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1.2 Kompetenzentwicklung und Professionalisierung

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Kompetenzentwicklung im oben geschilderten Sinn zeichnet sich nicht durch zusätzliches Wissen und Können aus, sondern durch eine Verdichtung und eine Anreicherung von Erfahrung. Dabei wird bereits Gelerntes auch immer wieder in Frage gestellt. Neu in den Beruf einsteigende Lehrpersonen erleben sich als kompetent, die Berufsanforderungen zu bewältigen, wie Befunde zeigen (Keller-Schneider 2010a, 2017a). Doch was heisst «kompetent sein» und wie entwickelt sich Kompetenz weiter? Professionalität ist eine berufsbiografisch bedeutsame Aufgabe, die ein Berufsleben lang andauert (Terhart 2001, Keller-Schneider & Hericks 2017). Weiterlernen ist bedingt durch sich laufend verändernde Gegebenheiten erforderlich.

Mit dem Wechsel von der Ausbildung in die Berufseinstiegsphase wandelt sich auch die Bedeutung des Kompetenzbegriffs; Wissen tritt in den Hintergrund, Können wird relevant (Neuweg 2014); damit gewinnt ein anderer Massstab an Bedeutung. Eine Ausbildung ist von Fremdbeurteilung gekennzeichnet, auch wenn die Selbstbeurteilung gefördert und als Mittel zur effektiven Zielerreichung genutzt wird. In der eigenverantwortlichen Berufstätigkeit steht der subjektive Massstab im Vordergrund, denn die Handlungen müssen selber verantwortet werden. Sich nach Erwartungen und Beurteilungskriterien einer Ausbildungsinstitution zu richten schränkt den eigenen Gestaltungsfreiraum ein, schützt aber auch davor, die eigenen Handlungen selber verantworten zu müssen. Sich in diesem Spannungsfeld zwischen Selbstverantwortung und den Erwartungen anderer zu positionieren, kann unterschiedlich gestaltet werden (vgl. dazu Kosinar 2014).

Um Anforderungen anpacken und bewältigen zu können, ist insbesondere das subjektive Kompetenzerleben von Bedeutung; für eine weitere Professionalisierung ebenso (Keller-Schneider 2012a, 2012b). Sich jedoch mit der eigenen Kompetenz realistisch und erfahrungsbezogen auseinanderzusetzen und dabei Stärken und Schwächen zu erkennen, ist für die weitere Professionalisierung von Bedeutung. Wenn klare Kriterien und Instanzen der Beurteilung fehlen, wie das im Lehrberuf der Fall ist, dann ist ein selbstverantworteter Umgang mit Qualitätsanforderungen und mit der eigenen Kompetenzentwicklung erforderlich. Kompetenz als zur Disposition stehendes latentes Potenzial (Chomsky 1981) befähigt, in spezifischen Situationen Anforderungen zu bewältigen und die eigenen Fähigkeiten, Ziele und Mittel dafür einzusetzen.

Wissen und Kenntnisse über einen Sachverhalt stellen bedeutende, aber nicht ausreichende Grundlagen für die Bewältigung von Anforderungen dar. Erworbenes Wissen wird in subjektive Strukturen integriert und dabei transformiert (Neuweg 2014), um als Ressource für die Bewältigung von Anforderungen zur Verfügung zu stehen und zur Erweiterung der Handlungskompetenz beizutragen. Wissen über die Praxis wird mit Wissen aus der Praxis verknüpft, um als Wissen für die Praxis nutzbar zu werden (Shulman 1986, Bromme 1992). In der Verknüpfung unterschiedlicher Wissensarten und Zugängen entwickelt sich Expertise (Abb. 1, Keller-Schneider 2010a, S. 59).

Abbildung 1: Wissensarten und ihre Vernetzungen (Keller-Schneider 2010a, S. 59)

Kompetenzentwicklung als Erwerb von Handlungskompetenz erfolgt in qualitativ sich verändernden Stufen des Verdichtens und Vernetzens von Professionswissen (Dreyfus & Dreyfus 1986, Berliner 2001). Das ursprünglich explizite und formalisierte Wissen (Ausbildungswissen als propositionales Wissen über die Praxis) wird im Zuge der Kompetenzentwicklung nicht nur erweitert und differenziert, sondern auch neu organisiert. Durch Internalisierung von Wissensfacetten und Erkenntnissen wird es zu implizitem, intuitiv nutzbarem Wissen (Perrig 1990, Perrig et al. 1993, Gigerenzer 2007). Das Wissen entwickelt sich vom regelgeleiteten Know that zum erfahrungsbasierten Know how (Dreyfus & Dreyfus 1986, S. 41). In der Art der Verdichtung und Vernetzung von Wissensfacetten unterscheiden sich Anfängerinnen und Anfänger von Expertinnen und Experten (Neuweg, 2004, Keller-Schneider 2010a, 2015a).

Abbildung 2 zeigt die verschiedenen Phasen der Entwicklung von Noviz/-innen zu Expert/-innen (Keller-Schneider 2010a, S. 60). Im Zentrum steht eine zu bewältigende Berufssituation, die sich im Berufsalltag stellt und je nach Kompetenzentwicklungsphase unterschiedlich wahrgenommen wird. Was der handelnden Person ins Auge springt und wie sie dies wahrnimmt, ist nicht nur von wahrnehmungspsychologischen Gesetzmässigkeiten und von individuellen Selektionsprozessen mitbedingt, sondern auch von berufsphasenspezifischen Wahrnehmungs- und Strukturierungsprozessen.

Abbildung 2: Phasen der Kompetenzentwicklung (Keller-Schneider 2010a, S. 60)

Lehrpersonen aller Berufsphasen sind vor berufliche Situationen gestellt und gefordert, diese zu bewältigen. Das zeigt die Ellipse im Zentrum von Abbildung 2. In der Wahrnehmung und Bewältigung der spezifischen Situation aber lassen sich berufsphasenspezifische Zugänge erkennen.

Noviz/-innen zeichnen sich durch regelgeleitetes Wissen aus, welches sie im Rahmen ihrer Ausbildung erlernen und in konkreten Schulsituationen erproben. Im Berufseinstieg sind sie gefordert, ihr Wissen an situativ bedingte Erfordernisse anzupassen, Widersprüchlichkeiten anzunehmen und damit umzugehen. Daraus entstehen Synergien, die auf einer übergeordneten Ebene Richtlinien bilden, nach welchen Anforderungen von Fortgeschrittenen gebündelt wahrgenommen, gewichtet und bearbeitet werden. Durch weitere Verdichtungen der Regeln und Richtlinien zu Perspektiven eröffnen sich in der Phase der Kompetenz Möglichkeiten einer gezielten Vorausschau und Planung, darauf weiter aufbauend zu einer Reduktion der Komplexität der Situationswahrnehmung (gewandte Könner), bis hin zu einer holistisch-intuitiven Situationswahrnehmung, auf deren Grundlage Expert/-innen unter Berücksichtigung mehrerer Alternativen intuitiv ausgewählt handeln. Die Grenzen zwischen den Phasen können fliessend sein, eine Berufsperson kann sich anforderungsspezifisch zur selben Zeit in unterschiedlichen Phasen befinden. Eine Befragung von Studierenden (Keller-Schneider 2007b) am Ende ihrer Ausbildung hat ergeben, dass sie sich bezüglich Anforderungen der Planung von Unterricht als kompetent einschätzen (Phase Kompetenz), bezüglich der Bewältigung von Anforderungen der Elternarbeit und des Erstellens von Semesterzeugnissen jedoch als Noviz/-innen.

Diesem Modell folgend lassen sich Studierende und Referendar/-innen als Noviz/-innen bezeichnen, die sich regelgeleitetes Wissen aufbauen, in der Praxis erproben, Ergebnisse evaluieren, um daraus abgeleitete Erkenntnisse erneut zu erproben. Je nach Schwerpunktsetzungen der Ausbildung bzw. ihrer Vertreter/-innen werden entsprechende Vorgehensweisen gewählt. Die einen halten es für sinnvoll, über objektiv als richtig bezeichnete Handlungsweisen angehende Lehrpersonen anzuleiten, entsprechende Zielerreichungen zu beurteilen (Wie gut wurde die Handlungsanweisung umgesetzt? Welche Mängel können festgestellt werden? In welchen Bereichen soll warum und wozu optimiert werden?) und regelgeleitetes Wissen zu stärken. Andere setzen eher darauf, die Erprobungen zu reflektieren (Was ist mir wie gelungen? Wie lässt sich etwas erklären? Wozu wurde ein spezifisches Vorgehen gewählt?) und über die Reflexion der erprobten Handlungsanweisungen subjektive Zugänge zur Lösung zu stärken.

«Wie bringe ich das, was ich gelernt hatte, unter einen Hut? Einerseits muss ich Störungen klären, nötigenfalls auch unterbinden, andererseits habe ich auch gelernt, dass effizient genutzte Unterrichtszeit ein zentrales Merkmal guten Unterrichts ausmacht. Doch beides gleichzeitig zu erreichen kriege ich nicht hin! ...» (Wanda Färber)

Berufseinsteigende als Fortgeschrittene verfügen über regelgeleitetes Wissen, welches sie in der Auseinandersetzung mit situativen Anforderungen weiter differenzieren und zu von Richtlinien geleitetem Wissen weiterentwickeln. Die Widersprüchlichkeiten ‹unter einen Hut zu bringen› erfordert Synergiebildungen auf einer übergeordneten Ebene.

«Ja, nun habe ich es geschafft! Eigentlich weiss ich nicht, was es ausmacht, dass ich jetzt davon überzeugt bin, im Beruf angekommen zu sein. Ich verfüge über ein Repertoire, das mir ermöglicht, situativ auf die Schüler und Schülerinnen einzugehen und parallel dazu die Klasse im Auge zu behalten. Ebenso gelingt es mir, die Arbeiten und Entwicklungen in der Schule mitzugestalten und auch mal Stellung zu nehmen. Wenn ich zurückdenke, wie lange ich brauchte, bis ich mich für einen Unterrichtsablauf entscheiden konnte, und wie ich dann im entsprechenden Moment doch vergass, was ich mir wie überlegt hatte. Etwas erstaunt bin ich schon, dass es mir jetzt leichtfällt, auch im Moment selber mein Vorhaben umzustellen, ohne den Faden zu verlieren. Diese Entscheidungen laufen irgendwie und unbewusst; erklären könnte ich das nicht ...» (Irene Ziegler, in Keller-Schneider 2010a)

Erste Synergiebildungen ermöglichen, ähnliche Situationen als solche zu erkennen, Differenzen zu bereits erlebten wahrzunehmen und erfahrungsbasiert mit sich verändernden Situationen zurechtzukommen (Shulman 1986, Bromme 1992, Berliner 2001). Erste Anpassungen an situative Anforderungen werden vollzogen und stellen Entwicklungsschritte dar. Regeln werden erweitert und geben als Richtlinien Leitplanken für die Bewältigung von neuen Anforderungen. Ähnliche Anforderungen in unterschiedlichen Situationen zu erkennen, führt zu Synergien, die durch eine Verdichtung und Vernetzung von Anforderungen eine Reduktion der Komplexität ermöglichen.

Erkenntnisse, die aus Erfahrungen hervorgehen, bilden solide Grundlagen, um neue Anforderungen und Widerfahrnisse zu bewältigen, welche aufgrund des veränderten Referenzrahmens anders wahrgenommen werden (Keller-Schneider 2010a, S. 115 f.). In den Beruf einsteigende Lehrpersonen sind gefordert, ihr Wissen auf die Situation hin anzupassen und aufgrund der gemachten Erfahrungen weiterzuentwickeln. Der Berufseinstieg stellt Entwicklungsaufgaben, deren Lösung zu einer veränderten Strukturierung der Wahrnehmung von Anforderungen führt und neue Perspektiven eröffnet. Das folgende Zitat illustriert, dass aus der Perspektive einer spezifischen Phase zukünftige Kompetenzentwicklungsschritte nicht erkannt werden können:

«Wenn ich an den Anfang meiner Berufstätigkeit als Lehrerin vor gut einem Jahr zurückdenke, so wird mir bewusst, dass ich nun an einem ganz anderen Ort stehe. Vor Berufseinstieg hatte ich nicht erwartet, dass so Vieles auf mich zukommen wird, und dass ich in so kurzer Zeit nochmals so viel lernen muss und kann! Auch meinte ich das Unterrichten im Griff zu haben. Das Ganze ist aber viel komplexer, als ich es mit vorstellen konnte.» (Simone Alt, in Keller-Schneider 2012b, S. 44)

Berufsanfänger/-innen unterscheiden sich in der Strukturierung der Anforderungen. Sie erkennen weniger Synergien als erfahrene Lehrpersonen und verknüpfen Anforderungen anders (Keller-Schneider 2010a und 2015a). Erfahrungswissen kann somit nicht einfach weitergegeben werden (Keller-Schneider 2009a); Berufseinsteigende sind gefordert, selbst Erfahrungen zu machen und sich auf den Prozess der weiteren Professionalisierung einzulassen (Keller-Schneider 2018a). Impulse anderer können als Ideen dienen, müssen aber vor dem Hintergrund der eigenen Werte und Überzeugungen gewichtet und verändert werden. Impulse anderer können Möglichkeiten aufzeigen, Lösungswege aber müssen selber gesucht werden.

Die Wahrnehmung und Deutung von Anforderungen lassen sich über berufsphasenspezifische Strukturierungen (Keller-Schneider 2010a, 2015a) und über ein sich veränderndes Kompetenzerleben beschreiben (Keller-Schneider 2017a). Darüber hinaus tragen auch individuelle Merkmale dazu bei, inwiefern spezifische Anforderungen als Herausforderungen wahrgenommen und in welcher Intensität diese bearbeitet werden.

Impulse zum Berufseinstieg von Lehrpersonen (E-Book)

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