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Kapitel 7

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»Ah, da ist ja unsere geschätzte Frau Postenkommandantin!«

Ulla Heilmayer und Merana drehten sich gleichzeitig um. Drei Männer kamen auf sie zu. Wie Merana erfuhr, waren das Gottfried Erlinger, der Bürgermeister des Ortes, dessen Sohn Jock und Christoph Hornklang, der Kapellmeister der Krimmler Blasmusikkapelle.

»Ja, Martin, wenn die Umstände nicht so traurig wären, würde ich sagen: Schön, dich wieder einmal in der alten Heimat bei uns hier im Oberpinzgau zu sehen.« Merana sah den Bürgermeister mit leichter Verwunderung an. »Ja kennst du mich nicht mehr? Wir waren gemeinsam am Gymnasium in Zell am See. Ich allerdings nur für zwei Jahre.« Merana konnte sich nicht erinnern, den Mann als Mitschüler gehabt zu haben.

»Ich bin’s, der Stoffel aus der Parallelklasse!« Mit dieser Bemerkung ließ Erlinger seine schwere Pranke mit kumpelhafter Geste auf die Schulter des Kommissars krachen. Allein für diesen Akt plumper Annäherung hätte Merana ihn am liebsten auf der Stelle verhaftet. »Komm mit, Martin. Ich habe in meinem Büro einen selbst gebrannten Vogelbeer, zu dem muss man ›Sie‹ sagen, so gut ist der. Dann können wir auf unser Wiedersehen anstoßen.« Merana wischte energisch die Hand des Mannes weg und straffte die Schultern. »Erstens trinke ich im Dienst prinzipiell keinen Alkohol. Zweitens bin ich am Beginn einer Untersuchung und habe keine Zeit für Wiedersehensfeiern, und drittens, verehrter Bürgermeister Erlinger, würde ich Sie für den weiteren Verlauf unseres Gesprächs um einen sachlichen Ton ersuchen. Auch würde ich es vorziehen, dass Sie nicht nur Ihrem Schnaps gegenüber, sondern auch in Bezug auf meine Person beim ›Sie‹ bleiben.« Als würde eine voll erblühte Pfingstrose mit einem Schlag verwelken, verfiel Erlingers Gesicht. »Wie Sie meinen, Herr Kommissar.« Er fasste sich an die Jacke, versuchte, einen der Knöpfe zu schließen. »Womit kann ich helfen?«

»Mit Auskünften, möglichst schnell und möglichst präzise. Dazu können wir ja gerne Ihr Büro aufsuchen.«

Der Bürgermeister nickte, machte eine linkische Handbewegung in Richtung Gemeindeamt und schritt voran. Merana, die Beamtin und die beiden anderen Männer folgten. Das Büro des Ortschefs war großzügig eingerichtet. Ein breiter dunkler Schreibtisch mit einem großen Flachbildschirm beherrschte den Raum. An den Wänden hingen verschiedene Bilder. Eines zeigte Gottfried Erlinger mit einer Büchse in der Hand und hochgestrecktem Daumen. Zu seinen Füßen lag ein toter Hirsch. Auf den anderen Bildern waren verschiedene Aufnahmen des Ortes und der Krimmler Wasserfälle zu sehen. Jock Erlinger hatte auf Anweisung des Vaters Stühle aus einem Nebenraum geholt, sodass sie nun alle Platz nehmen konnten. Der Kommissar begann seine Befragung. Da keiner der drei Männer eine Erklärung dafür hatte, was mit Lena Striegler in der Nacht am Wasserfall passiert sein könnte, interessierte sich Merana für die letzten Stunden des Mädchens, in denen sie noch lebend gesehen worden war. Lena Striegler war am Vorabend bei der Sponsorenparty im Hotelgasthof Glockenwirt gewesen, so wie die drei anwesenden Männer und zudem eine Vielzahl anderer geladener Gäste aus dem Ort und der Region. Merana fiel auf, dass jedes Mal, wenn er Jock eine Frage stellte, der Bürgermeister sich sofort anschickte, die Antwort anstelle des Sohnes zu geben. Traute der Mann seinem eigenen Sohn nicht zu, einfache Fragen zu beantworten? Oder fürchtete er, Jock könnte etwas ausplaudern, das ihm selbst oder auch jemand anderem schadete? Oder war der selbstgefällige Ortschef einfach gewohnt, sich einen Dreck um den jeweils Befragten zu scheren und ohnehin für alle und jeden zu antworten?

»Wann hat Lena das Fest verlassen?«

Die drei Männer zögerten mit der Antwort. Selbst der Bürgermeister gab sich den Anschein, als denke er intensiv nach. Schließlich sagte der Kapellmeister: »Also ich kann mich erinnern, sie das letzte Mal so gegen Mitternacht gesehen zu haben. Da stand sie mit Vanessa an der Bar.«

»Vanessa?« Der Kommissar blickte in die Runde.

»Vanessa Hinterschattinger«, beeilte sich Christoph Hornklang mit der Antwort. »Sie ist eine der Marketenderinnen in unserer Musikkapelle.«

Mein Gott, dachte Merana. Wie kann man das seinem Kind antun? Zu Hinterschattinger einen passenden Vornamen zu finden, war sicher nicht leicht. Maria konnte er sich eventuell vorstellen oder Theresia oder einen anderen Vornamen, wie er zu einem Mädchen auf dem Land passte. Aber Vanessa? Offenbar hatte die Beliebtheit dieses Modenamens vor einiger Zeit auch Einzug in die hintersten Regionen des Pinzgaus gefunden. Er war gespannt, wann er der ersten Chantal begegnete. Chantal Vordertupfinger oder wie auch immer. Gut, sie würden die Marketenderin der örtlichen Blasmusik, Vanessa Hinterschattinger, bald befragen müssen, was sie über die letzten Stunden von Lena Striegler wusste. Und all die anderen Gäste der Party von gestern Abend auch. Sie brauchten mehr Leute, das war klar.

»Hat von den anderen Herren jemand das Mädchen nach Mitternacht noch gesehen?«

Er blickte auf den Bürgermeister, dann auf dessen Sohn. Beide schwiegen.

»Hat jemand eine Erklärung dafür, was Lena mitten in der Nacht am Wasserfall wollte?«

Jock setzte zu einer Antwort an, aber der Ortschef war schneller. »Sie ist oft zum Wasserfall gegangen. Das war ihr erklärter Lieblingsplatz. Deshalb haben wir auch gestern dort noch Aufnahmen mit ihr für den Marketenderinnen-Kalender gemacht.«

Merana schaute den Bürgermeister an. »Sie haben Aufnahmen mit Lena am Wasserfall gemacht? Wo sind die?« Eine Spur von Leben kam in das immer noch von Übernächtigkeit gezeichnete Gesicht Erlingers. Mit einem Anflug von Stolz in der Stimme sagte er: »Die sind in unserem War Room. Wir haben das Sitzungszimmer des Gemeindeamtes zu unserer Projekt-Kommandozentrale umgestaltet. Ich ersuche Sie, mir zu folgen.«

Er erhob sich von seinem Schreibtisch und stolzierte wie ein Viersterne-General voran. Merana und die anderen folgten ihm. Austrias Marketenderinnen Award stand in großen knalligen Lettern an der Tür zum Sitzungszimmer der Gemeindevertreter. Und darunter etwas kleiner: Event-Büro. Der große, lang gezogene Besprechungstisch in der Mitte des Raumes war bedeckt mit Schachteln, Plakaten, aufgestapelten Flyern. Von den Postern an den Wänden grinsten Mädchen. Alle trugen eher knappgehaltene Dirndlkleider, die viel Haut sehen ließen. Die Gesichter der jungen Frauen bemühten sich, dem Betrachter entgegenzulächeln. Jede Form des Ausdrucks war festzustellen: frech, schüchtern, dümmlich, lasziv, verkrampft.

»Wer steckt hinter diesem ganzen Zirkus?« Merana machte eine weit ausholende Geste. Die erste Reaktion des Bürgermeisters war Verblüffung, dann wurde er zornig. »Aber hör mal, Martin … ich meine, Herr Kommissar. Das ist kein Zirkus!

Der Marketenderinnen Award ist eine höchst erfolgreiche Unterhaltungs-Show mit hohen Einschaltziffern.«

»Ich habe gefragt, wer hinter diesem Spektakel steckt.«

Der Bürgermeister warf sich in die Brust. »Wenn du erlaubst, meine Wenigkeit.«

Es fiel ihm gar nicht auf, dass er wieder in das vertraute ›Du‹ zurückgefallen war. Merana ging nicht darauf ein. »Ich bin das Mastermind dieser erfolgreichen Aktion und zugleich der ausführende Chief Producer.«

Merana schob einen Stapel Flyer beiseite und stützte sich auf den Tisch. »Dann ersuche ich den Herrn Chief Producer um eine kurze Einführung in den Ablauf dieses Show-Bewerbes.«

Castingshows boomten, begann Gottfried Erlinger seine Ausführung. Gleichzeitig sei bei Publikum und Konsumenten eine gesteigerte Nachfrage nach Echtem und Ehrlichem festzustellen, nach Bodenständigkeit und allem, was natürlich ist. Und der Trend zum Regionalen, zu Produkten vom Land, zum Wiederentdecken der Tracht und der volkstümlichen Musik sei auch eindeutig erkennbar. Aber keiner sei vor ihm auf die geniale Idee gekommen, das alles miteinander zu kombinieren. Eines Sonntagmorgens, es war noch dazu im Frühling, als er wieder einmal bemerkte, mit welch großer Begeisterung sowohl die Einheimischen als auch die vielen Gäste das Auftreten der heimischen Blasmusik verfolgten und mit welcher Faszination sie sich von der natürlichen Ausstrahlung der Marketenderinnen anstecken ließen, da sei ihm die zündende Idee gekommen. Und keine zwei Stunden später war das Konzept zum ersten Austrias Marketenderinnen Award geboren. Seit drei Monaten laufe die Show höchst publikumswirksam auf drei Fernsehkanälen. In jedem Bundesland gebe es derzeit megageile Castingshows als Vorausscheidung. Und beim Finale in drei Wochen warteten 100.000 Euro auf die Siegerin. Und dazu ein hoch dotierter Vertrag als Trachten-Model für die Sponsorfirma.

»Und das ist mehr als eine Castingshow im üblichen Sinn, Herr Kommissar.« Der Bürgermeister war bei seinen Ausführungen in Schwung gekommen. Er versuchte, seinen Worten durch permanentes Lächeln und energisch ausgeführte Handbewegungen noch mehr Überzeugung zu verleihen. Es gehe bei diesem Fernsehereignis vor allem auch um Ideale und Werte wie Heimatverbundenheit, Tradition, Bodenständigkeit und natürliches Lebensgefühl. Mit den vielen Bildern der Landschaften und der Schätze der Region und mit den Einspielungen von den besten Blasmusikkapellen des Landes erfülle diese Reihe auch einen Kulturauftrag. Das sei auch der wichtigste Grund, warum er, der Bürgermeister seiner geliebten Heimatgemeinde Krimml, sich hier mit derart großem Engagement einbringe.

»Ich will die Fotos von Lena sehen.« Die harsche Aufforderung Meranas kam etwas abrupt und brachte den Bürgermeister in seinen begeisterten Ausführungen fast aus dem Konzept.

»Die sind auf dem Notebook«, murmelte Jock und schaltete das Gerät ein, das neben zwei Schachteln mit Werbematerial auf dem Tisch stand.

»Geh weg, das mache ich selbst«, schnauzte Erlinger seinen Sohn an und hackte mit den Fingern auf die Tasten. An der gegenüberliegenden Wand hing ein großer Flatscreen. 55 Zoll, schätzte Merana. Mit dem nächsten Tastendruck schickte Erlinger das erste Foto auf den Schirm. Es zeigte eine lachende junge Frau in Dirndlbluse und mit offenen Haaren vor der weißen Gischt des Wasserfalls. Sie sah ganz anders aus als das durch Kopfwunden entstellte leichenfahle Mädchen, das Merana vor drei Stunden auf den Felsen vorgefunden hatte. Weitere Bilder folgten. Bekleidung und Posen der jungen Frau wechselten, die natürliche Fröhlichkeit blieb. Lena in Trachtenbluse, Lena in Dirndlkleidern, Lena in Leggins. Lena nur mit knapper kurzer Lederhose bekleidet, die Arme vor den Brüsten des nackten Oberkörpers verschränkt. Im Hintergrund waren bei allen Einstellungen immer die von den Felsen herabdonnernden weißen Wassermassen auszumachen. Auf dem nächsten Bild war Lena nicht allein. Ein junger Mann mit kurzen Haaren und nacktem Oberkörper hockte auf den Steinen und hielt ein Saxofon zwischen den Knien. Lena kniete vor ihm und hatte die Hände um das Instrument gelegt. Das Mundstück des Saxofons hielt sie zwischen den Lippen, als lutschte sie daran. Der betont aufreizende Blick war direkt in die Kamera gerichtet. Merana hatte genug.

»Es reicht, Herr Bürgermeister. Sie können ausschalten!« Er deutete auf die kniende Lena mit dem phallischen Saxofonmundstück zwischen den Lippen. »So schaut also Ihre Wertevorstellung von Heimat und Tradition aus!« Der Angesprochene wirkte beleidigt und konterte, dass auch die Provinz mit der Zeit gehen müsse. Natürlichkeit sei eben vielschichtig und müsse ebenso vielschichtig vermittelt werden. Und gerade Lena habe viel von dieser Natürlichkeit ausgestrahlt, wie man ja auf den wirklich gelungenen Image-Shots sehen konnte.

»Und diese Bilder wurden von einem international mit Preisen ausgezeichneten Fotografen gemacht, Herr Kommissar. Charly Hawradil. Da haben wir keine Kosten und Mühen gescheut. Das sind Kunstwerke! Und der Meisterfotograf hat unsere Lena auch stets ins rechte Licht gesetzt. Sie war unsere aussichtsreichste Kandidatin. Sie hat das Ideal einer jungen Frau von heute in der Region verkörpert: bodenständig und dennoch modern.«

Merana hatte endgültig die Nase voll von den Phrasen. Er schickte sich an, das bizarre Ambiente dieses War Rooms zu verlassen, drehte sich aber am Ausgang noch einmal abrupt um.

»Schalten Sie noch einmal ein.«

Der Bürgermeister schaute ihn verwundert an, folgte aber der Aufforderung.

Auf dem Screen an der Wand flammte noch einmal das zuletzt gesehene Foto auf, Lena mit dem jungen Mann und dem Saxofon. Merana kam näher. Auf diesem Bild war es schwer auszumachen, wie er feststellte. »Gehen Sie zurück zu den Großaufnahmen.« Erlinger betätigte die Maus. Lenas Gesicht erschien erneut auf der Leinwand. Fern jeglicher Anzüglichkeit lachte hier einfach eine fröhliche junge Frau in die Kamera. Auf dieser Einstellung war es besser zu sehen.

»Was hat Lena da um den Hals?« Merana richtete die Frage an alle im Raum. »Sehen Sie die Kette mit dem Anhänger? Was ist das? Ein Seepferdchen?«

Der Kapellmeister antwortete als Erster.

»Nein, Herr Kommissar, das ist kein Seepferdchen, das ist ein Drache. Das Schmuckstück war Lenas Lieblingskette, die trug sie immer.«

Merana sah in die Runde. »Auch gestern Abend beim Fest?«

»Ja.«

Merana holte sein Handy hervor. Er öffnete den Ordner mit den eingegangenen Nachrichten. Thomas Brunner hatte ihm eine Auswahl der Bilder vom Tatort geschickt, auch Großaufnahmen von der Leiche. Merana vergrößerte die Bildausschnitte, die Kopf und Hals des toten Mädchens zeigten. Keine Kette, kein Drachenanhänger. Er wählte die Nummer des Tatortgruppenleiters.

»Thomas, habt ihr bei der Toten eine Halskette gefunden mit einem Anhänger?«

Nein, hatten sie nicht, kein Schmuck am ganzen Körper. Aber sie würden danach suchen. Merana bedankte sich für die Auskunft. Dann schaute er wieder auf die lachende, Lebensfreude ausstrahlende junge Frau am Bildschirm. Wo war die Kette mit dem Drachenanhänger geblieben? Hatte das Mädchen sie verloren? Bevor sie umgebracht worden war? Oder war das Schmuckstück danach abhanden gekommen? Ulla Heilmayer blickte ihm ins Gesicht, als lese sie seine Gedanken. »Ich weiß es leider auch nicht, Herr Kommissar.«

Erst jetzt fiel Merana auf, dass die Gruppeninspektorin blaue Augen hatte mit einem leichten Grauton. Wie bei einem Gebirgssee am frühen Morgen kurz vor Sonnenaufgang, wenn das Wasser matt zu leuchten begann.

Vor dem Gebäude des Gemeindeamtes trafen sie auf Hannah Gordon, eine Mitarbeiterin aus Thomas Brunners Team, und auf Revierinspektor Peter Ankerl. Beide luden Plastikboxen aus dem Streifenwagen. Die Behälter waren mit Gegenständen vom Tatort gefüllt. Der Revierinspektor trug immer noch seine dunkle Sonnenbrille, obwohl sich der Himmel inzwischen bewölkt hatte. Man kann es auch übertreiben mit dem Miami-Vice-Gehabe, dachte Merana.

»Wo sollen wir das Zeug hinbringen?«, fragte die Frau.

»Na am besten in unser Büro gleich im Erdgeschoss«, schlug Ulla Heilmayer vor. Die Polizeiinspektion Krimml mit ihren zwei Dienstzimmern war ebenfalls im Gebäude des Gemeindeamtes untergebracht.

»Nein«, entschied Merana, »ich habe eine bessere Idee. Kollege Ankerl, bestellen Sie dem Herrn Bürgermeister einen schönen Gruß von mir mit folgender Anweisung: Sein sogenannter War Room ist augenblicklich zu räumen. Er möge seinen Fernsehshow-Krempel woanders unterbringen. Auf Anordnung der Staatsanwaltschaft ist das Sitzungszimmer der Gemeindevertretung ab sofort die Einsatzzentrale für die kriminalpolizeilichen Ermittlungen in diesem Mordfall. Sorgen Sie bitte dafür, dass diese Aufforderung unverzüglich umgesetzt wird. Dann bringen Sie alle für unsere Arbeit notwendigen Utensilien in den Einsatzraum, auch diese Boxen. Alles klar?« Revierinspektor Miami Vice salutierte theatralisch und grinste. »Das wird so gar nicht nach dem Geschmack des guten Gottfried sein.«

»Vom Geschmack des Herrn Bürgermeister habe ich eben ein sehr eindringliches Bild bekommen. Das reicht mir. Also, Herrschaften, macht dem Ortsvorsitzenden gehörig Feuer unter dem Hintern!«

Ulla Heilmayer konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen. Dann drehte sie sich um und ging voraus. Wieder war Merana verwundert, mit welch auffallender Grazie diese Hundertkilofrau sich über die Straße bewegte. Sie kamen am Gastgarten eines kleinen Kaffeehauses vorbei. Die Kellnerin stellte eben eine Espressotasse vor einen Gast auf den Tisch. Heute früh war auch ihm an einem Kaffeehaustisch bei wunderbarer Aussicht auf die Salzburger Altstadt ein Espresso serviert worden. Das war nicht einmal acht Stunden her. Merana kam es vor, als seien inzwischen Jahre vergangen.

»Hallo, Ulla, ich habe gehört schon von die tragische Unglück.« Die braunhaarige Kellnerin im roten Dirndlkleid winkte der Beamtin zu. »Da wirst du haben jetzt viel Arbeit.«

»Ja, Milena. Das kannst du laut sagen.«

»Klingt auch nicht nach einer waschechten Pinzgauerin«, bemerkte Merana, als sie am Kaffeehaus vorbei waren.

»Nein«, erwiderte Ulla Heilmayer. »Milena kommt aus Krupina in der Slowakei. Und die zweite Kellnerin in diesem Kaffeehaus ist Ungarin. Beim Kirchenwirt servieren ein Bosnier und eine arbeitslose Zahntechnikerin aus Sofia. Und der Anderlbauer hatte heuer auf seiner Alm zwei Sennerinnen aus Chemnitz.«

Der Pinzgau sei in Europa angekommen, fügte sie hinzu, oder Europa im Pinzgau. Je nachdem, wie man das sehen wolle. Die Kellnerinnen kamen aus dem ehemaligen Ostblock, die finanziell potentesten Touristen aus Saudi-Arabien und die neuen Nachbarn am mit viel Geld gekauften und renovierten Bauernhof aus Russland.

»Woher kommen Sie?«, fragte Merana.

Sie hielt kurz inne. »Zumindest aus dem Salzburger Land. Ich bin vor acht Jahren aus dem Lungau hierher übersiedelt. Aber das ist eine lange Geschichte. Die erzähle ich Ihnen ein anderes Mal, wenn es Sie interessiert.«

Merana blieb stehen. In der Ferne donnerte die weiße Gischt zu Tal.

»Man spürt den Wasserfall auf Schritt und Tritt, in jedem Winkel des Ortes. Überall. Und es ist erstaunlich, wie weit das Geräusch des Wassers zu hören ist.«

Das Rauschen sei nicht immer gleich, erklärte seine Begleiterin. Wenn es im Ort noch klarer auszumachen sei als heute, dann bedeute das, Wind würde aufkommen, das Wetter drohe umzuschlagen. Die Krimmler bräuchten keine Meteorologen für irgendwelche Prognosen, sie hätten ihren Wasserfall.

Eine Stunde später standen sie wieder an eben diesem Naturwunder. Zuvor hatte Merana mit der Staatsanwältin telefoniert und sie über den noch eher kümmerlichen Stand der Ermittlungen informiert. Ein kurzes, aber von Meranas Seite energisch geführtes Telefongespräch mit dem Chef hatte zur Folge, dass der Polizeipräsident zustimmte, einige Kollegen aus anderen Abteilungen abzuziehen und zur Verstärkung nach Krimml zu schicken. »Die vom Brand und vom Betrug haben derzeit ohnehin wenig zu tun«, argumentierte der Kommissar. Zusätzliche uniformierte Beamte aus anderen Polizeiinspektionen des Pinzgaus und Pongaus hatte der Herr Hofrat ohnehin schon nach Krimml beordert. Daraufhin hatte Merana die Gruppeninspektorin ersucht, ihren Kollegen darüber zu informieren. »Rufen Sie den Ankerl an, er möge sich eine Gästeliste der Sponsorenparty besorgen und die eintreffenden Beamten entsprechend briefen. Sie sollen unverzüglich mit der Befragung der Partyteilnehmer beginnen. Wir brauchen dringend einen genauen Zeitplan zum Ablauf des gestrigen Abends: Was ist alles vorgefallen? Wer hat Lena Striegler zuletzt lebend gesehen?« Ulla Heilmayer wollte sich lieber selbst darum kümmern und nicht telefonieren. »Man muss den Kollegen Ankerl immer ein wenig an der kurzen Leine halten. Ich will nicht, dass er wie meistens den jovialen, klassen Burschen raushängen lässt und vor lauter Selbstgefälligkeit die Hälfte vergisst. Und dass er vielleicht auch noch mit seinem Miami-Vice-Schmäh die Kolleginnen anbaggert, muss auch nicht sein. Nichts gegen den Peter, Herr Kommissar. Aber dieser Fall, fürchte ich, ist ihm eine Nummer zu groß. Da muss die Chefin ran!« Merana sah sie an. Gehörte sie auch zu jenen Führungskräften, die immer glaubten, selbst alles am besten zu können? Egal. Hauptsache, die Ermittlungen kamen ins Rollen.

Das Tatort-Team hatte den Radius der Untersuchungen inzwischen erweitert. Man bezog jetzt auch den langen Weg mit ein, der vom Eingangsbereich zu den Wasserfällen führte, und zudem die Steige, auf denen man entlang der Fälle steil nach oben gelangte. Die Leiche des Mädchens war bereits abtransportiert worden und zusammen mit Polizeiarzt Richard Zeller auf dem Weg in die Gerichtsmedizin in Salzburg.

Merana wandte sich an den Chef der Tatortgruppe. »Wie schaut es aus, Thomas? Was kannst du mir vorläufig über eure Untersuchungen sagen?« Brunner wischte mit den Fingern über den Bildschirm seines Tablets. »Leider nicht viel. Wir sind immer noch beim Sammeln. Du weißt, dass es lange dauern wird, bis wir die Spuren auch ausgewertet haben. Aber Richard und ich haben zumindest eine Vermutung, wie es abgelaufen sein könnte. Ich betone noch einmal, Martin: Das ist eine Vermutung.«

Merana musste lächeln. Er war stolz darauf, dass es im großen Team der Salzburger Kriminalpolizei einige absolute Topleute gab. Thomas Brunner und Polizeiarzt Richard Zeller gehörten da zweifellos dazu. Wenn die beiden sich darauf einließen, eine ›Vermutung‹ zu äußern, dann war das in vielen Fällen schon sehr nahe an der Wahrheit.

»Also, Thomas, schieß los.«

Der Chef der Spurensicherung deutete zu jener Stelle, an der die Leiche gelegen hatte. »Der Fundort ist ganz sicher nicht der exakte Tatort. Den Spuren nach, die wir bisher ausmachen konnten, wurde sie vermutlich da vorne getötet oder zumindest angegriffen.« Er wies mit der Hand auf die Mitte des kleinen Platzes.

»Sie hat Wunden am Hinterkopf und seitlich oberhalb der Schläfe. Wir haben Blut auf einigen Steinen gefunden. Ob einer davon die Tatwaffe ist, können wir noch nicht sagen. Jedenfalls wurde das Mädchen dann hinüber zum Wasserfall geschleift. Sie lag definitiv eine Zeit lang im Wasser.«

»Könnte die Todesursache auch Ertrinken sein?«

»Möglich. Richard hat in seiner ersten Untersuchung keine Druckstellen auf der Haut gefunden, die darauf deuten würden, dass ihr Kopf unter Wasser gedrückt wurde. Aber es kann dennoch so gewesen sein.«

Warum hat der Angreifer oder die Angreiferin das Mädchen ins Wasser gezogen? Um die junge Frau endgültig zu töten? Um Spuren zu verwischen? Oder handelte der Täter oder die Täterin nach irgendeinem bizarren Ritual?

»Was hatte die Tote bei sich?«

Brunner wischte wieder über das Tablet und zeigte Merana mehrere Aufnahmen. »Diese schwarze Handtasche. Die ist schon eingepackt und mit den anderen Objekten drüben in der Einsatzzentrale. Wenn wir hier fertig sind, nehmen wir alles mit nach Salzburg zur Laboranalyse.«

»Was war in der Handtasche?«

»Nichts Auffälliges, der übliche Kram, den Frauen so dabei haben: Schminkzeug, Taschentücher, ein paar Rechnungen, Geldbörse, Bankomatkarte, Haarbürste, Zigaretten, Feuerzeug und ein Handy. Einer meiner Leute ist dabei, die Kontakte und die letzten Telefonanrufe zu checken.«

Merana blickte wieder zum Wasserfall. Gestern Nachmittag hatte eine fröhliche junge Frau, die unbekümmerte Lebenslust ausstrahlte, hier noch für den Fotografen posiert. Und wenige Stunden später war sie an derselben Stelle getötet worden.

Zufall? Oder hingen diese beiden Ereignisse zusammen? Sie würden es herausfinden.

»Danke, Thomas. Wann werdet ihr fertig sein?«

»Ich denke, morgen Vormittag. Dann können wir den Tatort wieder freigeben für die Besucher.«

Und die würden dann wohl zuhauf kommen und den Platz hier stürmen. In noch größeren Massen als sonst. Denn immerhin waren die berühmten Krimmler Wasserfälle jetzt um eine traurige Attraktion reicher.

»Pass auf, du Idiot. Der Bildschirm war sauteuer.« Bürgermeister Erlinger brüllte seinen Sohn an, als sei der schuld daran, dass er wegen diesem Arschloch von Kommissar seinen War Room räumen musste. Hätte er ihm doch damals beim gemeinsamen Schulwandertag in der ersten Klasse eine reingehauen, dann würde er sich vielleicht jetzt ein wenig wohler fühlen. Er hatte fast jeden verdroschen während seiner Schulzeit, nur das damals schmächtige Merana-Bürscherl leider nicht. »Und du, hilf dem Jock gefälligst!«, schnauzte er den Kapellmeister an, der auch noch im Zimmer war. »Allein kriegt der Depp den Flatscreen nie von der Wand.« Christoph Hornklang zerquetschte einen Fluch zwischen den Zähnen und legte Hand an den Bildschirm, während der Bürgermeistersohn mit einem Schraubenzieher die Wandbefestigung löste. Auch der Kapellmeister war sauer. Auf den Kommissar und auf den Bürgermeister. Denn Erlinger war auf die Schnapsidee gekommen, das Marketenderinnen-Event-Büro ausgerechnet in das benachbarte Probelokal seiner Musikkapelle zu verlegen. Christoph Hornklang hatte noch keine Ahnung, wo er die dort aufbewahrten Instrumente unterbringen sollte, die große Trommel, das Schlagzeug und die beiden Basstuben. Und wo sie in nächster Zeit proben könnten, wusste er auch noch nicht. Die Tür wurde aufgerissen, Cilli Krumpner stand im Raum.

»Was willst denn du da?«, fuhr der Bürgermeister sie an. Mit weit ausholender Geste schlug die Ortstratschen theatralisch ihre Hände vor der ausladenden Brust zusammen. Das alles sei ja so furchtbar, die arme Lena! Aber da das bedauernswerte Mädchen jetzt eben tot sei und der Bürgermeister dadurch seine Finalistin verloren habe, könnte sie sich vorstellen, für die Lena in die Presche zu springen. Zum Wohle des Ortes natürlich. Immerhin sei sie viele Jahre lang selbst Marketenderin gewesen. »Was hältst du davon, Gottfried?«

Erlinger schaute auf die Frau vor ihm mit dem verwischten Make-up, das die Falten nicht übertünchen konnte, und der überwuzelten Figur in dem viel zu engen Dirndlkleid. Dann wanderte sein Blick zu den jungen knackigen Mädchen auf den Werbepostern an den Wänden. »Cilli, nerv mi net du aa no! Verschwind! Und zwar pronto!«

Die so rüde Abgewiesene machte verschnupft auf der Stelle kehrt. »Ma wird do no an Vorschlag machen derfen!«, schnaufte sie beleidigt, als sie über die Treppe wieder nach unten rauschte.

Drachenjungfrau

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