen, als zusätzliche Partnerin etabliert. Ich akzeptierte das schleichend und erkundigte mich brav nach dem Befinden der alten Dame. Ihre Antwort:

23:57 - Justine: Meine Großmutter leidet an Herzerkrankungen. Um ehrlich zu sein, ich habe große Angst um meine Großmutter

Ahnen sie, worauf die Sache hinausläuft? Nicht? Dann gedulden sie sich bitte noch einen Moment. Zunächst wurde, morgens um halb drei, der nächste Treibsatz in meinem Hirn gezündet.

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