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Kapitel 3

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»Noch einen zweiten Espresso, Herr Kommissar?« Die Kellnerin nahm sich sogar Zeit für ein Lächeln, während sie die leere Tasse abräumte. Merana legte die Zeitung beiseite.

»Warum nicht. Und bringen Sie mir bitte auch noch ein Croissant dazu.«

Die junge Frau verschwand im Inneren des Gebäudes. Merana saß auf der Terrasse des Café MozARTs mit freiem Blick auf den Residenzplatz. Die Morgensonne hatte längst die steinerne Flanke des Doms erreicht. Der erhabene Triton an der Spitze des Residenzbrunnens spie den Silberstrahl des Wassers in den wolkenlosen Himmel. Der barocke Brunnen mit seinen vier Meeresrössern und den von nackten Figuren getragenen Doppelschalen beherrschte den Platz. Zwei Asiatinnen hatten sich auf den Rand des Brunnens gesetzt und winkten in die Kamera, die ein junger Mann mit Rucksack hielt. Sonst tat sich noch wenig auf dem großen Platz. Die ersten Gespanne der Fiaker trafen ein, sammelten sich an der Mauer der Kathedrale neben den Dombögen. Bald würden die Kutschen mit Touristen gefüllt sein, die auch heute wieder von allen Seiten in die Salzburger Altstadt strömten, ausgespien von den Reisebussen an den Parkplätzen am Stadtrand.

»Bitte sehr, Herr Kommissar.«

Die Kellnerin stellte die Espressotasse und den kleinen Teller mit dem Buttercroissant auf den Tisch. Wieder schenkte sie Merana ein Lächeln. Kürzer als zuvor, denn sie musste sich rasch zwei Frauen zuwenden, die eben ihre gefüllten Einkaufstaschen abstellten und sich an einen der Tische setzten. Merana griff nach dem Croissant und biss hinein. Die beiden Asiatinnen hatten den Brunnen verlassen und machten sich zusammen mit dem Rucksackjüngling auf den Weg zum angrenzenden Mozartplatz, vorbei am ehemaligen Café Glockenspiel. Amüsiert beobachtete Merana die jungen Leute. Die Inszenierung vor dem Mozartdenkmal fiel etwas anders aus als zuvor am Brunnen. Nun posierten alle drei vor der Statue des bronzenen Genius Loci und hielten die Handykamera so, dass sie sich selbst aufnehmen konnten. Sie kicherten, als sie das Ergebnis betrachteten. Aber eine der jungen Damen war mit dem Resultat offenbar nicht zufrieden. Sie schüttelte heftig den Kopf. Dann sah sie sich um. Ihr Hilfe suchender Blick erreichte Merana. Das Lächeln der jungen Touristin überstrahlte sogar noch jenes der Kellnerin. Merana schluckte den Rest des Croissants hinunter, erhob sich und steuerte auf die Gruppe zu.

»Please, could you …?« Das immer noch lächelnde Mädchen hielt ihm ihr Handy entgegen. Merana nahm es und ermunterte die Gruppe, sich ein wenig anders aufzustellen, weg vom Gegenlicht, mehr in den Strahl der Morgensonne. Dann machte er fünf Aufnahmen, alle aus unterschiedlichen Perspektiven. Die jungen Leute waren begeistert und bedankten sich überschwänglich.

»Give me five!«, flötete der Rucksackträger. Sein Akzent klang nach Australier, das wuschelige rote Haar und die Sommersprossen erinnerten eher an einen trinkfesten Iren. Merana klatschte in die hingestreckte Hand des jungen Mannes, dann kehrte er wieder an seinen Tisch zurück. Er trank seinen Kaffee aus, hinterließ der Kellnerin ein ordentliches Trinkgeld und verließ die kleine Terrasse mit ihren noch nicht aufgespannten Sonnenschirmen. Auf Höhe des Residenzbrunnens blieb er stehen. Er liebte diesen Anblick. Das zu dieser frühen Stunde noch schräg einfallende Licht der Morgensonne verlieh den aus der Tritonschale herabfallenden Wasserfontänen einen fast überirdischen Glanz. Wie eine riesige, in feine Silberschleier gehüllte Spielfigur stand der Brunnen im Zentrum des prunkvollen Platzes, beherrschte das Geviert zwischen Alter Residenz, Dom, Neuer Residenz mit Arkaden und Glockenspiel und der geschlossenen Fassade der Bürgerhäuser mit der kleinen Michaelskirche. Als Merana seinen Blick vom Zauberspiel des Wassers am Brunnen wieder löste, fuhr der erste Fiaker an ihm vorüber. Helles Lachen erreichte das Ohr des Kommissars. Die zwei kleinen Mädchen, die sich neben ihren Eltern von den Bänken der Kutsche erhoben hatten, waren ebenfalls von den Wasser speienden Steinfiguren des Brunnens begeistert. Sie deuteten aufgeregt auf die großen Pferdeköpfe am unteren Becken, denen das Wasser in kleinen Fontänen aus den Nüstern spritzte. Merana winkte den Mädchen zu. Die beiden grüßten zurück. Im nächsten Moment durchfuhr ihn ein Schreck. Die Frau ohne Augen aus seinem Traum! Sie saß in der Kutsche! Merana schüttelte sich, wandte den Kopf ab, sah wieder hin. Idiot! Die Frau in der Kutsche blickte nur durch ein kleines Fernglas ähnlich einem Operngucker. Zwei kleine dunkle Scheiben vor ihrem hellen Gesicht. Nun nahm sie das Fernglas wieder ab. Merana sah es, sie hatte Augen, keine schwarzen Löcher. Und sie hatte ein hübsches Gesicht. Sie wirkte lebendig, sehr lebendig. Sie streichelte fröhlich lachend die Lockenköpfe der beiden Mädchen. Ein leichtes Schütteln erfasste Merana, ein schwaches Frösteln inmitten der Morgensonne. Den ganzen Morgen über hatte er versucht, nicht an den sonderbaren Traum zu denken. Er hatte sich nach dem Telefonat mit der Großmutter wieder hingelegt, war sogar nach geraumer Zeit eingeschlafen und drei Stunden später aufgewacht. Er hatte nicht mehr geträumt, zumindest konnte er sich nicht daran erinnern. Auf seinem Weg in die Stadt hatte er an anderes zu denken versucht: was er mit dem Rest seines Urlaubs anfangen könnte. Wo er in der Stadt frühstücken wollte. Auf der rechten Salzachseite im Café Bazar am Flussufer, vielleicht auch im Café Classic zwischen Dreifaltigkeitskirche und Landestheater oder doch lieber in der Altstadt auf der linken Flussseite. Er hatte sich schließlich für das MozARTs entschieden. Als er später an dem kleinen Kaffeehaustisch saß, vor sich einen duftenden Espresso und ringsum das von ihm so geliebte magische Ambiente der Altstadt, da waren die Bilder aus seinem Traum mit einem Mal wie weggeblasen gewesen. Jetzt waren sie zurückgekommen. Er schaute der Kutsche nach. Das Gefährt hatte inzwischen die Stelle zwischen Mozart­statue und Neuer Residenz erreicht. Gleich würde sie nach links in Richtung Salzach abbiegen. Merana wandte sich um, trat rasch zum Brunnen, tauchte beide Hände in das Wasser des Auffangbeckens und spritzte sich das erfrischend kühle Nass ins Gesicht. Dann setzte er seinen Weg fort. Auf dem Alten Markt kam ihm ein weiterer Fiaker entgegen. Ein älterer Mann und eine um vieles jüngere Frau saßen in der Kutsche.

»Alla sinistra, il famoso Café Tomaselli«, erklärte eben die Wagenlenkerin auf dem Kutschbock und deutete mit der Hand auf das Gebäude. Der Mann mit dem schütteren weißen Haar auf seinem wuchtigen Kopf folgte interessiert den Ausführungen der Kutscherin, die ihren Trachtenjanker aufknöpfte, ehe sie weiterplapperte und von den »Mozartkugeln vero originale« erzählte, die man hier im »vecchio e famoso Café Fürst« gleich gegenüber bekäme. Der jungen Begleiterin des Weißhaarigen war das offenbar schnurzegal, sie betrachtete lieber ihr elegant geschminktes Konterfei in einem kleinen Spiegel. Merana setzte seinen Weg fort. Die Tische vor dem Tomaselli waren etwa zur Hälfte besetzt, jene auf der Balustrade im ersten Stock ebenfalls. Merana eilte weiter und lenkte seine Schritte auf den Ritzerbogen zu. Buchhandlung Höllrigl prangte in dezenten Lettern auf der Mauer oberhalb des Bogenrunds. Das bezog sich auf das Geschäft gleich links neben dem Bogen, die älteste heute noch bestehende Buchhandlung Österreichs. Kurz vor dem Durchgang stoppte Merana. Ihm kam der Ritzerbogen immer wie ein großer Schlund vor. Dieser Eindruck verstärkte sich heute ganz besonders, da die Fassade des Mauerdurchlasses noch im Schatten lag und das Innere des Bogens sich nahezu schwarz zeigte. Er liebte es, unter dem Bogen in den Durchgang zu treten, sich von diesem Schlund einsaugen zu lassen, um dann nach wenigen Schritten in eine neue Welt auf der anderen Seite der Passage zu treten: auf den Universitätsplatz mit dem dichten Gewurrel des Grünmarktes.

Als Merana vor 20 Jahren nach Salzburg gekommen war, als Student, ein junger Mann zwar, aber dennoch ein Kind vom Land, da war ihm dieser Markt als Erstes ans Herz gewachsen. Bis heute liebte er das dichte Gedränge, das bunte Bild des geschäftigen Treibens zwischen den dicht gereihten Marktständen auf dem Platz, umrahmt von der würdevollen Eleganz der hoch aufragenden alten Bürgerhäuser auf der einen und der majestätischen Erhabenheit der Kollegienkirche auf der anderen Seite. Für Merana war die wuselige Welt auf diesem Platz immer schon mehr gewesen als bloß ein Markt mit Obst, Gemüse, Fleisch und Blumen. Der Grünmarkt auf dem Universitätsplatz, das war für ihn wie eine große Theaterbühne, ein Raum für vielfältiges Schauspiel, so wie man es auch tagtäglich auf einer Piazza in italienischen Städten erleben kann, wo jeder seine Rolle spielt, und alle Darsteller zusammen ein erfrischendes Abbild des Lebens ergeben. Hier in Salzburg konnte man internationale Festspielkünstler neben einheimischen Bauern treffen, konnte beobachten, wie gefeierte Opernsängerinnen sich mit Obstverkäufern auf ein fröhliches Duett über die Großartigkeit der angebotenen Äpfel einließen. Hier griffen Rucksacktouristen nach dargebotenen Käsestücken aus Heumilch, freuten sich einheimische Hausfrauen über die Vielfalt der Blumen, die bald ihren Mittagstisch schmücken würden, brachten Italiener mit ihren augenzwinkernd gespielten Versuchen, über den Preis der Erdbeeren zu feilschen, sogar Asiaten zum Lachen, prosteten einander Salzburger Bürger im Trachtenhemd mit einem frisch eingeschenkten Glas Weißwein zu, ehe sie sich aufmachten, ein Stück Lammschulter für den Sonntagsbraten zu erwerben. Der Ritzerbogen war für Merana wie eines jener magischen Portale in Fantasyromanen, durch die man in eine andere Dimension, in eine neue Welt eintauchte.

»Ja schau, der Herr Merana!« Der Ruf kam von der rechten Seite von einem der Würstelstände gleich am Eingang des Platzes. Eine der Standlerinnen hielt mit der Holzzange ein Paar Würste in die Höhe und deutete mit der anderen Hand einen Gruß an. »Was machen die Verbrecher, Herr Kommissar?«

Merana grüßte zurück. »Mir im Augenblick keine Sorgen, denn ich habe Urlaub.« Die Frau lachte übers ganze Gesicht. »Na dann hätten S’ ja Zeit für a Debreziner. Oder wollen S’ lieber Weißwürste? Sind wie immer ganz frisch.«

Die Frau legte die Debreziner auf einen Pappteller, schob diesen vor einen der wartenden Kunden und angelte mit der Zange nach Weißwürsten. Warum nicht?, dachte Merana. Er liebte es, am Samstagmorgen Würste auf dem Grünmarkt zu verspeisen. Mit Laugenbreze und doppelt Senf. Er ließ sich eine Portion reichen. Er hatte gerade von der Wurst abgebissen, als er das Vibrieren in seiner Sakkotasche spürte. Nicht jetzt!, schoss es ihm durch den Kopf. Aber es konnte ja auch die Großmutter sein. Also zog er das Handy aus der Jacke. Chef las er auf dem Display. Er schleckte die von der Wurst leicht fettigen Finger ab, wischte über den Bildschirm und hielt das flache Telefon ans Ohr.

»Guten Morgen, Günther, was gibt es?«

Dann hörte er zu, was ihm Hofrat Günther Kerner, Polizeipräsident von Salzburg, zu sagen hatte. Merana versuchte es mit einem Einwand.

»Ich habe Urlaub, Günther. Das weißt du. Noch zehn ganze Tage. Kannst du nicht Carola schicken?«

Nein, konnte der Herr Polizeipräsident nicht. Chefinspektorin Carola Salmann, Meranas Stellvertreterin, lag mit 39,5 Grad Fieber im Bett. Abteilungsinspektor Otmar Braunberger war auf Anglerurlaub in Finnland, und der Rest der kleinen Ermittlermannschaft war mit anderen Fällen zugeschüttet. Bis über die Lauscher, wie der Herr Hofrat noch extra betonte. Und dass Thomas Brunner mit seiner Tatort-Truppe bereits in Krimml wäre, fügte der Herr Hofrat auch noch hinzu, ehe er das Gespräch mit einem »Also Merana, auch wenn Umwege unseren Horizont erweitern, nimm bitte die Direttissima!«, beendete. Der Herr Polizeipräsident hatte einen Hang zu halbklugen Sprüchen und verbogenen Zitaten. Die Frau am Würstelstand hatte das Gespräch mitbekommen.

»Urlaub schon zu Ende, Herr Kommissar? Bleibt noch Zeit für eine zweite Wurst?«

Merana schüttelte den Kopf. »Nein, Frau Wallinger, leider nicht.«

Aber die angebissene wollte er nicht zurücklassen. Er schlang hastig die Wurst in großen Bissen hinunter, dazu die halbe Breze, spülte mit einem Schluck Bier aus der Dose nach und reichte der Frau einen Geldschein.

»Stimmt schon.« Dann verließ er hastig durch den Ritzerbogen die lebhafte Welt des Grünmarktes.

Seit er vor 20 Jahren den Pinzgau hinter sich gelassen hatte, war er nur selten in die frühere Heimat zurückgekehrt. Nur hie und da, um die Großmutter zu besuchen. Nun lag eine tote Frau am Wasserfall in Krimml. Und es hatte sich kein anderer gefunden, der die Ermittlungen an diesem Tatort am äußeren Rand des Oberpinzgaus übernehmen konnte. Also musste er hin, ob es ihm nun passte oder nicht.

Drachenjungfrau

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