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Kapitel 8

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Die Sonne war schon fast hinter der Gerlosplatte verschwunden, als Merana zusammen mit Ulla Heilmayer aufbrach, um die Familie des toten Mädchens aufzusuchen. Er war sich nicht sicher, ob er den Weg zum Thalerhof alleine noch gefunden hätte. Er war ihn ein einziges Mal gefahren, vor vielen Jahren. Während er neben der Gruppeninspektorin im Einsatzfahrzeug saß, ließ er die Bilder von damals Revue passieren. Er war in den Pinzgau gekommen, um der Großmutter einen Gefallen zu tun. Sie hatte zum Sterbetag ihrer Tochter, Meranas Mutter, eine Seelenmesse lesen lassen. Die kleine Kirche in Meranas Heimatort war fast bis auf den letzten Platz gefüllt gewesen. Seine Mutter war als Volksschullehrerin sehr geachtet gewesen. Sie hatte sich in einigen Vereinen engagiert, Feste und Schulaufführungen organisiert. Nach der Messe war eine junge Frau auf ihn zugekommen. Er hatte den Eindruck gehabt, sie von irgendwoher zu kennen. Das war nicht verwunderlich. Der Oberpinzgau war nicht allzu groß. Es gab nur wenige Orte. Da kannte nahezu jeder jeden. Ob er sich nicht mehr an sie erinnern könne, hatte ihn die junge Frau gefragt. Sie sei die Alma Thaler aus Krimml. Sie habe im Oberpinzgauer Kinderchor mitgesungen, den seine Mutter geleitet hatte. Merana erinnerte sich nur vage. Er dachte nicht gerne an seine Kindheit. Er hatte damals auch im Kinderchor der Mutter singen müssen. Er wollte das nicht. Das war ihm peinlich vor all den anderen Kindern, dass die ›Frau Lehrerin‹, die den Ton angab, ausgerechnet seine Mutter war. Er hatte oft absichtlich falsch gesungen, damit die Mutter ihn aus dem Chor nähme. Was sie dann auch tat. An Alma Thaler im Kinderchor konnte er sich nur sehr vage erinnen. Sie wäre drei Jahre in Schweden gewesen, hätte dort als Reiseleiterin gearbeitet, hatte sie ihm beim Aufeinandertreffen nach der Seelenmesse erzählt. Nun sei sie zurück in Krimml und würde vielleicht hier bleiben, wenn sie den Job in der Bank bekäme, den man ihr in Aussicht gestellt hatte. »Willst du mich nicht einmal besuchen, Martin?«, hatte sie gesagt und ihn dabei angestrahlt. »Ich wohne am Hof meiner Eltern. Ich lade dich zum Essen ein.« Das wollte er nicht. Vor zwei Jahren war seine Frau Franziska gestorben, an Lymphdrüsenkrebs. Seit damals scheute er den Umgang mit anderen Menschen. Im Dienst ließ sich das nicht vermeiden, aber außerhalb seiner Polizeiarbeit wollte er lieber mit niemandem zu tun haben. Sich zurückzuziehen, war ihm zur vertrauten Gewohnheit geworden. Aber Alma hatte nicht locker gelassen.

Sie hatte auch in letzter Zeit wenig Kontakt zu ihrer Heimat gehabt. Es wäre doch nett, bei einem gemütlichen Glas Wein ein wenig über die alten Zeiten zu plaudern.

Schließlich hatte er zugestimmt. Er wollte auch nicht ständig als der mürrische, menschenscheue Eigenbrötler dastehen, als den er sich damals selbst sah. Und manche Kollegen an seinem damaligen Arbeitsplatz bei der Polizei hatten ihn auch schon so genannt.

Die Gruppeninspektorin bremste plötzlich scharf und riss ihn damit aus seinen Betrachtungen. »Sorry, Herr Kommissar. Ich unterschätze diese Kurve immer. War wohl etwas zu flott dran.« An diese Stelle des Weges konnte Merana sich gut erinnern. Auch er hatte die kurvige Passage damals zu rasant genommen.

Der Strauß Rosen auf dem Beifahrersitz war zu Boden gefallen, daran konnte er sich jetzt wieder erinnern. Anfangs war die Atmosphäre ein wenig verkrampft gewesen, was mehr an ihm gelegen hatte als an Alma. Aber dann war der Abend ganz anders verlaufen, als er sich das vorgestellt hatte. Er hatte sich plötzlich wohl gefühlt in der Nähe dieser jungen Frau. Er rief sich ihr Bild vor Augen, wie sie damals ausgesehen hatte: Ihr schlanker Körper war in ein ärmelloses karmesinrotes Kleid gehüllt. Sie hatte sich eine Blume ins schwarze offene Haar gesteckt. Der Glanz ihrer Augen erinnerte ihn an die Farbe von dunklem Achat. Ihre feinen Brauen bildeten zwei makellose Bögen. Wenn sie lachte, verstärkten sich die Linien von Wangen und Kinn, bildeten ein zartes Sechseck um ihren Mund. Und sie hatte viel gelacht an diesem Abend. Sie hatten beim Essen gemeinsam gescherzt und sich gegenseitig Anekdoten aus ihrer Schulzeit erzählt. Sie war eine aufmerksame Zuhörerin, die gerne den Kopf ein wenig zur Seite neigte, wenn sie ihn über den Rand des hoch erhobenen Rotweinglases anschaute. Während der Hauptspeise, einem köstlichen Rehragout, war ihm zum ersten Mal aufgefallen, dass er schon ziemlich beschwipst war. Während des Desserts waren dann die ersten Donnerschläge zu hören gewesen, und bald darauf hatte prasselnder Regen eingesetzt. Alma war in der Küche verschwunden und bald darauf mit zwei Tassen Kaffee und einer Flasche Grappa wieder gekommen. Sie hatte ihm den Espresso hingestellt und sich ohne etwas zu sagen auf seinen Schoß gesetzt. Sie hatte sich die Träger ihres Kleides abgestreift, sein Gesicht in die Hände genommen und ihn geküsst. Ihre Zunge war wie ein kleines Tier über seinen Gaumen gefegt. Plötzlich erinnerte er sich wieder an den Geschmack ihrer Lippen. Die Bilder rasten durch Meranas Kopf, während der Dienstwagen mit der Gruppeninspektorin am Steuer bergauf fuhr. Alma hatte ihn in dieser Nacht nach draußen gezogen, mitten hinein in den Regen. Sie hatten einander die Kleider vom Leib gerissen und sich in der nassen Wiese geliebt. Sie hatte ihre Lust hinaus gebrüllt in die Schwärze der Nacht, während über ihnen der Donner grollte und das Zucken der Blitze sich entlud. Wie im Taumel waren sie dann zurück ins Haus geeilt und hatten auf den harten Dielen des Stubenbodens wild ineinander verschlungen weiter gemacht. Die Mauer, die er rings um die bohrende Verzweiflung seit dem Tod seiner Frau gelegt hatte, hatte plötzlich einen Riss bekommen. Und er erinnerte sich wieder an den Hunger und die Gier nach Leben, mit der er sich in den zuckenden, heißen, wollüstigen Körper dieser Frau versenkt hatte. Irgendwann waren sie dann erschöpft gewesen und auf dem Boden eingeschlafen, Alma mit dem Kopf auf seiner Schulter.

Der Polizeidienstwagen der Gruppeninspektorin nahm die letzte Kurve , dann hatten sie den Hof erreicht, der auf dem sanften Rücken eines Hügels lag. Merana fühlte sich wie gerädert. Er stieg aus dem Wagen. Die Sonne war inzwischen völlig hinter den Bergen versunken. Doch es würde noch mindestens eine Stunde hell sein. Für einen Augenblick gönnte sich Merana den wunderbaren Ausblick, den man von hier genoss und der ihn auch damals schon überwältigt hatte. Vielleicht auch, um sich kurz innerlich zu sammeln ließ er seine Augen in die Ferne gleiten, sah auf der linken Seite den Gernkogel und den Wildkogel, rechts von ihm den Gabler und den Broadlahner und in der Ferne die Loferer Steinberge.

Dann drehte er sich um und folgte Ulla Heilmayer.

Alma Striegler saß mit den beiden Kindern auf der Bank vor dem Haus. Das Kriseninterventionsteam war vor einer Stunde weggefahren. Merana hatte sich beim Einsatzleiter des Roten Kreuzes erkundigt. Das kleine Mädchen war acht Jahre alt und hieß Clara. Der Name ihres zwölfjährigen Bruders war Raphael. Lena war mit 17 Jahren die älteste der drei Geschwister gewesen, in drei Wochen wäre sie 18 geworden. Auch das hatte Merana inzwischen erfahren. Clara hatte den Kopf auf den Schoß der Mutter gelegt. Alma streichelte ihrer Tochter das Haar. Der Junge hielt das Gesicht an der Schulter der Mutter vergraben und schluchzte lautlos. Als die beiden Beamten ankamen, wurde die Haustür geöffnet. Der alte Mann, den er heute Morgen schon am Wasserfall gesehen hatte, trat heraus. Unwillkürlich blickte Merana sich um. Den Raben konnte er nirgends entdecken. Der Grauhaarige mit dem Bart war Arthur Thaler, Almas Vater, der mit ihr und den Kindern hier am Hof lebte. Ohne ein Wort zu sagen, stand Alma auf. Sie wartete, bis der Großvater sich zu den Kindern auf die Bank setzte, dann ging sie ins Haus. Merana bat die Gruppeninspektorin, kurz heraußen zu bleiben, er wolle zunächst alleine mit Alma Striegler reden. Ulla Heilmayer warf ihm einen erstaunten Blick zu, sagte aber nichts.

Der Kommissar betrat das Haus. Soviel er sich erinnern konnte, hatte sich seit seinem letzten Besuch wenig verändert. Im Vorraum waren Kinderschuhe aufgereiht. Die hatte es damals nicht gegeben. Alma saß auf der Bank am großen Kachelofen. Meranas Augen wurden beim Eintreten unwillkürlich von den Brettern des alten Holzbodens angezogen, auf dem sie sich damals mit aller Leidenschaft geliebt hatten. Alma war Meranas Blick gefolgt. Für einen Moment blitzte in ihren Augen Wut auf. Sie ruckte ihren Kopf in seine Richtung. Wie ein zorniger schwarzer Schwan sah sie ihn an.

»Alma, es tut mir leid«, begann er. Aber sie schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Spar dir das, Martin.« Er sah, wie die Wut in ihrem Blick verblasste und wieder der Trauer Platz machte. »Ich möchte wissen, wer meiner Tochter das angetan hat. Ich wünschte mir, ein anderer würde die Ermittlung führen, nicht du. Aber jetzt ist es halt einmal so, wie es ist.« Mit einem Ruck stand sie auf. Ein wenig von der Haltung des zornigen Schwans flammte wieder auf.

»Also, was willst du?«

»Wie geht es der Kleinen?« Er hatte den völlig entrückten, verzweifelten Blick des Mädchens draußen mitbekommen.

»Für Clara ist es besonders schwer. Sie ist sehr an ihrer großen Schwester gehangen. Lena war ihr ein und alles.« Sie kämpfte mit den Tränen, ihre Mundwinkel begannen zu zucken, das makellose Sechseck ihrer immer noch feinen Gesichtslinien geriet aus den Fugen. Merana war versucht, sie in die Arme zu nehmen, ihr übers Haar zu streichen. Aber er hielt sich zurück. Das wäre in jedem Fall das Falsche gewesen. Er bemühte sich, die nötige professionelle Distanz aufzubringen, wie bei jedem anderen Fall auch. Es klopfte. Ulla Heilmayer öffnete langsam die Tür. »Entschuldigung, Herr Kommissar. Sie haben Ihr Handy im Wagen liegen lassen. Deshalb hat Dr. Zeller mich angerufen.«

Sie hielt ihm ihr flaches Telefon hin. Merana nahm es.

»Hallo, Martin, zwei Dinge kann ich dir jetzt schon sagen. Sie wurde nicht vergewaltigt und sie ist nicht ertrunken. Sie war schon tot, bevor sie ins Wasser kam.«

»Wie lange lag sie dort?«

»Schwer zu sagen. Vielleicht zwei bis drei Stunden.«

»Danke, Richard, bitte ruf mich später noch einmal an.« Er gab der Gruppeninspektorin das Handy zurück und bat sie, gleich dazubleiben. Wieder prüfte ihn Ulla Heilmayer mit seltsamem Blick, sie sah ein paar Mal zwischen Merana und der Frau, die am Kachelofen stand, hin und her. Alma hatte die Arme eng um ihren immer noch mädchenhaft schlanken Körper gelegt.

»Ich will es wissen, Martin: Was hat der Arzt gesagt?«

»Lena ist nicht vergewaltigt worden. Das hat die Untersuchung eindeutig ergeben.«

Sie nickte kurz und drehte sich ab. Ihr Blick war auf das Fenster gerichtet.

»Vielleicht ist es besser, wenn wir uns setzen«, schlug Merana vor. Alma reagierte zunächst nicht, blieb einfach stehen, schaute unverwandt nach draußen. Dann gab sie sich einen Ruck und nahm wieder auf der Ofenbank Platz. Sie versuchte sogar einen Anflug von Lächeln. »Möchten Sie einen Kaffee?« Die Frage galt Ulla Heilmayer.

Die lehnte dankend ab. Merana begann behutsam, die ersten Fragen zu stellen.

Ab und zu mischte sich auch die Gruppeninspektorin mit einer Bemerkung ein. Für das, was ihrer Tochter in der vergangenen Nacht Schreckliches widerfahren sei, hatte Alma auch nicht den Ansatz einer Erklärung. Sie seien gestern Abend alle zusammen beim Fest gewesen. Sie hätten sich mit Lena gefreut, dass sie die Vorausscheidung gewonnen hatte. Das sei ihr sehnlichster Wunsch gewesen. Alma hatte zwar keine große Freude mit dieser Art von Wettbewerb gehabt, aber sie wollte ihrer Tochter auch nicht die Teilnahme verbieten. Dass Lena in der Nacht nicht heimgekommen sei, habe sie nicht bemerkt. Sie habe am Morgen gedacht, ihre große Tochter schlafe noch. Erst gegen neun Uhr habe sie nachgeschaut und entdeckt, dass Lenas Bett leer war.

»Ihrem Vater war auch nichts aufgefallen?« Die Frage kam von Ulla Heilmayer.

»Der war in der Früh auch nicht da. Aber der ist öfter mit dem Odo in der Nacht unterwegs und kommt erst gegen Mittag zurück.«

»Odo?«

»Das ist der Rabe.«

Merana fragte, ob sie Lenas Zimmer sehen könnten. Sie nickte und stand auf. An der Wand neben der Treppe, die vom Vorraum aus nach oben führte, fiel Merana ein Plakat auf. Es war die Ankündigung zu einer Schulaufführung. Die Drachenjungfrau stand als Titel über dem Bild, das eine Art Lindwurm mit weiblichem Oberkörper zeigte.

»Was ist das?«

Alma machte an der Treppe Halt. »In der Schule wird jedes Jahr das Spiel von der Drachenjungfrau-Sage aufgeführt. Raphael ist heuer auch dabei. Er hat das Plakat hier aufgehängt.«

Dann stieg sie nach oben und öffnete die erste Tür auf der linken Seite. Der Raum vermittelte genau den Eindruck, wie man sich das Zimmer einer 17-Jährigen erwartete: Ein heller Schreibtisch mit einem Laptop direkt vor dem Fenster, an den Wänden mehrere Poster mit Stars aus der Popwelt. Merana erkannte nur die Bilder von James Blunt und Lady Gaga. Alle anderen sagten ihm nichts. Das Bett an der Wand gegenüber der Tür war gemacht. Auf dem Kopfpolster hockten zwei Stofftiere, ein schwarzer Hase und ein grüner Teddybär. Neben der Tür stand ein Regal mit Büchern und DVDs. Eine Wand des Raumes wurde zur Hälfte von einem Kleiderkasten eingenommen. Zwei der vier Schubladen waren halb geöffnet. Über einen Stuhl waren achtlos mehrere T-Shirts und zwei Hosen geworfen. Alma griff mechanisch nach den Kleidungsstücken, öffnete die Schranktür und begann kopfschüttelnd, die Hosen auf Bügel zu hängen. Plötzlich wurde ihr die Sinnlosigkeit ihres Handelns bewusst. Sie ließ die übrigen Kleidungsstücke fallen. Ihre Schultern begannen wieder zu beben, ein Weinkrampf schüttelte sie. Ulla Heilmayer trat zu ihr und drückte sie sanft an sich. Merana spürte einen Kloß im Hals. Er wandte sich ab und betrachtete weiter das Zimmer der toten Lena. Fotos gab es keine, bis auf ein gerahmtes über dem Bett. Es zeigte die drei Geschwister auf drei Liegestühlen beim Eisessen. Eine unbeschwert fröhliche Erinnerung an einen heißen Sommertag am Strand. Neben dem Foto war ein hellgrünes Blatt mit Gedichtzeilen an die Wand geheftet.

Roas

Ti auf

aussi

ban Toi

Bretl weck

üwa Grenzn

ohne Angst

gscheita wern

hoam kema

Rucksack

auslaarn

Stoa oschau

ohne Angst

Das war Pinzgauer Dialekt. Merana versuchte für sich, es ins Hochdeutsche zu übersetzen.

Reise.

Tür auf, raus aus dem Tal.

Bretter weg.

Über Grenzen, ohne Angst.

Klüger werden.

Heimkommen. Rucksack ausleeren.

Steine betrachten. Ohne Angst

»Lena mochte dieses Gedicht besonders.« Alma stand neben ihm. »Es stammt von einer Autorin hier aus der Gegend.«

Gerlinde Allmayer stand in Klammer unter dem Gedicht.

»Wollte Lena weg?« Merana drehte sich zu Alma.

»Ja. Unbedingt. Sie wollte nicht hier versauern, wie sie immer wieder sagte. Ich hätte ihr vielleicht eine Stelle in unserer Bank verschaffen können, aber das hat sie abgelehnt. Es gibt nicht viele Möglichkeiten für junge Menschen hier im Oberpinzgau.«

»Hatte Lena einen festen Freund?«, fragte die Gruppeninspektorin.

Alma schüttelte den Kopf. »Nicht mehr.« Soviel sie wisse, habe Lena mit Max vor drei Wochen Schluss gemacht. Den Grund dafür wüsste sie nicht genau. »Eine 17-Jährige erzählt ihrer Mutter nicht immer alles.« Aber sie glaube, Max sei eifersüchtig gewesen, weil Lena sich mit den Burschen von der Film-Crew so gut verstanden hatte. Ihre Tochter habe halt gern geflirtet. »Sie war eine lebenslustige junge Frau, und alle mochten sie.« Sie bemühte sich, den aufkommenden Weinkrampf niederzuringen. »Wo ist dieser Max jetzt?« Auch das konnte Alma nicht mit Gewissheit sagen. Er wohnte nicht in Krimml. Lenas Ex-Freund stamme aus Saalfelden. Sie habe gehört, er sei seit ein paar Tagen auf Urlaub in Italien. Merana nickte der Gruppeninspektorin zu. Sie würden das überprüfen. Vielleicht war der junge Mann schon zurückgekehrt, vielleicht auch gar nie gefahren. Vielleicht war dessen Eifersucht der Schlüssel zur Lösung. Aber Merana hatte seine Zweifel. So einfach war es selten. Er ließ noch einmal die Unbekümmertheit, die dieses Zimmer ausstrahlte, auf sich wirken. Hier hatte bis vor Kurzem ein 17-jähriges Mädchen gewohnt, beliebt, aufgeschlossen, herzlich, neugierig aufs Leben. Und nun lag sie erschlagen und totenstarr auf dem Seziertisch in der Gerichtsmedizin. Er hatte sich zur Angewohnheit gemacht, der eigenen Trauer bei seinen Mordermittlungen aus professionellen Gründen keinen Platz einzuräumen. Aber er schaffte das nicht immer. Er zog den Abzug eines der Bilder vom Foto-Shooting am Wasserfall aus der Tasche. Die Fotos hatte Ulla Heilmayer besorgt. Er zeigte Alma das Bild und fragte sie nach der Kette.

»Das war Lenas Talisman. Ich selbst habe ihr die Kette zum 15. Geburtstag geschenkt.« Die Kette mit dem Drachen habe ihre Tochter immer getragen. Warum die Kette nun fehlte, konnte sie auch nicht erklären.

Dann gingen sie nach unten. Der Kommissar und die Polizistin verabschiedeten sich.

Clara saß jetzt alleine auf der Bank vor dem Haus. Ihr starrer Blick war in die Ferne gerichtet. Sie presste einen kleinen blauen Stoffdrachen an ihre Brust, den sie unaufhörlich streichelte. Ein eigenartiges dumpfes Klatschen war zu vernehmen. Merana blickte in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Er sah Raphael. Der stand etwa zehn Meter von einem Schuppen entfernt und schoss wie verbissen mit einem Bogen Pfeil um Pfeil auf eine Scheibe, die an der Wand des Verschlages angebracht war. Tränen kullerten über sein Gesicht. Auf der anderen Seite des Hofes, gegen den Hügel zu, über den der Weg ins Tal führte, hantierte der alte Mann an einem großen Stück Holz. Er bearbeitete es mit dem Messer. Zaunpfähle lagen locker übereinander gestapelt neben ihm. Auf einem der Pfähle hockte der Rabe und beäugte neugierig das Werk des Alten. Merana ging zu ihm hinüber. Sein Großvater habe auch solche Jägerzäune gebaut, begann Merana das Gespräch. Das beherrschten heute nicht mehr viele, wie er wüsste. Der Alte kerbte weiter an seinem Werkstück, als hätte er nichts gehört. Mit einem Mal hob er den Kopf und sah Merana direkt an. »Ich kenne Ihre Großmutter. Sie hat mir einmal geholfen, einen Traum zu deuten. Sie ist eine bemerkenswerte Frau.« Ja, das war sie. Und deshalb kannten sie auch viele hier in der Gegend, in der Region zwischen der Gerlosplatte und Zell am See. Der Alte widmete sich wieder seiner Arbeit.

»Wann haben Sie heute Nacht Ihre Enkeltochter am Wasserfall gefunden, Herr Thaler?« Wieder schwieg der alte Mann lange. Als er aufsah, waren seine blassen Augen mit Tränen gefüllt. »Viel zu spät, Herr Kommissar, viel zu spät.«

»Haben Sie Lena aus dem Wasser gezogen?«

»Ja.« Mehr sagte er nicht mehr. Er legte das Rundholz zur Seite, nahm den Raben mit dem Arm auf und ging auf das Haus zu. Somit hätten wir wenigstens das geklärt, dachte Merana und sah dem Alten nach. Hatte Arthur Thaler mehr getan, als seine Enkeltochter nur aus dem Wasser gezogen? Hatte er sie vorher auch hineingestoßen? Und war davor ein schwerer Stein in seiner Hand gewesen? Als hätte sie diese ungeheuerliche Anschuldigung gehört, hob die Kleine auf der Hausbank ganz plötzlich ihren Kopf und starrte zu Merana herüber. Wie eine Statue hockte sie da, unbeweglich, den Blick auf Merana gerichtet. Mehr noch. Sie sah durch ihn hindurch. So kam es dem Kommissar zumindest vor. Ihn fröstelte plötzlich. Dann senkte die Kleine wieder den Kopf und begann erneut, ihren Drachen zu streicheln. Die Lampe an der Hauswand flackerte auf. Erst jetzt bemerkte Merana, dass es schon ziemlich dunkel geworden war. Der Junge am Schuppen ließ sich von der hereinbrechenden Nacht nicht beirren. Unermüdlich schoss er Pfeil um Pfeil gegen die Holzscheibe. Einige blieben darin stecken, andere fielen zu Boden. Wenn er fertig war, sammelte Raphael die Pfeile ein und begann von vorne. Das dumpfe Klatschen klang wie das Schlagen von dicken Stäben gegen hohle Bäumstämme. Wie das vereinzelte Trommeln von Signalen. Eine unheilvolle Botschaft aus alter Zeit, deren Sinn man nicht mehr verstand. Merana lauschte. Ein weiterer Pfeil landete mit dumpfem Knall in der Scheibe. Und dem Kommissar entging auch nicht, dass selbst hier oben, weit entfernt vom Ort, das unaufhörliche Rauschen des Wasserfalls zu vernehmen war.

»Kennen Sie dieses Theaterstück von der Drachenjungfrau?«, fragte Merana, als sie wieder talwärts fuhren.

»Ja, das kennen hier alle. Es wird auch jedes Jahr von der Schule im Ort aufgeführt.«

Merana hatte das Gefühl, noch immer den Widerhall der einschlagenden Pfeile zu hören.

»Welche Figur könnte Raphael bei diesem Spiel darstellen?«

»Ich weiß es nicht genau. Aber vermutlich den Jäger. Das ist die zweite Hauptrolle neben der Drachenjungfrau.«

»Liegt dem Stück nicht eine alte Sage aus der Gegend zugrunde?«

»Ja, eine verwunschene Drachenjungfrau wartet darauf, endlich erlöst zu werden. Alle 100 Jahre erwacht sie hinter dem Wasserfall und darf sich zeigen. Die Sage erzählt, dass ein kühner Jäger eines Tages den Entschluss fasst, der Drachenjungfrau den erlösenden Kuss zu geben. Aber im letzten Augenblick übermannt ihn die Angst und er stürzt über die Felsen.«

Die Gruppeninspektorin trat auf die Bremse. Dieses Mal nahm sie die berüchtigte Kurve mit weniger Schwung.

»Hat Lena Striegler früher in der Schule auch bei diesem Spiel mitgemacht?«

»Ja, und sie war eine tolle Drachenjungfrau.« Merana sah die Frau am Steuer von der Seite her an. »Kennen Sie die Familie Striegler gut? Alma, die Kinder, den Großvater?«

»Gut ist vielleicht übertrieben. Was man halt so mitbekommt als Dienststellenleiterin in einer kleinen Gemeinde, wo jeder über jeden alles zu wissen glaubt.«

»Was ist mit Almas Mann?«

»Der ist vor fünf Jahren gestorben. Autounfall. Die Versicherung hat nichts bezahlt, denn er war sturzbesoffen. Gott sei Dank war Alma nie von ihrem Ehemann abhängig. Erstens verdient sie als Filialleiterin der örtlichen Bank nicht schlecht, und zweitens gehört ihr auch der Hof, den ihr der alte Arthur beim Tod seiner Frau vor zehn Jahren überschrieben hat.«

»Was ist mit der Kleinen?«

Sie antwortete nicht sofort, dachte nach.

»Clara ist ein merkwürdiges Kind. Sehr introvertiert. Sie ist auch geistig ein wenig zurückgeblieben. Es ist nicht schlimm, aber sie braucht für manche Sachen sehr lange, auch in der Schule. Und dann schaut sie einen wieder an, als hätte sie eben einen blitzhellen Moment und ein Wissen aus vielen Tausend Jahren.«

Sie schaute unsicher zum Kommissar. »Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, was ich meine?«

Er verstand, immerhin hatte er vorhin den eindringlichen Blick der Kleinen gesehen, der ihm durch und durch gegangen war.

»Darf ich Sie auch etwas fragen, Herr Kommissar?«

Er nickte.

»Kennen Sie die Familie? Also zumindest Alma?«

Er zögerte ein wenig mit der Antwort.

»So gut wie gar nicht. Als Kind sang Alma im Chor, den meine Mutter leitete. Und dann bin ich ihr vor vielen Jahren einmal begegnet. Da war sie gerade aus Schweden zurückgekommen.«

Wieder sah sie ihn von der Seite an, wartete, ob er noch etwas hinzufügen wollte. Aber er sagte nichts mehr. Er sah sich selbst auf dem Boden der Stube liegen, am Morgen nach dieser Nacht mit Alma. Er spürte wieder diesen galligen Geschmack von tiefer Reue, mit der er damals erwacht war. Eine Woge von Scham und Verzweiflung hatte ihn überschwemmt. Er hatte keine Ahnung, woher diese Welle kam, aber das Bild seiner toten Frau Franziska war wie eine Wand vor ihm gestanden. Alma war nicht da gewesen. Sie hatte ihm eine Nachricht hinterlassen, dass sie zum Nachbarhof geradelt sei, um frische Milch und Brot zu holen. Er hatte sich aufgerappelt, war wie betäubt in seine Kleider geschlüpft, hatte eine Notiz hingekritzelt, irgendetwas von plötzlichem Anruf aus Salzburg und dringendem Polizeieinsatz, und war abgehauen.

Erst am nächsten Tag hatte er sie angerufen und versucht, sich zu entschuldigen. Sie hatte ihm schweigend zugehört. Dann hatte sie aufgelegt.

In den ersten Wochen danach hatte er noch manchmal an diese gemeinsame Liebesnacht im Gewitterregen gedacht. Vor der eigenen schwarzen Feigheit hatte ihn geekelt. Doch bald war es ihm gelungen, die Erinnerungen zu verdrängen. Und nun war Alma Thaler wieder in sein Leben getreten, als Mutter eines auf grausame Weise getöteten Mädchens, dessen Tod er aufzuklären hatte.

Plötzlich schwappten Scham und Zorn in ihm hoch, die er all die Jahre auf Distanz gehalten hatte. Er versuchte, das Gefühl hinunterzuwürgen wie am Morgen den Brocken der halb verdauten Weißwurst. Es knirschte, so fest presste er die Zähne aufeinander.

Sie hatten das Tal erreicht, Ulla Heilmayer hielt mit dem Wagen vor dem Gemeindeamt.

»Ich möchte Ihnen noch sagen, dass ich mich sehr geehrt fühle, mit dem Leiter der Salzburger Kriminalpolizei zusammenzuarbeiten. Verstehen Sie das bitte nicht falsch, aber ich wollte immer schon einmal den berühmten Kommissar Merana kennenlernen.«

Merana war dieses plötzliche Kompliment unangenehm. Sollte er der Frau Gruppeninspektorin erzählen, wie erbärmlich sich der Herr Kommissar manchmal benahm? »Jetzt übertreiben Sie bitte nicht!« Seine Stimme klang rau. Er klang schroffer, als er wollte. »Von Berühmtheit kann keine Rede sein. Ich mache meine Arbeit so gut wie jeder andere.«

Sie wurde ganz ernst, sah ihn an. »Ich glaube, Sie wissen gar nicht, welch guten Ruf Sie innerhalb und auch außerhalb der Polizei genießen.«

Nein, das wusste er tatsächlich nicht. Diese Offenbarung war ihm zusätzlich peinlich. Er sah ihr ins Gesicht. Ihr Blick war fest auf ihn gerichtet. Der bittere Geschmack von Scham auf seiner Zunge löste sich langsam aus. Er schluckte den Kloß hinunter, der ihm im Hals steckte. »Dann darf ich jetzt erwidern, dass auch ich es sehr schätze, die kompetente und einfühlsame Dienststellenleiterin der Krimmler Polizei im Team mit dabei zu haben.« Nun war es an der Gruppeninspektorin, ein wenig zu erröten. Aber der zartrosa Hauch, der ihr über Wangen und Stirn kroch, stand ihr nicht schlecht. Sie spitzte die Lippen und blies die Luft nach oben, um eine der blonden Haarsträhnen zu vertreiben, die ihr ins Gesicht gefallen war. Plötzlich fiel ihr etwas ein.

»Ich habe ganz vergessen zu fragen, ob ich Ihnen ein Zimmer organisieren soll, so wie den anderen Kollegen aus Salzburg.«

Merana winkte ab, versuchte ein Lächeln. »Nein danke. Ich bleibe bei meiner Großmutter. Die wohnt ein paar Kilometer weiter talauswärts.«

sie ist zurück! das tal erzittert von ihrem brüllen.

sie ist zurück! wie der väter überlieferte worte verheißen.

sie ist zurück! eilt und holt den pfarrer herbei. wir bedürfen der hilfe des himmels.

sie ist zurück! wer wird es wagen, sie zu erlösen, das tal zu retten?

seht dort den schützen! kühn steigt herab er vom felsen. die breite schulter trägt wacker die blutende hindin. die kraftvolle faust umklammert den mächtigen bogen als wäre er leicht wie die feder des sperlings.

seht dort den jäger, der kommt …!

(›Die Drachenjungfrau von Krimml‹, nach einer alten Handschrift.

Stimmen im Dorf)

Drachenjungfrau

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